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Sonntag, 30. Dezember 2018

Tomoka Shibasaki

Die Autorin Tomoka Shibasaki wurde 1973 in Osaka geboren und begann an der Oberschule mit dem Schreiben. Nach ihrem Studium an der örtlichen Universität arbeitete sie in einem Büro und schrieb in ihrer Freizeit. 1999 veröffentlichte sie mit „Rot, Gelb, Orange, Blau“ ihre erste Kurzgeschichte. Im folgenden Jahr erschien ihr erster Roman „Ein Tag auf dem Planeten“, der 2003 verfilmt wurde.

Für den Roman „Heute, in dieser Stadt“ erhielt sie 2006 den MEXT-Literaturpreis; 2007 wurde das Werk für den Akutagawa-Preis nominiert. 2010 gewann sie mit „Nacht und Tag“ den Noma-Literaturpreis. Und schließlich erhielt sie 2014 auch den Akutagawa-Preis für ihren Roman „Frühlingsgarten“.

2016 verbrachte sie mit einem internationalen Literaturprogramm Zeit an der Universität von Iowa.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Samstag, 29. Dezember 2018

„Sendbo-o-te“ von Yoko Tawada

Was passiert nach einer ultimativen Katastrophe, die den Alltag und die bisherige Lebensweise komplett auf den Kopf stellt? Yoko Tawada entwirft in „Sendbo-o-te“ ein Szenario, das unter die Haut geht: In dieser, vielleicht nicht allzu fernen Zukunft, schottet sich Japan ein zweites Mal von der Welt ab. Die Alten sind zu annähernd ewigem Leben verdammt, dagegen sterben die Kinder wie die Fliegen. Abgesehen von Miet-Hunden sind Tiere so gut wie alle verschwunden. Die Wiesen gelten als vergiftet. Und auch im einstmalig so dicht besiedelten Tokio lebt kaum ein Mensch mehr – ein längerer Aufenthalt dort gilt als gesundheitsschädigend. Das Klima hat sich geändert und der Ackerbau muss vielerorts eingestellt werden.

Mumey und Yoshiro sind ein Urenkel-Urgroßvater-Gespann, die gemeinsam in einer Notunterkunft hausen. Mumey ist wie alle Kinder seiner Generation sehr schwach und kränklich. Er verfügt aber auch über eine eigenartige Weisheit und Yoshiro glaubt nicht, ihm auch nur eine Sache beibringen zu können. Ohnehin sind viele frühere Verlässlichkeiten dahin. So wechseln Menschen urplötzlich ihr Geschlecht. Die Polizei hat seit der Abschaffung von Lebensversicherungen keine Morde mehr aufzuklären, sondern fungiert in erster Linie als lustige Blaskapelle.

Soweit Yoshiro kann, umsorgt er seinen Enkel fürsorglich, denn der Kleine kann mit seinen brüchigen Zähnen nicht gut kauen, plagt sich arg beim Schlucken und muss von Yoshiro mit dem Fahrrad zur Schule gefahren werden. Beim Kinderarzt wird untersucht, wie weit die Zellzerstörung schon fortgeschritten ist. Mumey klagt jedoch nicht, sondern begibt sich ohne Klagen in sein Schicksal. Er ist ein Todgeweihter.

Yoshiro ist Schriftsteller und erlebt die Restriktionen der Abschottungspolitik als besonders hart. Einen historischen Roman über Sendboten nach China begräbt er auf dem Dingfriedhof; das Werk hätte wegen seiner vielen Bezüge zu Orten im Ausland nicht veröffentlicht werden dürfen. Auch seinem Essay „Japan war nicht isoliert“ über die Handelsbeziehungen während der ersten Isolationsphase während der Edo-Zeit wird die Publikation verweigert. Und dann sind da noch die vielen Worte, die Yoshiro aus seinem Wortschatz streichen soll, da sie nicht mehr verwendet werden dürfen.

Doch nicht alle Japaner halten sich an die Isolationspolitik. Die geheime Sendboten-Vereinigung schickt immer wieder Kinder ins Ausland, damit sie dort untersucht werden. Denn die Katastrophe, die Japan heimgesucht hat, kann auch woanders auftreten und dieselben Krankheitsbilder verursachen. Mumey scheint für die Aufgabe eines Sendboten ideal…

Yoko Tawadas „Sendbo-o-te“ wurde 2018 in der englischen Übersetzung mit dem US-amerikanischen National Book Award für übersetzte Literatur ausgezeichnet, der insgesamt an zehn Werke vergeben wurde. Yoko Tawada schrieb „Sendbo-o-te“ auf Japanisch. Die deutsche Version wurde von Peter Pörtner übersetzt. Daher fallen die Sprachspiele, die Yoko Tawadas auf deutsch verfasste Werke kennzeichnen, diesmal etwas subtiler aus. Das Thema Fremdheit, das ja sonst oft von der Autorin aufgenommen wird, findet man in der aktuellen Veröffentlichung nicht. Der grandiose Wortwitz von Yoko Tawada bleibt dem Leser aber gleichwohl erhalten:

„’Was sind die Wechseljahre?’
‚Das ist, wie wenn der Körper die Tonart wechselt. Von Dur in Moll. Oder so.’“
(S. 155)

Auch wenn die Untergrundorganisation der Sendboten titelgebend ist, so nimmt sie doch keinen allzu großen Raum in Yoko Tawadas Roman ein. Im Zentrum steht Yoshiro, der aus der Zeit vor der Katastrophe und aus der Zeit danach berichtet. Auch aus Mumeys Perspektive, aus der von Mumeys Urgroßmutter und Mumeys Lehrer wird das Leben nach dem Desaster dargestellt. Daher sollte der Leser trotz der subversiven Sendbotengesellschaft keine großmächtige Spannung erwarten, sondern vielmehr eine Bestandsaufnahme nach der Katastrophe. Freilich kommt die dank Yoko Tawadas Erzählweise leicht und originell daher, ohne in depressiven Charakter zu verfallen. Nichtsdestotrotz klingt auch die Reue Yoshiros durch, dass die Lebensweise seiner Generation den Urenkeln die Chance auf ein gesundes, langes Leben genommen hat.

Bei einer zweiten Auflage sollte der Konkursbuchverlag jedoch nochmal gründlich Korrektur lesen. Es tummeln sich so einige Fehlerchen insbesondere bezüglich der Interpunktion. Selbst ein Charakter bekommt auf derselben Seite zwei Namen (Suiren vs. Surien, S. 151).

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Sendbo-o-te“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Pörtner, Peter), Konkursbuch Verlag, Tübingen 2018, ISBN 978-3-88769-688-7

Sonntag, 16. Dezember 2018

„Von Katzentötern, schwebenden Rauchern und der Suche nach Nilpferden“ herausgegeben von Elena Giannoulis

Endlich wurde mal wieder eine Anthologie veröffentlicht, die dem Leser Erzählungen und Kurzgeschichten in Neuübersetzung bietet. Die Herausgeberin Elena Giannoulis schreibt im Nachwort über die Veröffentlichung:

„Ein Anliegen der Anthologie ist es, dem deutschen Leser japanische Literatur jenseits von Haruki Murakami und Banana Yoshimoto näherzubringen und auch bisher im Ausland wenig bekannten Autoren eine Plattform zu bieten.“ (S. 170)

Und tatsächlich sind nur von einer der enthaltenen Autorinnen, nämlich Hiromi Kawakami, bisher mehrere ins Deutsche übersetzte Werke verfügbar. Shinji Ishii, Atsuko Suga, Yasutaka Tsutsui und Hiromi Ito sind dem einen oder anderen Leser vielleicht auch noch bekannt, weil ein bis zwei Texte oder bestenfalls Romane ihren Weg ins Übersetzungsbüro gefunden haben. Die anderen Autoren finden mit „Von Katzentötern, schwebenden Rauchern und der Suche nach Nilpferden“ das erste Mal auch im Deutschen statt.

