Labels

Mittwoch, 29. Juni 2011

„Und plötzlich stumm“ von Kenzaburo Oe

Das Setting von „Und plötzlich stumm“ von Kenzaburo Oe, dem „Autor aus der Peripherie", ist ein typisches: Ein abgelegenes japanisches Bergdorf. Die ländliche Idylle wird gestört, als US-Soldaten inklusive eines Übersetzers im Jahr 1945 kurz nach Kriegsende das Dorf durchqueren. Dies ist das erste Zusammentreffen mit der Besatzungsmacht, die Stimmung ist angespannt, die Frauen sind auf einem Bergkamm vor Übergriffen in Sicherheit gebracht worden. Die Begegnung scheint gut zu verlaufen, bis eine Kleinigkeit eine fatale Entwicklung heraufbeschwört.

Die Handlung von „Und plötzlich stumm“ geht unter die Haut: Einem Außenseiter gelingt es, die Situation eskalieren zu lassen. Und dennoch scheint das Schweigen mehr Macht zu besitzen als die Gewehre von Soldaten.

Kenzaburo Oes Erzählung „Und plötzlich stumm“ aus dem Jahr 1958 umfasst nur 31 Seiten und lohnt sich als Anschaffung daher eher für Oe-Fans und Liebhaber toller Druckwaren: Das wunderschön gestaltete Büchlein wird von einem Bambusmotiv auf dem Umschlag und einem Transparentpapier im Innenteil geziert.

Sonntag, 26. Juni 2011

„Das Bad“ von Yoko Tawada

„Das Bad“ von Yoko Tawada beginnt recht harmlos. Die Protagonistin, eine Japanerin im Ausland, steht im Bad und bemerkt, dass sich ihre Haut schuppt. Da kommt ihr ein Märchen in den Sinn, in dem eine Frau sich zum Schuppentier verwandelt, nachdem sie einen Fisch gegessen hat, ohne ihn mit den am Hungertuch nagenden Nachbarn im Dorf zu teilen. Auch die Protagonistin wandelt sich im Laufe der Erzählung in eine Schuppenfrau. Doch nicht nur das: Der Geist einer Toten stiehlt ihr die Zunge und sie ist zum Schweigen verdammt. Schließlich kommen sogar noch zwei Geisterstewardessen ins Spiel…

Alles in allem ist „Das Bad“ eine psychedelische Erzählung wie ein halluzinogener Trip, der zum Ende hin immer abgedrehter wird. Daraus kann man nur bedingt schlau werden: Die Protagonistin fühlt sich unsichtbar in der Fremde, muss sich erst schminken, um gesehen und wahrgenommen zu werden. Doch es ist ein stereotypisches Gesicht, das dem westlichen Bild einer Japanerin entspricht, mit dem ihre Mutter sie fast nicht mehr erkennt. So wird „Das Bad“ auch zu einer Erzählung über Fremdheit und Verlust der eigenen Wurzeln. Ein bisschen vermisst man jedoch die Qualität der wunderbaren Sprachspiele, die Yoko Tawada in anderen Büchern vollführt.

Dafür ist „Das Bad“ aber optisch sehr gelungen: Jede der knapp 60 Seiten wird von einem schemenhaften Frauenakt geziert, der an unsere Protagonistin im Bad erinnert.

Samstag, 25. Juni 2011

„Hard-boiled, Hard Luck“ von Banana Yoshimoto

„Hard-boiled, Hard Luck“ von Banana Yoshimoto enthält zwei Erzählungen, die jeweils den Tod eines geliebten Menschen, Verlust und Verlassen zum Thema haben.

In „Hard-boiled“ spürt die Protagonistin ihrer Vergangenheit mit ihrer lesbischen Ex-Geliebten Chizuru nach. Ob es daran liegt, dass es der einjährige Todestag von Chizuru ist, dass es ein so verwunschener Tag ist? Ein Brand wird in einem Imbissladen ausgelöst, nachdem die Protagonistin dort gespeist hat; Geister beginnen zu spuken und böse Träume lassen die Ich-Erzählerin nicht schlafen. Und dennoch bleibt eine versöhnliche Grundstimmung: Chizuru rät ihrer Ex-Freundin, „hard-boiled“ zu sein, sich von den Schlägen des Schicksals nicht unterkriegen zu lassen.

