Mumey und Yoshiro sind ein Urenkel-Urgroßvater-Gespann, die gemeinsam in einer Notunterkunft hausen. Mumey ist wie alle Kinder seiner Generation sehr schwach und kränklich. Er verfügt aber auch über eine eigenartige Weisheit und Yoshiro glaubt nicht, ihm auch nur eine Sache beibringen zu können. Ohnehin sind viele frühere Verlässlichkeiten dahin. So wechseln Menschen urplötzlich ihr Geschlecht. Die Polizei hat seit der Abschaffung von Lebensversicherungen keine Morde mehr aufzuklären, sondern fungiert in erster Linie als lustige Blaskapelle.
Soweit Yoshiro kann, umsorgt er seinen Enkel fürsorglich, denn der Kleine kann mit seinen brüchigen Zähnen nicht gut kauen, plagt sich arg beim Schlucken und muss von Yoshiro mit dem Fahrrad zur Schule gefahren werden. Beim Kinderarzt wird untersucht, wie weit die Zellzerstörung schon fortgeschritten ist. Mumey klagt jedoch nicht, sondern begibt sich ohne Klagen in sein Schicksal. Er ist ein Todgeweihter.
Yoshiro ist Schriftsteller und erlebt die Restriktionen der Abschottungspolitik als besonders hart. Einen historischen Roman über Sendboten nach China begräbt er auf dem Dingfriedhof; das Werk hätte wegen seiner vielen Bezüge zu Orten im Ausland nicht veröffentlicht werden dürfen. Auch seinem Essay „Japan war nicht isoliert“ über die Handelsbeziehungen während der ersten Isolationsphase während der Edo-Zeit wird die Publikation verweigert. Und dann sind da noch die vielen Worte, die Yoshiro aus seinem Wortschatz streichen soll, da sie nicht mehr verwendet werden dürfen.
Doch nicht alle Japaner halten sich an die Isolationspolitik. Die geheime Sendboten-Vereinigung schickt immer wieder Kinder ins Ausland, damit sie dort untersucht werden. Denn die Katastrophe, die Japan heimgesucht hat, kann auch woanders auftreten und dieselben Krankheitsbilder verursachen. Mumey scheint für die Aufgabe eines Sendboten ideal…
Yoko Tawadas „Sendbo-o-te“ wurde 2018 in der englischen Übersetzung mit dem US-amerikanischen National Book Award für übersetzte Literatur ausgezeichnet, der insgesamt an zehn Werke vergeben wurde. Yoko Tawada schrieb „Sendbo-o-te“ auf Japanisch. Die deutsche Version wurde von Peter Pörtner übersetzt. Daher fallen die Sprachspiele, die Yoko Tawadas auf deutsch verfasste Werke kennzeichnen, diesmal etwas subtiler aus. Das Thema Fremdheit, das ja sonst oft von der Autorin aufgenommen wird, findet man in der aktuellen Veröffentlichung nicht. Der grandiose Wortwitz von Yoko Tawada bleibt dem Leser aber gleichwohl erhalten:
„’Was sind die Wechseljahre?’
‚Das ist, wie wenn der Körper die Tonart wechselt. Von Dur in Moll. Oder so.’“
(S. 155)
Auch wenn die Untergrundorganisation der Sendboten titelgebend ist, so nimmt sie doch keinen allzu großen Raum in Yoko Tawadas Roman ein. Im Zentrum steht Yoshiro, der aus der Zeit vor der Katastrophe und aus der Zeit danach berichtet. Auch aus Mumeys Perspektive, aus der von Mumeys Urgroßmutter und Mumeys Lehrer wird das Leben nach dem Desaster dargestellt. Daher sollte der Leser trotz der subversiven Sendbotengesellschaft keine großmächtige Spannung erwarten, sondern vielmehr eine Bestandsaufnahme nach der Katastrophe. Freilich kommt die dank Yoko Tawadas Erzählweise leicht und originell daher, ohne in depressiven Charakter zu verfallen. Nichtsdestotrotz klingt auch die Reue Yoshiros durch, dass die Lebensweise seiner Generation den Urenkeln die Chance auf ein gesundes, langes Leben genommen hat.
Bei einer zweiten Auflage sollte der Konkursbuchverlag jedoch nochmal gründlich Korrektur lesen. Es tummeln sich so einige Fehlerchen insbesondere bezüglich der Interpunktion. Selbst ein Charakter bekommt auf derselben Seite zwei Namen (Suiren vs. Surien, S. 151).
Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Sendbo-o-te“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Pörtner, Peter), Konkursbuch Verlag, Tübingen 2018, ISBN 978-3-88769-688-7
Vom Thema her nicht so mein Geschmack. Aber weil ich gerne japanische AutorInnen lese, hab ich mir dieses Buch gegönnt. Idee und Ablauf fand ich sehr gut. Ich hab aber wohl nicht ganz alles verstanden und müsste es nochmals lesen. Vorallem der Schluss hat mich etwas verwirrt.
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