Die einzelnen Werke der Anthologie bieten ein großes Spektrum an literarischen Stilen: Ich-Erzählung, mystisch angehauchter Text, Science Fiction, Essay, Slapstick, Avantgarde… Um bei den realistischsten Werken anzufangen, soll es erst um die Essays von Atsuko Suga und Toshiyuki Horie gehen. Atsuko Suga, die lange Zeit in Italien lebte, ist mit zwei Essays vertreten: In „Geruch von fernem Nebel“ erzählt sie von ihren Erlebnissen im nebligen Mailand, während sie in „Neapel sehen und sterben“ die Eigenheiten der neapolitanischen Lebensweise illustriert und persönliche Erfahrungen einfließen lässt.

Auch Toshiyuki Hories „Der Dichter mit dem Anrufbeantworter“ ist in Europa angesiedelt. In Paris begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach Postkarten mit Nilpferdmotiven, da Valery Larbaud seinerzeit solche Karten gerne verschickt hat. Dabei spürt er den einstigen Nilpferden im Pariser Zoo nach und macht eine interessante Begegnung.

Um zwischenmenschliche Beziehungen geht es – wie eigentlich immer bei Hiromi Kawakami – in „Der Fluss“: Der kurze Text wirkt wie eine Momentaufnahme der romantischen Beziehung von Hatoko und ihres Freundes Ichiro. Ist ihre Beziehung nicht genauso im Fluss wie der Fluss, an dem sie gerade essen und trinken?

Ein bisschen fantastischer wird es in Keiichiro Hiranos „Die verschwundenen Honigbienen“. Was zunächst wie die Beschreibung eines eher langweiligen Postboten auf dem Land wirkt, entwickelt sich dann doch in eine andere Richtung, als eine illustre Gabe des Briefträgers offenbar wird.

Dann ist es auch schon vorbei mit dem Realismus: Yasutaka Tsutsui lässt in „Der Raucher in der Luft“ einen rauchenden Rentner fliegen und Sumako in „Der Traum von Verstopfung“ ihre Gedärme bis in den Himmel entleeren.

Vom Stil ähnlich wirkt Ramo Nakajimas „Das Lamm Dolly“. In Anlehnung an das Klon-Schaf Dolly entwirft der Autor ein Szenario, in dem auch Menschen geklont werden können. Da der Ich-Erzähler ein fauler Autor ist, lässt er sich einen Doppelgänger kreieren, der künftig die Arbeit übernehmen soll. Da sein Klon freilich genauso bequem, narzisstisch und trinkfreudig wie das Original ist, geht der Plan nicht so ganz auf.

Shinji Ishii präsentiert mit „Grüner Frühling“ ein Werk, das sicherlich besonders schwer zu übersetzen war. Es werden Farben personifiziert: Grün mag Blau so gar nicht und beschwert sich bei Sakura-Mama und Braun über den frechen Blau. Das Nachwort von Elena Giannoulis klärt auf: Im Japanischen kann „ao“ (青) sowohl grün als auch blau bedeuten – kein Wunder, dass Grün eifersüchtig auf Blau ist.

Mythologisch wird es in Hiromi Itos Erzählung „Chiko und Raiko“, die im siebten/achten Jahrhundert angesiedelt ist: Chiko und Raiko sind Freunde und buddhistische Schüler, die danach streben, ins Reine Land einzugehen. Während Raiko früh stirbt, gärt in Chiko die Eifersucht auf den Mönch Gyoki. Als Chiko schwer krank wird und selbst stirbt, muss er sich einer schweren Prüfung im Jenseits stellen.

Mit „Perfekte Tage, um Bananen zu schälen“ ist Toh Enjoe mit Science Fiction vertreten: Eine Raumsonde durchquert einsam das All und stellt sich vor Langeweile einen Freund namens Chucky vor. Doch das System soll effizient arbeiten und sich keinen Imaginationen hingeben – daraufhin muss Chucky gelöscht werden.

Richtiggehend abgedreht geht es in Masaya Nakaharas „Das Lied einsamer Schritte, die auf einem dunklen Flur erklingen“ und Yuko Chigaras „Katzentöter-Maggie“ zu. In Masaya Nakaharas Erzählung werden die Rotorblätter eines Helikopters als Messerklingen eingesetzt, um zu töten; die Menschen tragen den „intelligenten Gorillaanzug“ – und sollten sie auf einen Menschen ohne Anzug treffen, gibt es ein großes Gemetzel. Und auch ansonsten geht’s blutig zu.

Yuko Chigaras „Katzentöter-Maggie“ wird im Nachwort als avantgardistische Popliteratur bezeichnet – der Realitätsgrad geht gegen Null: Katzentöter-Maggie lebt mit dem Doktor, der gerne Frauen schändet und tötet, zusammen und lernt Gänseblümchen kennen lernen. Gemeinsam erleben sie allerlei Abstrusitäten, wie zum Beispiel von einem Fisch verdaut zu werden. Garniert wird das Ganze mit Illustrationen.

Zugegebenermaßen konnte ich mit den letzten beiden genannten Erzählungen am wenigsten anfangen. Die waren mir zu zusammenhanglos und alptraumhaft. Dagegen ist beispielsweise „Das Lamm Dolly“ großartiges Entertainment. Insgesamt präsentiert die Anthologie wahrlich einen guten Einblick in die Vielfalt der japanischen Literatur und lässt den Leser neue Autoren kennen lernen. Da viele Verlage derzeit ja primär auf die Übersetzung von Bestsellern zu setzen scheinen, ist die Anthologie sicherlich besonders wertvoll und ambitioniert.

Bibliographische Angaben:
Elena, Giannoulis (Hrsg.): „Von Katzentötern, schwebenden Rauchern und der Suche nach Nilpferden“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Giannoulis, Elena/Hane, Reika/Ono, Elisa/Petermann, Christoph/Stadler, Hajime/Timmerarens, Chaline/van Eikels, Kai/Wiesenberg, Sandro/Wittig, Matthias), be.bra, Berlin 2018, ISBN 978-3-95410-213-6

Sonntag, 7. Oktober 2018

Atsuko Suga

Atsuko Suga wurde 1929 in Ashiya in der Präfektur Hyogo geboren. Ihre Familie betrieb ein erfolgreiches Wasserbauunternehmen.

Sie wuchs Nishinomiya und in Tokio auf. Sie studierte an der Sacred Heart Universtität in Tokio und schloss daran ein Masterstudium an der Keio im Fachbereich Soziologie an.

1953 ging Atsuko Suga für ein Jahr nach Paris, um dort vergleichende Literaturwissenschaften zu studieren. Die Sommerferien des Jahres 1954 verbrachte sie in Perugia, wo sie einen Italienisch-Sprachkurs absolvierte und ihre Begeisterung für Italien geweckt wurde. 1958 kehrte sie mit einem Stipendium nach Europa zurück, um in Rom an der Regina Mundi Universität zu studieren.