„Hard Luck“ im Herbst: Die Schwester der Protagonistin liegt im Sterben. Kurz vor ihrer geplanten Hochzeit hat sie einen Hirnschlag erlitten. Langsam setzen alle Hirnfunktionen aus und die Familie bereitet sich auf den Tod der Angehörigen vor. Doch durch die vielen Krankenhausbesuche bei der Sterbenden lernt die Protagonistin den Bruder des Verlobten der Schwester kennen und verliebt sich. Sie plant ein Auslandssemester, weswegen die junge Liebe erst noch diese Hürde nehmen muss. Ein hartes Los in doppeltem Sinne, aber doch mit der Aussicht auf Glück.

„Hard-boiled, Hard Luck“ enthält wohl die traurigsten Erzählungen von Banana Yoshimoto. Trotzdem versinken die Protagonisten nicht in ihrem Leid, sondern setzen sich damit auseinander und finden neue Perspektiven. Wie immer erzählt die Autorin in ihrem nahezu schwerelosen Stil, der den Leser verzaubert und Hoffnung gibt:

„Der Tod ist nicht traurig. Grausam ist nur, wenn einen die Wehmut überkommt, dass man keine Luft mehr kriegt.“ (S. 109)

Freitag, 24. Juni 2011

„Der Heilige“ von Yoshikichi Furui

Auch bei „Der Heilige“ von Yoshikichi Furui empfiehlt es sich, zuerst das Nachwort zu lesen. Denn ansonsten ist man bei der Schilderung des Begräbnisritus etwas irritiert und fragt sich, ob dies der wirren Fantasie des Autors entsprungen ist. Nein, Ekkehard May klärt im Nachwort auf, dass das so genannte Doppelgrabsystem noch in den 50er Jahren in einigen Orten verbreitet war. Hier wurde der Körper der Verstorbenen aus Platzmangel in einem Massenerdgrab abseits des Dorfes und der Felder bestattet, die Seele des Verstorbenen wurde jedoch auf einem separaten buddhistischen Friedhof verehrt, wo sich auch ein Grabstein befand. Die Pflege des als unrein geltenden Erdgrabs und die Bestattungen oblagen einem Ausgestoßenem.

Mit diesem Phänomen wird der Ich-Erzähler, ein sich auf Wanderschaft befindender Student aus Tokio, konfrontiert. Von einem Gewitter überrascht, den Fuß verstaucht, sucht er Schutz in einem kleinen, abgelegenen Tempel, wo er schließlich übernachtet. Am nächsten Tag sucht ihn die junge Frau Sae auf und bittet den Ich-Erzähler um einen großen Gefallen: Saes Großmutter liegt im Sterben und möchte nach dem alten Brauch in der Erde beim Tempel bestattet werden. Dazu ist ein Ausgestoßener dringend nötig, ein Bettler, der sie nach ihrem Tode als  „Heiliger Mann“ ans „jenseitige Ufer“ bringt. Saes Großmutter hat den Studenten bereits aus ihrem Zimmer vor dem Tempel erblickt und glaubt, nur in Anwesenheit des angeblich Heiligen sterben zu können.

Der Student lässt sich überzeugen und bleibt einige Tage in der Hütte beim Tempel und spielt die Rolle des Heiligen. Sae verköstigt ihn in dieser Zeit, schläft mit ihm und erzählt die Generationen zurückreichenden Geschichten der heiligen Männer, die jeweils einige Jahre den Dienst des Totengräbers und Grabwächters übernommen hatten. Als Ausgestoßene übten sie jeweils einen verbotenen sexuellen Reiz auf die jungen Mädchen des Dorfes aus.

Zudem thematisiert Yoshikichi Furui jedoch die Veränderungen in Japan: Die Landwirte im Dorf möchten ihre Felder verkaufen und in die Stadt ziehen. Die nahe gelegene Stadt N. wuchert und streckt ihre Siedlungen wie eine Krake nach dem Dorf aus. Und Saes Großmutter mit ihren Bestattungswünschen ist die letzte einer Generation.