In Mailand kam Atsuko Suga in Kontakt mit einer Gruppe von katholischen Intellektuellen, die sich in der Buchhandlung von Giuseppe „Peppino“ Ricca traf. Atsuko Suga war schon vorher zum Katholizismus konvertiert und begeisterte sich für die Freiwilligenarbeit der Gruppe. Ende des Jahres 1960 heirateten Atsuko Suga und Giuseppe Ricca in Udine. Gemeinsam widmeten sie sich der Übersetzung von japanischer Literatur ins Italienische. Werke von Junichiro Tanizaki und Yasunari Kawabata wurden nun das erste Mal für italienische Leser zugänglich gemacht.

Nach Guiseppe Riccas überraschendem Tod im Jahr 1967 zerfiel die Intellektuellengruppe und Atsuko Suga entschloss sich, 1971 nach Japan zurückzukehren. Um nicht auf das Geld ihrer Familie angewiesen zu sein, unterrichtete sie Teilzeit an diversen Universitäten und verrichte Freiwilligenarbeit zugunsten von Obdachlosen. In den 80er Jahren erhielt sie einen Posten als Assistenzprofessorin an der Sophia Universität und begann 1985 mit dem Schreiben von Essays über ihre Erfahrungen in Italien. Diese wurden zunächst einzeln in einer Literaturzeitschrift abgedruckt und später als Essayband „Mailand: Szenen im Nebel“ herausgegeben, der hoch gelobt und sowohl mit dem japanischen Frauenliteraturpreis als auch dem Kodansha-Essay-Preis ausgezeichnet wurde. Die nächsten Jahre publizierte sie eifrig.

1997 musste sich Atsuko Suga wegen eines Eierstocktumors einer Operation unterziehen. 1998 starb sie an Herzversagen.

Seit 2014 wird der Atsuko Suga-Übersetzungspreis verliehen, mit dem Übersetzungen vom Italienischen ins Japanische ausgezeichnet werden.

Interessante Links:

Hier rezensiert:

Weitere ins Deutsche übersetzte Werke:
  • Männer, die durch den Regen laufen

Mittwoch, 3. Oktober 2018

"Die Ladenhüterin" von Sayaka Murata

Sayaka Muratas Protagonistin Keiko ist in zweifacher Hinsicht eine Ladenhüterin: Einerseits im wörtlichen (sie arbeitet in einem kleinen Supermarkt), andererseits im übertragen Sinn (mit ihren 36 Jahren ist sie immer noch Single und gilt im Freundes- und Familienkreis als schwer vermittelbar).

Bereits in Keikos Kindheit hat sich abgezeichnet, dass ihre Gedankenwelt einer anderen Logik unterliegt als der ihrer Mitmenschen. Als ein von negativer Resonanz gebranntes Kind hat sie sich zurückgezogen, um nicht weiter aufzufallen. Erst in ihrer zunächst als Studienjob gedachten Tätigkeit in einem kleinen Supermarkt (in Japan Konbini genannt) wird ihr ein Raum eröffnet, der für sie wie eine Erlösung wirkt: Im Konbini herrschen ganz klare, ersichtliche Regeln, die sie von Reflektion entbinden. Dadurch läuft sie nicht in Gefahr, sich seltsam zu verhalten und wird also als zugehörig und "normal" wahrgenommen. Daher spricht Keiko auch davon, dass sie im Konbini eigentlich erst richtig geboren wurde.

Doch die Vertreibung aus dem Paradies droht, als der Taugenichts Shiraha im Supermarkt zu arbeiten beginnt. Die Außenseiter tun sich schließlich zusammen, um der Welt vorzugaukeln, sie seien ein Liebespaar. Angeblich gehört es sich ja doch für normale Leute in einer Beziehung zu sein. Und Normalität ist wiederum anzustreben, um nicht negativ aufzufallen.

"Die Ladenhüterin" entwickelt durch Keikos Sichtweise auf die Welt eine überraschende Perspektive darauf, was wir Normalität nennen. Man muss wahrlich schmunzeln, wenn man lesen darf, dass Keikos Verwandten eine unglückliche Keiko in einer schrecklichen Beziehung lieber ist als eine glückliche, asexuelle Supermarktmitarbeiterin. Letzteres ist halt nicht normal – insbesondere wenn man mit einem Uni-Abschluss doch auch als Office-Lady in einem besseren Angestelltenverhältnis arbeiten könnte…

Vielleicht lässt sich die Moral der Geschichte ganz gut so festhalten: Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Und manchmal ist ein kleiner Reminder, dass die angeblich unumstößliche Normalität nichts weiter als ein kontingentes Schema ist, eine feine Sache – insbesondere wenn er sich so herrlich absurd liest wie Sayaka Muratas „Die Ladenhüterin“.

Bibliographische Angaben:
Murata, Sayaka: "Die Ladenhüterin" (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Aufbau, Berlin 2018, ISBN 978-3-351-03703-1

Dienstag, 2. Oktober 2018

Sayaka Murata

Die 1979 in Inzai/Präfektur Chiba geborene Autorin Sayaka Murata begeistert sich seit ihrer Kindheit und immer noch für Mangas. Als Schülerin begann sie mit dem Schreiben. An der privaten Tamagawa-Universität in Tokio studierte sie schließlich Literaturwissenschaften.

2003 debütierte sie mit der Kurzgeschichte „Stillen“, die mit dem Gunzo-Nachwuchspreis ausgezeichnet wurde. 2009 erhielt sie den Noma-Preis für „Silver Song“, 2013 den Mishima-Preis für „Von Knochen, Körpertemperatur und verschiedenen Städten“. „Die Ladenhüterin“ wurde 2016 mit dem 155. Akutagawa-Preis prämiert.

Trotz ihres literarischen Erfolgs jobbte Sayaka Murata lange Zeit als Supermarktangestellte. Ihre Kunden inspirierten sie für ihre Werke und Charaktere. Letztere bringt sie im Stil von Mangas zunächst auf Papier, um sie schließlich mit Worten zu beschreiben. Erst als ihre Fans zu penetrant wurden und an ihrem Arbeitsplatz vorbei kamen, kündigte sie ihre Stelle im Supermarkt.

Ihre Werke sind gesellschaftskritisch und thematisieren oft die Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft.

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Hier rezensierte Romane:

 
Weitere Werke:

  • Zeremonie des Lebens (Veröffentlichung geplant für September 2022)

Montag, 1. Oktober 2018

"Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden" von Genki Kawamura

Der namenlose Ich-Erzähler in Genki Kawamuras "Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden" erfährt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Ihm wird ein Gehirntumor im Endstadium attestiert. Ihm bleibt ihm günstigsten Fall ein halbes Jahr zu leben. Im ungünstigsten Fall nur noch wenige Tage.

Viel Zeit hat er allerdings auch nicht, diese Schocknachricht zu verarbeiten, da ihm urplötzlich der Teufel erscheint. Der schlägt ihm einen ungewöhnlichen Pakt vor: Jeden Tag soll etwas von der Erde verschwinden, was der Teufel auswählt. Und mit jedem verschwundenen Gegenstand wir dem Todgeweihten ein weiterer Tag zu leben gewährt - andernfalls wird er am nächsten Tag das Zeitliche segnen.