In Japan gilt Yoshikichi Furui als ein anspruchsvoller, nicht leicht lesbarer Autor. Dies schlägt sich auch in der Übersetzung nieder. „Der Heilige“ war Furuis erster, in eine westliche Sprache übersetzter Roman. Das weitere Schicksal der Protagonisten wird in „Zufluchtsort“ geschildert. Der letzte Teil „Die Eltern“ ist leider bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.

Donnerstag, 23. Juni 2011

Yoshikichi Furui

Yoshikichi Furui (Jahrgang 1937) studierte Germanistik und widmete sich der Übersetzung von deutschen Werken ins Japanische. Diese Übersetzungsarbeiten gaben den Impuls, selbst literarisch tätig zu werden. Besonderen Einfluss auf Yoshikichi Furui hatte die Übersetzungen zweier Erzählungen von Robert Musil und Hermann Brochs Roman „Der Versucher“.

Yoshikichi Furui gilt als einer der wichtigsten Autoren der „introvertierten Generation“: Einer Generation von Schriftstellern, die nicht mehr besonders auffällige, aktuelle Geschehnisse beschreiben, sondern die inneren Veränderungen der Menschen in einem sich permanent veränderndem Japan in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Industrialisierung und Verstädterung konkurrierten mit tradierten Lebensformen und hoben diese nach und nach auf.

Für sein Werk „Yoko“ erhielt Yoshikichi Furui 1971 den Akutagawa-Preis, 1983 für „Asagao“ den Tanizaki-Preis.

Interessante Links:

Mittwoch, 22. Juni 2011

„Der Hauptschlüssel“ von Masako Togawa

In dem polyperspektivischen Roman „Der Hauptschlüssel“ von Masako Togawa dreht sich alles um die Geheimnisse der Einwohnerinnen eines Frauenwohnheims während den 50er Jahren. Die Damen sind sehr angespannt: Das Wohnheim soll um einige Meter versetzt werden, eine dubiose Sekte rekrutiert mehr und mehr Bewohnerinnen und zu allem Überfluss ist auch noch der Generalschlüssel gestohlen worden. Da hat so manche Frau Angst, dass ein lange gehütetes Geheimnis gelüftet werden könnte; sei es Mord, Diebstahl, Betrug, Entführung oder Voyeurismus. Das Schicksal rächt sich an einigen grausam – oder war es nicht das Schicksal, sondern eine geheime Kraft, die im Verborgenen agiert? Der Leser glaubt so manches Mal, auf der richtigen Fährte zu sein und dann nimmt die Handlung doch eine andere, überraschende Wendung. Bei „Der Hauptschlüssel“ ist Spannung von der ersten bis zur letzten Seite garantiert.

Masako Togawa schildert die Figuren so treffend, dass selbst die Handlungsmuster der psychisch gestörten Noriko, die am liebsten wie eine Maus lebt, plausibel erscheinen. „Der Hauptschlüssel“ ist ein herrlich erfrischendes, kriminologisches Verwirrspiel mit einer kleinen, bitteren Note: Das Schicksal von allein stehenden Japanerinnen im Rentenalter wird sehr deprimierend geschildert. Aus Ermangelung einer befriedigenden Aufgabe schlagen sie die Zeit mit allerhand Nonsens tot und sind empfänglich für die Versprechungen von selbsternannten Religionsstiftern.

Dienstag, 21. Juni 2011

„Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ von Hiromi Kawakami

„Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ ist eine Zeile aus einem japanischen Skifahrerlied. Die Ich-Erzählerin Tsukiko, deren Liebesgeschichte Hiromi Kawakami erzählt, singt dieses Lied in einer einsamen, verzweifelten Nacht nach Neujahr, während sie spazieren geht. Gut, dass sie zufällig den Sensei, ihren ehemaligen Japanischlehrer trifft, der sie wieder auf andere Gedanken bringt.