Der Deal klingt zunächst ausgezeichnet. Die Welt steckt doch schließlich voll nutzlosem Plunder. Zuerst sollen auf Geheiß des Teufels die Telefone von der Welt verschwinden. Was zuerst gar nicht so dramatisch klingt, versetzt den Ich-Erzähler dann doch in eine kleine Panik - ein letztes Mal will er dann doch noch seine Ex-Freundin kontaktieren und sich für den nächsten Tag verabreden. Was sich der Teufel für den nächsten Tag wohl ausdenkt?

"Wenn alles Katzen von der Welt verschwänden" ist ein kleines Buch voll kleiner Weisheiten. Der Teufel lacht den Ich-Erzähler aus, als er eine Liste mit den Dingen schreibt, die er gerne mal machen würde und darauf einen Fallschirmsprung setzt. Erst durch den Pakt mit dem Teufel kommt die Erkenntnis, was wirklich wichtig ist und welches Projekt der Ich-Erzähler wirklich noch beenden muss.

Dank der überzeichneten Figur des Teufels rutscht der Roman auch nicht ins Kitschig-Triefende ab. So erscheint der Teufel als Gegenteil des Ich-Erzählers: Während letzterer sich ausschließlich in Schwarz-Weiß kleidet, erscheint der Teufel in grellbunten Hawaii-Hemden und bekommt den Spitznamen Aloha. Allzu menschlich wirkt er, wenn er Schokolade als viel zu köstlich empfindet, um sie verschwinden zu lassen.

Nichtsdestotrotz wird man gegen Ende des Romans nicht umhin kommen, doch noch das eine oder andere Tränchen zu vergießen. Es wird zwar nicht alles gut, aber zumindest die eine Sache, die der verstorbenen Mutter des Ich-Erzählers besonders am Herzen lag...

Bibliographische Angaben:
Kawamura, Genki: "Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden" (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), C. Bertelsmann, München 2018, ISBN 978-3-570-10335-7

Sonntag, 30. September 2018

Genki Kawamura

Genki Kawamura ist ein Filmproduzent und Autor, der 1979 in Yokohama geboren wurde. Er studierte Literaturwissenschaften an der Sophia Universität in Tokio. 2001 begann er bei den Toho-Studios zu arbeiten. Im Jahr 2005 landete er mit der Verfilmung von „Train Man“ einen Überraschungserfolg. 2010 verfilmte er Kanae Minatos „Geständnisse“.

Im Jahr 2012 debütierte Genki Kawamura mit dem Roman „Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden“, der erfolgreich verfilmt wurde. Es folgten bis dato zwei weitere Romane und vier Bilderbücher.

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Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Samstag, 29. September 2018

"Erinnerungen aus der Sackgasse" von Banana Yoshimoto

Nachdem mich die letzten Neuveröffentlichungen von Banana Yoshimoto ja nicht mehr so vom Hocker gerissen haben, war meine Vorfreude auf "Erinnerungen aus der Sackgasse" eher verhalten. Umso schöner, dass sich der Erzählband als kleines Juwel entpuppt hat und mich daran erinnert, warum ich die Autorin so gerne mag.

Banana Yoshimoto gibt im Nachwort selbst an, dass ihr von allen ihren eigenen Werken die Erzählung "Erinnerungen aus der Sackgasse" am liebsten ist. Man merkt es aber allen Erzählungen des Buches an, dass sehr viel Herzblut darin steckt. Auch wenn die Thematiken traurig sind, dann wärmen die Geschichten doch das Herz.

Da geht es z.B. in "Das Geisterhaus" um eine verschrobene Liebesbeziehung unter Studenten, die nicht so wirkt, als könne es ein Happy End geben. In "Maamaa!" wird die Ich-Erzählerin fast vergiftet und rutscht infolgedessen in eine tiefe psychologische Krise. "Überhaupt nicht warm" handelt von einer ersten tiefen Freundschaft in Kinderzeiten, die tragisch endet. In "Tomos Glück" wird unter anderem die unglücklich endende Ehe von Tomos Eltern porträtiert. Und schließlich geht es in "Erinnerungen aus der Sackgasse" um eine Verlobte, die von ihrem Freund schmählich hintergangen wird und ihrem Leben einen neuen Sinn geben muss.

Alle Protagonisten werden in eine Krise geworfen und gehen aber - typisch für Banana Yoshimoto - gestärkt daraus hervor, weil sie an den Ereignissen gewachsen sind. Und schließlich ist doch irgendwie alles gut so, wie es gekommen ist.

Oder wie es in "Maamaa!" heißt:
"'Es war gut!', höre ich eine sanfte Stimme sagen.
Wie aus dem Nichts wiederholt sie das immer wieder, wie einen Refrain, ein Wiegenlied, als würde sie bejahen, dass ich am Leben bin. Wie wenn zu Frühlingsbeginn auf einen Schlag die Gräser sprießen, die Bäume ausschlagen und alles gelbgrün wird, dringt ihr Klang energisch und sanft zugleich zu mir herüber.
Deshalb schließe ich ein wenig die Augen und bejahe meine Welt, die ich im Zuge dieser seltsamen Ereignisse von außen zu sehen bekommen habe." (S. 156)

Bibliographische Angaben:
Yoshimoto, Banana: "Erinnerungen aus der Sackgasse" (Übersetzung aus dem Japanischen: Ortmanns, Annelie), Diogenes, Zürich 2018, ISBN 978-3-257-30056-7 

Dienstag, 25. September 2018

„Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura

Manichi Yoshimuras „Kein schönerer Ort“ beginnt recht harmlos: Die 5.-Klässlerin Kyoko wird von ihrer Mutter zusammengestaucht, weil sie versonnen in den Garten gestarrt hat und mit einer Blume redet. Man könnte sich denken, es geht um eine typische Teenagerstory, die sich um Widerstand gegen die Eltern und Wunsch nach Akzeptanz durch Gleichaltrige dreht. Wären da nicht die zunächst noch klitzekleinen Einwürfe, die einen beim Lesen stutzig machen: Warum glaubt Kyokos Mutter denn beispielsweise, dass die Nachbarn sie durch ein verstecktes Loch im Gartenzaun beobachten? Und warum darf Kyoko in ihrem Selbstlernheft nicht über Lebewesen schreiben?

Mehr und mehr verdichten sich die Anzeichen: In Umizuka, Kyokos Heimatstadt, ist irgendetwas ganz, ganz faul. Von einem Wiederaufbau nach einer Evakuierung ist die Rede. Und trotzdem soll es sich in Umizuka besonders gut und gesund leben lassen. Komisch, dass Kyokos Mitschüler trotzdem von heute auf morgen sterben. Kyoko ist zwar eine schlechte Schülerin, hat aber eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Wenn ihr das mal bloß nicht zum Verhängnis wird.

„Kein schönerer Ort“ ist – wie man unschwer herauslesen kann – nach 3/11 entstanden. Der Kurzroman liest sich wunderbar leicht dank Perspektive einer 5.-Klässlerin. Die Thematik wirkt dagegen umso bedrückender. Denn: Umizuka könnte prinzipiell überall sein oder sich überall wiederholen. Zu der Strahlung gesellen sich dann noch weitere Probleme: Um weiter machen zu können, müssen alle Bewohner die Gefahr und die Gesundheitsrisiken ausblenden. Ausnahmslos alle müssen mitmachen. Wer Bedenken äußert, wird selbst zur Gefahr, die ausgelöscht werden muss.

„Kein schönerer Ort“ zeigt, dass Literatur zu den Gefahren von Radioaktivität nicht schwer daher kommen muss. Leichtfüßig wie die junge Kyoko kommt er daher und dann zeigt er doch knallhart auf, wie verletzlich die Gesellschaft ist. Ein dünnes Buch mit einer Botschaft, die es in sich hat!

Bibliographische Angaben:
Yoshimura, Manichi: „Kein schönerer Ort“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Stalph, Jürgen), Cass, Löhne 2018, ISBN 978-3-944751-19-1

Montag, 24. September 2018

Manichi Yoshimura

Manichi Yoshimura wurde 1961 als Koichi Yoshimura in Matsuyama (Präfektur Ehime) geboren. Er wuchs in Hirakata in der Präfektur Osaka auf und ging dann nach Kioto, wo er ein pädagogisches Studium absolvierte.

2001 debütierte er mit „Kitzel Kitzel Bang“, 2003 erhielt er den Akutagawa-Preis für „Pferdehaarwürmer“. Sein Schreibstil ähnelt dem von Yasutaka Tsutsui.

Manichi Yoshimura ist nach wie vor Lehrer an einer Oberschule in der Präfektur Osaka und schreibt in seiner Freizeit.

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Ins Deutsche übersetze Romane und hier rezensiert:

Sonntag, 23. September 2018

„Unter der Mitternachtssonne“ von Keigo Higashino

Im Osaka der 70er Jahre findet ein Junge beim Versteckenspielen in einem verlassenen Gebäude die Leiche des Pfandleihers Kirihara. Mit mehreren Messerstichen wurde der Mann ermordet. Doch trotz intensiver Ermittlungen kann die Polizei den Mörder nicht dingfest machen. Alle Verdächtigen scheinen Alibis zu haben. Und ein Jahr später scheiden gar zwei davon unter seltsamen Bedingungen aus dem Leben. So müssen die Ermittlungen erfolglos eingestellt werden.

Aus unterschiedlichen Perspektiven werden in Folge Geschehnisse aus den kommenden 20 Jahren sowohl in Osaka als auch Tokio illustriert. Immer wieder kommt es zu Verbrechen wie Missbrauch, Vergewaltigung, Industriespionage oder Hacker-Angriffen. Dabei greift der Autor Keigo Higashino Themen auf, die für die jeweilige Zeit hochaktuell waren. Sei es die Einführung von Bankkarten oder Computerspiele, die im Trend lagen. Diese Themen werden immer wieder zum Aufhänger für neue Verbrechen.

Während die bisherigen Krimi-Übersetzungen von Keigo Higashino dem Whodunit-Genre zuzuordnen sind, schert „Unter der Mitternachtssonne“ diesmal aus. Denn es wird sehr schnell klar, dass zwei Personen auf mysteriöse Art und Weise in die Unglücke verkettet sind, die in ihrem Umfeld stattfinden. Kommissar Sasagaki bedient sich des Bildes vom Knallkrebs und der Grundel: Der Knallkrebs lässt die Grundel in seiner Höhle wohnen. Die Grundel wiederum warnt den Knallkrebs vor drohender Gefahr – eine perfekte Symbiose. Doch der Kriminalbeamte kann seine Theorie weder beweisen, noch den Verdächtigen habhaft werden. Und so fiebert der Leser mit, dass den beiden Bösewichten doch bitte endlich jemand das Handwerk legt, bevor sie noch weiteres Unheil stiften können.

Mit mehr als 700 Seiten ist „Unter der Mitternachtssonne“ zwar enorm lang, dafür aber so spannend, dass man gerne auch mal bis nach Mitternacht liest. Und das obwohl der Leser sehr schnell ahnt, wer hinter den bösen Machenschaften steckt. „Unter der Mitternachtssonne“ führt zwar viele Personen ein, was eine Herausforderung an den Leser ist, aber mir scheint, dass der Roman gerade durch die Vielfalt an Perspektiven so interessant wird. Jede neue Figur wird in ihren Eigenschaften genau herausziseliert und wächst einem manchmal sogar ein bisschen ans Herz. Umso schlimmer, wenn die Bösewichte dem liebgewonnenen Charakter dann etwas antun sollten.

Insgesamt gefällt mir persönlich „Unter der Mitternachtssonne“ viel besser als die Whodunit-Krimis des Autors, die mir manchmal zu konstruiert wirken.

Bibliographische Angaben:
Higashino, Keigo: „Unter der Mitternachtssonne“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Tropen, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-50348-7

Samstag, 22. September 2018

"64" von Hideo Yokoyama

Wer einen klassischen Krimi lesen will, der wird von Hideo Yokoyamas "64" gegebenenfalls enttäuscht werden. Denn der Roman nimmt sehr, sehr langsam Fahrt auf. Wer sich durch das circa 750 Seiten starke Werk wühlt, dem wird schon einiges an Durchhaltevermögen aufgebürdet.

Einerseits geht es schon auch mal um einen Cold Case: Zum Ende der Showa-Zeit (1989  = 64 Showa-Zeit) kommt es zu einem dramatischen Entführungsfall, bei dem das 7-jährige Opfer nach der Lösegeldübergabe tot aufgefunden wird. Trotz detaillierter Polizeiarbeit bleibt das Verbrechen ungelöst. Kurz vor der Verjährung soll der Fall Pubilicity-stark nochmal in den Blickpunkt der Medien gerückt werden mit der Botschaft, dass man den Mörder und Entführer nicht davonkommen lassen will.

Andererseits nimmt die spannungsgeladene Situation des Polizei-Pressesprechers Mikami die meisten Seiten in Beschlag: Mikami ist eigentlich ein klassischer Ermittler, der seine Versetzung in die Verwaltung als große Strafe betrachtet. In seiner Funktion als Pressesprecher meiden ihn die alten Kollegen aus der Kriminaluntersuchung. Doch nur wenn Mikami seinen derzeitigen Job gut erfüllt, dann hat er die Chance, wieder auf einen Ermittlerposten zurückversetzt zu werden. Zudem hat er als Führungskraft auch die Verantwortung für seine Mitarbeiter. Mikami steckt in einer Zwickmühle.

Dazu gesellen sich auch noch private Probleme. Mikamis Tochter ist verschwunden. Das Teenager-Mädchen leidet unter ihrem Aussehen. Leider hat sie nicht die Schönheit der Mutter, sondern die Gesichtszüge des wenig ansehnlichen Vaters geerbt. Und mit Mikamis Art kommt sie auch nicht klar. Eines Tages kehrt sie einfach nicht in ihr Elternhaus zurück.

Hideo Yokoyama räumt der Darstellung von Mikamis Arbeit als Pressesprecher enorm viel Raum ein. Zudem erfährt der Leser viel über die Strukturen bei der Polizei. Das mag für Japan-Freaks sicherlich noch irgendwie interessant sein. Doch mit der Zeit werden die Scharmützel zwischen PR-Abteilung und Presse bzw. Verwaltung und Kriminaluntersuchung ein bisschen fade und man fragt sich, wohin das denn noch alles führen und was das zur Klärung des Cold Case beitragen soll.

Es sei verraten, dass der Roman immerhin ab dem letzten Drittel doch endlich spannend wird. Wer sich so weit durchgekämpft hat, wird immerhin doch noch belohnt, wenn auch am Schluss einige Fragen offen bleiben.