Tsukiko und der Sensei hatten sich zufällig in der Bar von Satoru wiedergetroffen, die bald zur Stammkneipe wird. Tsukiko geht auf die 40 Jahre zu, ihr Sensei ist 30 Jahre älter. Beide sind Eigenbrötler: Tsukiko ist meistens allein, geht allein Trinken, allein ins Kino, allein auf Sonntagsspaziergänge – und vermisst Freunde oder einen Partner nicht allzu sehr. Der Sensei wurde vor einigen Jahren von seiner Frau verlassen, die zwischenzeitlich gestorben ist. Der schrullige, kauzige Sensei sammelt allerlei, wie z.B. leere Batterien, weil er sich von nichts trennen kann, was ihm einmal einen Dienst erwiesen hat. Immer adrett gekleidet und stocksteif wirkt er wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit.

Gut, dass die zwei sich zumindest zufällig immer mal wieder bei Satoru über den Weg laufen und gemeinsam essen und Sake trinken können. Die Handlung von „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ lebt von der Verschlossenheit der Charaktere. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl kommt eher durch gemeinsame, stumme Handlungen (essen, trinken, spazieren gehen, schweigen) als durch Konversation zu Stande. Insbesondere wird sehr, sehr viel gegessen.

Wie in „Herr Nakano und die Frauen“ passiert auch in „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ nicht wirklich viel: Der Sensei und Tsukiko gehen Pilze sammeln, ins Museum, in eine Spielhalle, dichten Haikus, verstreiten sich kurzzeitig, versöhnen sich… So plätschert die Handlung vor sich hin und besticht durch bodenständige Schlichtheit, während der Leser auf ein Happy End für das ungleichaltrige Pärchen hofft.

Wer sich auf diesen Roman einlässt, der wird ihn auch genießen. Die kauzige Art des Sensai, dessen Figur angeblich an den exzentrischen Schriftsteller Hyakken Uchida angelehnt sein soll, und die schmollenden Reaktionen von Tsukiko machen die Protagonisten unglaublich sympathisch. Der schmucklose Erzählstil passt genau zu der eher burschikos wirkenden Tsukiko. Und trotzdem wirkt die Stimmung zauberhaft und atmosphärisch.

Montag, 20. Juni 2011

„Die Dichterin und die Masken“/“Frauen, Masken“ von Fumiko Enchi

„Die Dichterin und die Masken“ (auch erschienen als „Frauen, Masken“) von Fumiko Enchi ist die drei Teile „Ryo No Onna“, „Masugami“ und „Fukai“ aufgeteilt. Diese japanischen Namen stehen für Masken der weiblichen Figuren des No-Theaters (das No-Theater wird traditionell von Männern gespielt, die Darsteller tragen meist Masken).

Die „Ryo No Onna“-Maske steht für den rachsüchtigen Geist einer älteren Frau, die noch nach dem Tod von ihrer unglücklichen Liebe geplagt wird. Die rachsüchtige Frau in „Die Dichterin und die Masken“ ist Mieko: Mieko war lange Zeit unglücklich verheiratet und unglücklich verliebt. Zwischenzeitlich hat die Witwe ihren Sohn Akio bei einem Lawinenunglück verloren und bildet eine enge Allianz mit ihrer Schwiegertochter Yasuko. Die Wissenschaftler Ibuki und Mikame verlieben sich beide in Yasuko und werden in die Pläne der starken Mieko und ihrer ergebenen Schwiegertochter hineingezogen. Besitzt Mieko eine uralte weibliche Stärke, die auf schamanistischem Wissen beruht und sie befähigt, Menschen zu manipulieren?

„Masugami“ ist die Maske einer jungen, wahnsinnigen Frau – diese Person wird in „Die Dichterin und die Masken“ von Harume verkörpert. Harume ist die Zwillingsschwester von Miekos totem Sohn Akio. Schon in der Gebärmutter erlitt Harume einen Hirnschaden, da Akio ihr den Platz raubte. Harume wird zum Instrument von Miekos Plänen mit Ibuki.

In „Fukai“ (der Maske einer bekümmerten, resignierten älteren Frau) wird die Geschichte rund um weibliche Rache und Macht schließlich aufgelöst.

„Die Dichterin und die Masken“ gewinnt erst auf den zweiten Blick einen besonderen Reiz. Denn die Details rund um das No-Theater und Miekos Deutungsversuche des japanischen Klassikers „Die Geschichte des Prinzen Genji“ sind für Japan-Unkundige etwas ermüdend. Doch sowohl die Masken des No-Theaters als auch Miekos Artikel über die Frauen in Prinz Genjis Leben sind ein Spiegelbild der Psyche der verschlossenen Mieko.

Fumiko Enchi schildert die Unterdrückung der Frau, die kein Anrecht auf Unabhängigkeit hat. Doch irgendwo im Verborgenen lauert die weibliche Stärke, die im Hintergrund doch die Fäden zieht…

Hier geht es zu einem tollen Artikel von Wayne Pounds, der intensiv auf die geheimen, übernatürlichen Energien von Mieko eingeht. Aber Achtung: Der Text ist ein ziemlicher Spoiler für die, die das Buch noch lesen möchten.

Sonntag, 19. Juni 2011

Fumiko Enchi

Fumiko Enchi wurde 1905 als Fumi Ueda und Tochter des Philologen und Linguisten Kazutoshi Ueda geboren. Da sie als Kind recht kränklich war, wurde sie zuhause unterrichtet. Ihre Großmutter weckte die Begeisterung für „Die Geschichte des Prinzen Genji“ und das Kabuki- und Bunrako-Theater. 1930 heiratete sie den Journalisten Yoshimatsu Enchi, mit dem sie eine Tochter hatte.

In den 20er Jahren verdingte sie sich primär als Theaterautorin und machte Bekanntschaft mit linken Autoren der Proletarierliteratur. In den 50er Jahren wurde Sie als Romanautorin bekannt. Typische Themen von Fumiko Enchi sind die weibliche Psyche, Unterdrückung, Ehebruch, Verführung und Erotik. 1969 erhielt sie den Tanizaki-Preis, 1985 nahm sie den japanischen Kulturorden in Empfang. 1986 starb Fumiko Enchi an Herzversagen.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

Samstag, 18. Juni 2011

„Nach dem Beben“ von Haruki Murakami

Nach den Erfahrungen des schweren Erdbebens von Kobe entstand Haruki Murakamis „Nach dem Beben“. Alle Erzählungen knüpfen in irgendeiner Weise an das Erdbeben an. „Nach dem Beben“ ist ein Zitat von Goddard vorangestellt:

„[…] Dabei war doch jeder einzelne von ihnen ein Mensch. Wir wissen nichts von ihm. Ob sie ihre Frau geliebt haben, ob sie Kinder hatten, ob sie lieber ins Kino gegangen sind oder ins Theater. Gar nichts weiß man. Man sagt einfach: 115 Tote.“

Man mag unterstellen, dass Haruki Murakami mit „Nach dem Beben“ einen Versuch startet, die abstrakte Zahl der Erdbebentoten in individuelle Schicksale umzuwandeln.

Die erste Erzählung in „Nach dem Beben“ ist „Ufo in Kushiro“: Fünf Tage lang harrt Komuras Frau vor dem Fernseher aus und kann sich nicht von den Bildern der Erdbebenkastrophe losreißen. Doch dann ist sie verschwunden. In einem Abschiedsbrief erklärt die Ehefrau ihre Rückkehr zu den Eltern: Komura kann ihr nichts geben, er ist nur ein Klumpen Luft. Um sich von der Trennung abzulenken, willigt Komura ein, ein dubioses Päckchen nach Hokkaido zu transportieren…

In „Stillleben mit Bügeleisen“ treffen die junge Frau Junko und der ältere Maler Miyake beim Lagerfeuermachen am Strand aufeinander. Miyake hat seine Familie in der Nähe von Kobe verlassen und weiß nichts über deren Schicksal nach dem Erdbeben. Vielmehr beschäftigt ihn sein eigener Tod: Ihn quält der Alptraum, in einem Kühlschrank ersticken zu müssen…