Bibliographische Angaben:
Yokoyama, Hideo: „64“ (Übersetzung aus dem Englischen: Roth, Sabine & Stingl, Nikolaus), Atrium, Zürich 2018, ISBN 978-3-85535-017-9

Sonntag, 27. Mai 2018

Hideo Yokoyama

Der Autor und Karikaturist Hideo Yokoyama wurde im Jahr 1957 in Tokio geboren. Nach seinem Abitur ging er auf das International College of Business (ebenfalls in Tokio). Im Jahr 1979 begann er, bei der Kamiyosei Shimbun, einer Regionalzeitung der Provinz Gunma, als investigativer Journalist zu arbeiten. Als ihm 1991 für eine Kurzgeschichte der neunte Suntory Mystery Award verliehen wurde, kündigte er seine Stelle und wurde freischaffender Schriftsteller. Da er seine Ehefrau und zwei Kinder zu versorgen hatte, hielt er die Familie mit diversen Jobs, zum Beispiel im Sicherheitsdienst, über Wasser.

Erst 1998 debütierte er mit dem Roman „Saison der Schatten“, für den er den Seicho Matsumoto-Preis erhielt.

Hideo Yokoyama stürzte sich daraufhin in einen extrem ungesunden Lebensstil, um möglichst produktiv zu sein. Er schrieb bis zu 20 Stunden am Tag und hielt sich mit Energy Drinks und aufputschenden Medikamenten wach. Während er an „64“ schrieb, erlitt er im Jahr 2003 einen Herzinfarkt, von dem er sich wieder erholen konnte. Drei Jahre später konnte er den Roman schließlich beenden.

In seine Werke lässt Hideo Yokoyama seine Erfahrungen und Rechercheergebnisse aus seiner Zeit als Journalist einfließen. So basiert einer seiner Romane beispielsweise auf Interviews zum Unfall des Japan Airlines Flug 123, bei dem mehr als 500 Menschen ums Leben kamen. Der Roman „64“ wiederum ist aus der Sicht eines Pressesprechers geschrieben.

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Mittwoch, 2. Mai 2018

"Bruchstücke" von Nanae Aoyama

Neben der titelgebenden Erzählung "Bruchstücke" umfasst die Neuveröffentlichung des Cass Verlags noch die weiteren beiden Werke "Farinas Zimmer" und "Wildkatzen" der  Autorin Nanae Aoyama. Im Mittelpunkt der jeweiligen Erzählung steht eine schwierige, wenn nicht sogar negativ besetzte zwischenmenschliche Beziehung.

So geht es in "Bruchstücke" um die Vater-Tochter-Beziehung von Tadao und der Ich-Erzählerin Kiriko. Die beiden finden sich plötzlich zu zweit auf einer Tagesfahrt wieder, die ursprünglich als größerer Familienausflug geplant war. Mit ihrem Vater kann Kiriko so gar nichts anfangen und so versucht sie, die Zeit für ein Fotoprojekt zu nutzen, das unter dem Motto "Bruchstücke" steht. Für das Projekt taugen die Bilder nicht so wirklich. Dafür wird aber klar, dass die Familienidylle in Scherben liegt und keinesfalls durch einen kleinen Ausflug gekittet werden kann.

In "Farinas Zimmer" berichtet der Ich-Erzähler von seiner gescheiterten Beziehung zu Farina, die in ihrer Art so staubtrocken wie Mehl wirkt. Trotz ihrer schroffen Art verliebt sich Ryosuke in sie, was in seinem Bekanntenkreis auf Verwunderung stösst.

"Als ich mit Farina zusammen war, schmeichelte ich mir mit dem Gedanken, der Einzige zu sein, der wusste, wie wundervoll sie ist." (S. 63)

Doch eines Tages trennt sich Farina urplötzlich von Ryosuke. Schön blöd, dass beide im selben Haus wohnen und er immer wieder an seine Ex-Freundin erinnert wird. Als Ryosuke sich in die bezaubernde Hanako verliebt und sich gar verlobt, steht ein Auszug seinerseits an. Ist das der endgültige Schlussstrich unter jedwede Beziehung zu Farina?

In "Wildkatzen" bekommt das frischverheiratete Ehepaar Akihito und Kyoko Besuch von Kyokos jüngerer Cousine Shiori. Shiori stammt aus Okinawa und möchte sich in Tokio Universitäten ansehen. Zwar ist Kyoko nicht sonderlich erpicht darauf, dass die junge Dame zu diesem Zweck gerade bei ihr übernachten soll, aber schließlich möchte sie ihrer Tante einen Gefallen tun. Leider entpuppt sich Shiori als ein unzugängliches, schweigsames Ding. Nur ein einziges Mal scheint sie wirklich zu lachen - als sie erzählt, dass ein Onkel einen Unfall hatte. Und so verwundert nicht, dass die nächsten Tage von einer gewissen Spannung geprägt sind. Und das Ehepaar die Abreise des Gastes kaum mehr erwarten kann.

Ganz anders als bei Banana Yoshimoto, die ihren Protagonistinnen immer positive zwischenmenschliche Beziehungen widerfahren lässt, präsentiert Nanae Aoyama Gegebenheiten, die negativ ausfallen und daher sicherlich realistischer und nachvollziehbar sind. Wer kennt sie nicht, die Situationen, in denen man einen ungebetenen Gast beherbergt und die Zeit der Abreise kaum erwarten kann. Oder die unangenehmen Situationen mit Verwandten, mit denen man nicht auf einer Wellenlinie liegt und mit denen man sich nichts zu sagen hat.

Trotz der wenigen Seiten, die jeder Erzählung gewidmet sind, gelingt es der Autorin, ihre Protagonisten wunderbar anschaulich herauszuarbeiten. Ein kleines Beispiel hierzu:

"Mit Farinas Zuneigung war es wie mit einem Wasserhahn.
Wenn sie aufdrehte, war sie so nah, dass sie mich mit ihrer Nähe fast erdrückte." (S. 58)

Damit sind Nanae Aoyamas Werke keine Bruchstücke in Form von Erzählungen, sondern kleine Perlen der Erzählkunst. Hoffentlich plant der Cass Verlag noch weitere Veröffentlichungen der Autorin!

Bibliographische Angaben:
Aoyama, Nanae: "Bruchstücke" (Übersetzung aus dem Japanischen: Busson, Katja & Lommatzsch, Frieder), Cass, Löhne 2018, ISBN 978-3-944751-17-7

Dienstag, 1. Mai 2018

"Die Ermordung des Commendatore" von Haruki Murakami

Ein Porträtmaler wird überraschend von seiner Ehefrau verlassen. Nachdem er erst ziellos durch Japan gefahren ist, überlässt ihm ein Studienfreund das Haus seines Vaters in den Bergen bei Odawara. Dieser Vater, der ein berühmter Maler war, vegetiert derzeit in einem Pflegeheim. Nun ist der Porträtmaler einerseits der Housesitter, andererseits kann er das Atelier nutzen, um sich ganz der Malerei zu widmen. Doch die Leinwand bleibt zunächst leer - dem Maler fehlt die richtige Inspiration.

Schließlich lässt der mysteriöse Millionär Menshiki, der auf der anderen Seite des Tals lebt, ein Porträt anfragen. Eigentlich wollte der Maler der Porträtmalerei abschwören und sich einen neuen künstlerischen Ausdruck erarbeiten, aber Menshikis Angebot ist zu lukrativ, um es auszuschlagen.