„Alle Kinder Gottes“ ist die Geschichte von Yoshiya, dessen Mutter sich während der Schwangerschaft einer Sekte zugewandt hat. Da er ohne Vater aufgewachsen ist, erklärt die Sekte den „Herrn“ zu seinem Vater. Doch eines Tages, als seine Mutter Hilfsgüter zu den Erdbebenopfern transportiert, begegnet er einem Mann, der sein leiblicher Vater sein könnte…

„Thailand“ erzählt von der Ärztin Satsuki, die nach einem Kongress Entspannung in Thailand sucht. Satsuki ist verbittert und wünscht einem ehemaligen Liebhaber in Kobe, dass er durch das Erdbeben umgekommen sein möge. Wie ein Stein liegt dieser Wunsch auf Satsukis Seele…

In der phantastischen Geschichte „Frosch rettet Tokio“ rettet ein Frosch Tokio: Zusammen mit dem Geldeintreiber Katagiri gilt es, einen Kampf gegen Wurm auszufechten, der Tokio mit einem Erdbeben zerstören will…

Die letzte Geschichte in „Nach dem Beben“ heißt „Honigkuchen“: Die kleine Sara wird seit dem Erdbeben von Alpträumen geplagt. Der Erdbebenmann kommt Nacht für Nacht und will sie in eine Kiste sperren. Junpei, einem Freund von Saras Mutter, gelingt es, das Kind mit Geschichten zu beruhigen. Währenddessen nähern sich Saras Mutter und Junpei an…

„Nach dem Beben“ bietet mit seinen sechs Erzählungen ein wunderbares, murakamieskes Potpourri: Ein fantastisches, versöhnliches, weises, groteskes, schaudriges und auch trauriges Feuerwerk der Erzählkunst.

Freitag, 17. Juni 2011

„Das Jagdgewehr“ von Yasushi Inoue

Der 1949 erschienene Kurzroman „Das Jagdgewehr“ machte Yasushi Inoue berühmt. „Das Jagdgewehr“ gilt als einer der Klassiker der japanischen Moderne. Erzählt wird die Geschichte nicht nur einer, sondern gleich mehrerer (un)glücklicher Lieben:

Ein Dichter beobachtet einen Jäger und lässt sich durch ihn zu dem Gedicht „Das Jagdgewehr“ inspirieren. Der Jäger, der sich Josuke Misugi nennt, findet sich in dem Gedicht wieder und kontaktiert den Dichter mit einem ungewöhnlichen Wunsch: Er möge drei an Josuke gerichtete Briefe lesen, die von drei verschiedenen Frauen stammen.

In den drei Briefen entfaltet sich die Liebesgeschichte zwischen Josuke und Saiko aus der Perspektive von Saikos Tochter Shoko, Josukes Ehefrau und Saikos Cousine Midori und Saiko selbst. 13 Jahre führen Josuke und Saiko ihre geheime Affäre und erfahren erst dann, dass Midori seit Anbeginn über die Liebschaft im Bilde ist. Saiko begeht daraufhin Selbstmord, da sie weiß, dass sie ein „Verbrechen“ an Midori begangen hat. Saiko krankt zudem noch an dem Betrug ihres Ex-Mannes, der nun erneut geheiratet hat.

„Das Jagdgewehr“ kommt ein bisschen wie ein Relikt aus alten Zeiten daher; sowohl sprachlich als auch thematisch, was die heutzutage wunderlich anmutende Ehe von Josuke und Midori betrifft. Dennoch gibt der Roman einige Denkanstöße rund um das Thema Liebe: Hat die Liebe auch ihre dunkle Seite? Warum hintergeht Saiko ihre Cousine, obwohl sie selbst schon einmal hintergangen wurde und dies bis zu ihrem Tod nicht überwunden hat? Für was würde man sich entscheiden: Zu lieben oder geliebt zu werden? Warum werden die Menschen lieber geliebt, als zu lieben? Und war Saiko nicht trotz aller widrigen Umstände 13 Jahre glücklich mit Josuke liiert?

Donnerstag, 16. Juni 2011

„Der stumme Schrei“/„Die Brüder Nedokoro“ von Kenzaburo Oe

Kenzaburo Oes „Der stumme Schrei“ um die ungleichen Brüder Nedokoro ist alles andere als leichte Kost. Der Roman, der auch als „Die Brüder Nedokoro“ erschien, beginnt damit, dass Mitsu, der ältere Bruder, sich im Pyjama, seinen stinkenden Hund unter den Arm geklemmt, in eine matschige Grube setzt und über die vergangene Zeit reflektiert: Sein Sohn kommt behindert auf die Welt und besitzt das Reaktionsvermögen einer Pflanze. Seine Frau betrinkt sich unaufhörlich. Sein bester Freund hat sich erhängt: Nackt, das Gesicht rot angemalt, mit einer Gurke im Hintern. Mitsu hat völlig resigniert, jeder Tag beginnt mit Angst, am liebsten würde er nur noch schlafen:

„Das wüste bittere Gift in meinem schmerzenden Körper vermehrt sich und droht, langsam wie Gelee aus einer Tube aus Ohren und Augen, Nase und Mund, After und Harnröhre hervorzuquellen…“ (S. 6)

Als Takashi, der jüngere Bruder und ehemaliger Studentenrevoluzzer, aus den USA nach Japan zurückkehrt, schlägt er Mitsu vor, gemeinsam für eine Weile in das Heimatdorf ihres Urgroßvaters nach Shikoku zu gehen.

Während Unruhen hatte der Urgroßvater einst seinen eigenen Bruder getötet, der der Rädelsführer des Aufstands war. Das Schicksal wird sich drei Generationen später wiederholen.

Wer Oes „Reißt die Knospen ab..“ mochte, wird von „Der stumme Schrei“ sicherlich enttäuscht sein. Der phlegmatische, passive Mitsu zieht den Leser glatt mit in seine Depression. Die Motive des aufwieglerischen Takashi sind genauso unzugänglich wie der von Selbstmitleid zerfressene Mitsu.

Interpretationsmöglichkeiten bietet „Der stumme Schrei“ sicherlich genug – aber ehrlich gesagt: Wären alle Oe-Bücher derartig anstrengend und depressiv, hätte ich bestimmt keines mehr gelesen. Wirklich alles andere als leichte Kost…

Mittwoch, 15. Juni 2011

„Gefährliche Geliebte“ von Haruki Murakami

Im Zentrum von Haruki Murakamis „Gefährliche Geliebte“ steht Hajime. Als Einzelkind aufgewachsen freundet er sich mit dem einzigen anderen Einzelkind in seiner Klasse an, der leicht gehbehinderten Shimamoto. Bis zum Alter von 12 Jahren sind die beiden Seelenverwandte; Shimamoto bringt in Hajime eine Saite zum klingen. Doch als Hajimes Familie wegzieht und er damit auf eine andere Schule als Shimamoto geht, wird die traute Zweisamkeit jäh beendet. Hajimes baldige neue Freundin ist Izumi. Doch Izumi ist für den Teenager Hajime eher ein Versuchsfeld für Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Nachdem er sie betrogen und zutiefst verletzt hat, will sie ihn nie wieder sehen.

Die Jahre in Hajimes 20ern sind trostlos. Keine Frau weckt den bestimmten Funken in ihm. Auch nach Freundschaften steht ihm nicht der Sinn. Seine Arbeit als Lektor in einem Schulbuchverlag ist fade und dröge. Sein Leben bekommt eine positive Wendung, als er Yukiko kennen und lieben lernt. Das Liebespaar heiratet und dank einer Anschubfinanzierung des Schwiegervaters kann Hajime seinen langweiligen Job als Lektor beenden und zwei Jazz-Clubs in Tokio eröffnen.