Zwischenzeitlich entdeckt der Maler auf dem Dachboden des Hauses ein verstecktes Gemälde des früheren Bewohners. Das Sujet zieht ihn absolut in den Bann: Es stellt die Ermordung des Commendatore aus der Oper Don Giovanni dar. Jedoch werden die Personen in die Atsuka-Zeit versetzt und eine der dargestellten Figuren wirkt wie fehl am Platz: Ein langgesichtiger Beobachter guckt aus einer Luke im Boden und gehört sicherlich nicht zu den Akteuren im Don Giovanni.

Eines Nachts beginnen unheimliche Dinge vor dem Haus. Glöckchen bimmeln den Protagonisten aus dem Schlaf. Als er sich auf die Suche nach der Ursache macht, glaubt er, das Geräusch müsse aus einer verschlossenen Grube bei einem Schrein kommen. Als er Menshiki zu Rate zieht, beschließen die beiden, dass sie die Grube öffnen, um nachzusehen. Damit nehmen wunderliche Begebenheiten ihren Lauf.

Wer andere Haruki Murakami-Bücher gelesen hat, der findet in "Die Ermordung des Commendatore" diverse Ähnlichkeiten mit früheren Werken. Da ist ein eher durchschnittlicher Mann, der von seiner Frau verlassen wird. Da ist eine mysteriöse Grube, die an einen Brunnen erinnert. Da kommt ein junges Mädchen ins Spiel, das in Gefahr zu schweben scheint. Ein anderer Mann hortet die Kleidung seiner verstorbenen Geliebten. Alltagshandlungen nehmen großen Raum ein. Schließlich muss der Protagonist eine dubiose Unterwelt durchwandern. Insofern liefert "Die Ermordung des Commendatore" nicht wirklich neuen Stoff, sondern setzt auf Altbewährtes und ist daher leider auch recht erwartbar.

Mich hat der Roman leider nicht so ganz überzeugt. Einerseits war er in meinen Augen so wenig überraschend. Andererseits fand ich das Ende auch nicht sehr geglückt. Für mich als alte Zitatesammlerin von Haruki Murakami-Weisheiten hat vor allem der erste Band wenig geboten. Und so ganz mag ich Haruki Murakami auch nicht seinen Protagonisten abnehmen, der ja Kunst studiert haben soll. Sonst neigt der Autor ja gerne zum Fachsimpeln, aber was zum Thema Kunst kommt, ist dagegen eher simpel.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: "Die Ermordung des Commendatore Band 1: Eine Idee erscheint" (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2018, ISBN 978-3-8321-9891-6
Murakami, Haruki: "Die Ermordung des Commendatore Band 2: Eine Metapher wandelt sich" (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2018, ISBN 978-3-8321-9892-3

Samstag, 7. April 2018

"Die Maske" von Fuminori Nakamura

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschließt der 60-jährige Familienpatriarch Yosuke Kuki, daß er zum Ende seines Lebens nochmals Vater werden möchte. Doch nicht, um sich an dem jungen Leben zu erfreuen, sondern um der Welt nach seinem Ableben ein Geschwür in Form von missratenem Nachwuchs zu hinterlassen. Dementsprechend hart werden die Erziehungsmethoden angewandt und der zweite Weltkrieg tut ein Übriges, um die Brut völlig zum Pychopathen zu transformieren. Das Geschwür soll und wird Böses in die Welt setzen.

Fuminori Nakamuras "Die Maske" setzt aber später ein, als der elfjährige Fumihiro Kuki vor seinen furchteinflössenden Vater zitiert wird. Dieser eröffnet dem Jungen, dass er nur gezeugt wurde, um die Familientradition der Geschwüre fortzuführen. Der Vater hat sich einen perfiden Plan ausgedacht, um in Fumihiros Herz das Teuflische zu pflanzen: Er adoptiert die junge, bezaubernde Kaori und lässt die beiden Gleichaltrigen sich anfreunden. Doch eines Tages will er Kaori so quälen, dass Fumihiro dem Wahnsinn verfällt und sich dem Bösen zuwendet.

Doch Fumihiro denkt gar nicht daran, sich in sein Schicksal zu ergeben. Er verliebt sich unsterblich in Kaori und jedes Mittel soll ihm recht sein, die Geliebte zu beschützen. Er gibt sich dem Vater gegenüber übertrieben kindlich und schmiedet insgeheim an seinem Plan, der ihm für immer seine seelische Ruhe rauben wird.

Jahre später begegnet der erwachsene Fumihiro dem Leser erneut. Doch zwischenzeitlich hat er eine andere Identität angenommen und sich durch plastische Chirurgie auch optisch völlig verändert. Die Vergangenheit scheint Fumihiro trotzdem einzuholen. Kaori droht erneut Gefahr und Fumihiro muss wieder alles aufs Spiel setzen, um sie zu retten.

Fuminori Nakamura, der als Noir-Autor bekannt ist, steigt wahrlich düster in den Roman ein. Die Handlung steigert sich bis zu einem enorm spannenden ersten Höhepunkt und bei dem Gedanken an Fumihiros gruseligen Vater stellt es einem richtiggehend die Nackenhaare auf.

Ganz anders wirkt dagegen der Teil, der dem erwachsenen Fumihiro gewidmet ist. Hier geht's zwischendurch fast schon clownesk-grotesk zu, als Fumihiro ein zweites Geschwür des Kuki-Clans kennenlernt. Dieser zweite missratene Sohn der Familie betätigt sich in einer dubiosen Terrorgruppe, die von Politikern Karaokeinterpretationen als verkleidete Popsternchen erpresst. Einerseits sind unter dieser Tonalität die sympathischeren Wendungen möglich, andererseits hätte es mich auch brennend interessiert, wie eine düsterere Version des Romans verlaufen wäre. Ich kann nur spekulieren, dass der Nachhall des Werks dann größer gewesen und stärker unter die Haut gegangen wäre. So verpufft er leider relativ schnell, was das Lesevergnügen selbst allerdings nicht schmälert. Hochspannend ist "Die Maske" aber auch in dieser Version.

Bibliographische Angaben:

Nakamura, Fuminori: "Die Maske" (Übersetzung aus dem Japansichen: Eggenberg, Thomas), Diogenes Verlag, Zürich 2018, ISBN 978-3-257-86337-6

Montag, 15. Januar 2018

„Schönes Dorf“ von Tatsuo Hori

Tatsuo Horis Novelle „Schönes Dorf“ hat mich gleich drei Anläufe gekostet, bis ich das Werk endlich fertig gelesen habe. Denn tatsächlich gilt für das schmale Büchlein, was auf der englischen Version von Wikipedia zu Tatsuo Horis Oeuvre steht: „often plotless and impressionistic“. Aber um nicht missverstanden zu werden – die wenige, dahinfließende Handlung soll kein Kritikpunkt sein. Dafür muss man aber in Stimmung sein und sich auf den Schreibstil einlassen können. Insofern bietet „Schönes Dorf“ keine großmächtige Unterhaltung, sondern genügt sich einfach selbst.

Doch worum geht es… Der Protagonist und Ich-Erzähler, der sicherlich mit dem Autor selbst gleichzusetzen ist, ist noch vor dem Beginn der Hoch-Saison in dem Luftkurort Karuizawa. Er streift umher, betrachtet die Natur, geht in den Gärten der noch verlassenen Ferienhäuser ein und aus und lässt die Gedanken schweifen. Dabei kommen ihm unverfängliche Geschehnisse aus der Vergangenheit in den Sinn, aber vor allem denkt er immer wieder an die Angebetete aus einem früheren Sommer. Als allerdings das Mädchen mit dem gelben Hut auftaucht, scheint sich eine neue Liebelei anzubahnen.

Dank des Nachworts von Daniel Sandmann erfährt man noch, dass es sich bei der ehemaligen Geliebten um Fusako Katayama handelte, die Tatsuo Hori bei Ryunosuke Akutagawa in Karuizawa kennengelernt hatte. Das Mädchen mit dem gelben Hut steht für Ayako Yano, die spätere Verlobte von Tatsuo Hori.

Zudem weiß Daniel Sandmann zu berichten, dass Tatsuo Hori mit seiner Novelle eine Art literarische Fuge gestalten wollte. So heißt das erste Kapitel „Vorspiel“, das zweite „Schönes Dorf oder Kleine Fuge“. Die Gefühle des Protagonisten und die Stimmungen werden indirekt aufgegriffen und nicht platt präsentiert. Sicherlich ist „Schönes Dorf“ daher auch eine eher anspruchsvollere Lektüre. Einziger Kritikpunkt an der Übersetzung: Hin und wieder wäre es aus Gründen des Leseflusses schön gewesen, aus einem Satz zwei oder gar drei Sätze zu machen.

Bibliographische Angaben:
Hori, Tatsuo: „Schönes Dorf“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Sandmann, Daniel), S.Sagenhaphter Verlag, Dresden 2016, ISBN 978-3-943230-05-5

Sonntag, 14. Januar 2018

Tatsuo Hori

Tatsuo Hori
(Photocredit: Creative
Commons)
Tatsuo Hori wurde 1904 in Tokio geboren und im Alter von vier Jahren von seinem Stiefvater adoptiert. Obwohl er zunächst auf einer naturwissenschaftlichen Schule war und eigentlich Mathematiker werden wollte, studierte er später Literatur an der Universität von Tokio. Während des Studiums widmete er sich Übersetzungen französischer Literatur (z.B. Werken von Apollinaire, Cocteau, Gide, Proust und Mauriac), die in der Zeitschrift Roba erschienen.

Tatsuo Hori gilt als Schüler von Ryunosuke Akutagawa. Seine ersten Werke zeigen jedoch auch eine Nähe zur proletarischen Literaturbewegung.

Tatsuo Hori litt an Tuberkulose, weswegen er viel Zeit in Karuizawa verbrachte. Viele seiner Novellen spielen daher in den Bergen von Nagano. 1943 verlobte er sich mit Ayako Yano, die ebenfalls an Tuberkulose erkrankt war. Doch bereits im folgenden Jahr starb die Verlobte, während das Paar gemeinsam Zeit in einem Sanatorium verbrachte. Tatsuo Horis Novelle „Der Wind hat sich erhoben“ basiert auf diesen Geschehnissen. Die Novelle wurde 2013 von Hayao Miyazaki für den Animationsfilm „The Wind has Risen“ (Studio Ghibli) adaptiert. Der Film gilt als Hommage an Tatsuo Hori und den Flugzeugingenieur Jiro Horikoshi.

1938 heiratete Tatsuo Hori Tae Kato, mit der er in Karuizawa lebte. 1941 erschien sein erster Roman „Naoko“. 1946 verschlimmerte sich Tatsuo Horis Tuberkuloseerkrankung und er publizierte kaum noch. 1953 starb der Autor.

Abgesehen vom Roman „Naoko“ kommen Tatsuo Horis Werke meist mit sehr wenig bzw. nahezu kaum Handlung aus und wirken wie Notizen von Impressionen und Reflektionen.

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Weitere Werke:

  • Der Wind erhebt sich (Veröffentlichung geplant für August 2022)

Dienstag, 2. Januar 2018

"Infinity Net - Meine Autobiografie" von Yayoi Kusama

Ich muss zugeben, dass bisher Takashi Murakami der einzige mir bekannte zeitgenössische japanische Künstler war.  Nach der Lektüre von "Infinity Net" ist das nun Gott sei Dank anders. In ihrer Autobiografie lernt man die Künstlerin Yayoi Kusama kennen, die wahrlich ein sehr turbulentes Leben geführt hat. Aufgewachsen in Matsumoto und mit dem festen Willen ausgestattet, Künstlerin zu werden, bietet sie ihrer Mutter Paroli, die sie am liebsten verheiratet und als gute Ehefrau gesehen hätte.

Nach ersten künstlerischen Erfolgen in Japan geht sie sogar allein in die USA und nimmt ein entbehrungsreiches Leben auf sich, um in New York den Durchbruch zu schaffen. Zunächst tut sie sich noch schwer mit ihren "Infinity Nets" - Gemälden mit sich stetig wiederholenden netzartigen Mustern. Denn aktuell sind Action Paintings populär in der Kunstszene. Doch tatsächlich gelingt es ihr, zur gefeierten Avantgarde-Künstlerin aufzusteigen. In ihrer psychosomatischen Kunst verarbeitet sie ihre Angst vor Sexualität, indem sie Objekte über und über mit Penisskulpturen bestückt. Mit Nackt-Performances inklusive Live-Sex eckt sie nicht nur mit der Polizei an. In Japan wird sie gar als Schande für die Nation bezeichnet; ihre Familie bricht mir ihr. Dafür lieben die Hippies Yayoi Kusama. Denn freien Sex sieht die Künstlerin als friedliche Revolution:

"Bei den sexuellen Freuden gibt es keinen Unterschied zwischen Schwarz, Weiß und Gelb. Warum sollten Menschen, die Lust miteinander teilen, in den Krieg ziehen und andere töten? Durch freien Sex lässt sich die Mauer zwischen mir und den anderen einreißen." (S. 220 ff.)

Ein eigentlich nur für kurze Zeit angedachter Aufenthalt in Japan wird eine Rückkehr für immer: Die Künstlerin lässt sich in eine psychiatrische Klinik in Tokio einweisen; arbeitet aber immer noch täglich an ihren Kunstwerken. Genie und Wahnsinn liegen nun mal nah beieinander...

Yayoi Kusamas Autoiograpfie gibt einen guten Überblick über ihre Kunst und öffnet den Blick auf die Privatperson der Künstlerin. Viele Fotos (einige davon in Farbe) ergänzen die Texte. Dennoch hätte ich mir glatt noch mehr Details z.B. über die Gefühlslagen der Künstlerin erhofft. Die Person Yayoi Kusama bleibt für mich immer noch etwas eigentümlich blutleer und kaum fassbar.

Die sicherlich aufregende Zeit in New York inklusive des Hippie-Feelings hätte wahrscheinlich noch diverse Anekdoten geliefert, um viele Seiten und die Autobiografie mit noch mehr Leben zu füllen. Aber wahrscheinlich wäre Yayoi Kusama dann mit ihrer Autobiografie nie zu Ende gekommen... Bleibt zu hoffen, dass vielleicht einer ihrer Romane ins Deutsche übersetzt wird. Da soll es ja unter anderem um die turbulente New Yorker Zeit gehen.

Bibliographische Angaben:
Kusama, Yayoi: "Infinity Net - Meine Autobiografie" (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), Piet Meyer Verlag, Bern/Wien 2017, ISBN 978-3-905799-40-8