Doch die Geister seiner Vergangenheit lassen Hajime nicht los: Durch einen gemeinsamen Bekannten erfährt er vom Schicksal Izumis, die nach Hajimes Betrug nie wieder die Alte geworden war und nun der Schreck der Nachbarskinder ist. Eines Tages bekommt Hajime in einem Jazz-Club gar den lang ersehnten Besuch seiner ersten Liebe Shimamoto…

„Gefährliche Geliebte“ ist aber nicht nur die Geschichte einer ungebührlichen Liebschaft, sondern auch ein Roman über das Hineingezogen-Werdens in eine Gesellschaft, die man als Student noch abgelehnt hatte. Über kleine Wendungen des Schicksals, die ein ganzes Leben für immer verändern können. Und darüber, dass nichts für immer Bestand hat.

Ganz davon abgesehen, dass „Gefährliche Geliebte“ ein genialer Haruki Murakami-Roman ist, ist er bekannt als der Roman, der einen Eklat im Literarischen Quartett heraufbeschworen hat. Wer eine Kostprobe haben will – Löffler vs. Reich-Ranicki gibt’s hier. Nach dieser Sendung verließ Sigrid Löffler das Literarische Quartett.

So ganz unbegründet war Frau Löfflers Kritik wohl aber nicht. Der aus dem Englischen übersetzte Roman enthält manche Sätze, die etwas feinfühliger formuliert werden hätten können. Da über den kostengünstigen Umweg, das Buch aus dem Englischen zu übersetzen, offensichtlich einige typische Murakami-Nuancen verloren gegangen waren, zog der Verlag die Konsequenzen und investiert nunmehr in die direkte Übersetzung aus dem Japanischen. Seit Mai 2013 ist „Gefährliche Geliebte“ unter dem Titel „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ in der Übersetzung von Ursula Gräfe im Handel.

Dienstag, 14. Juni 2011

„Eine Katze, ein Mann und zwei Frauen“ von Junichiro Tanizaki

Da ist die Situation „Ein Mann und zwei Frauen“ schon kompliziert genug – aber was, wenn die wahre Liebe des Mannes keiner der beiden Frauen gilt, sondern seiner Katze Lily? In Junichiro Tanizakis Kurzroman geht es turbulent zu: Shinako, Shozos Ex-Frau, wurde gerade aus dem Haus gejagt, damit sich Shozo mit seiner reichen Cousine Fukuko verheiraten kann. Doch Shinako gibt nicht so einfach auf: Shozo vergöttert seine Katze Lily, die ihn bereits zehn Jahre seines Lebens begleitet. Was, wenn sie in Fukuko genug Eifersucht auf die Katze weckt, dass sie ihre Zustimmung gibt, Lily zu Shinako zu geben? Wäre dann nicht Shozo ganz schnell wieder zur Stelle, um seine geliebte Katze wiederzusehen?

Die Handlung in „Eine Katze, ein Mann und zwei Frauen“ gewinnt eine enorme Anschaulichkeit. Der Leser begleitet den dreist-trotteligen Shozo, wie er durchs Leben taumelt; Shinako beim Ränke-Schmieden in ihrem ärmlichen neuen Zuhause und Fukuko in Rage, wie sie Szenen zwischen Shozo und Lily beobachtet, die über Tierliebe hinausgehen. Da kann man sich ein Grinsen weiß Gott nicht verkneifen.

Und obwohl das Buch bereits 1936 zum ersten Mal erschien, ist die Geschichte so aktuell, als könnte sich Ähnliches auch heute abspielen. Natürlich mit den kleinen Abstrichen, dass sich keiner mehr einen Lampion mopsen würde, um ein Fahrradlicht zu ersetzen.

Montag, 13. Juni 2011

Junichiro Tanizaki

Junichiro Tanizaki wurde 1886 geboren und wuchs in der Meiji-Zeit auf, die von gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt waren: Die Shogun-, Samurai- und Feudalsysteme erlebten einen tief greifenden Wandel; westliche Vorstellungen von Wirtschaft, Ausbildung und Kunst drangen ins Land. 1908 begann der hochbegabte Junichiro Tanizaki an der Kaiserlichen Universität Tokio englische und japanische Literatur zu studieren; verließ die Universität aber 1910 ohne Abschluss.

In seinen früheren Werken lehnte sich Junichiro Tanizaki an westliche Literaturpraxen an. Als seine Vorbilder gelten Edgar Allen Poe und Oscar Wilde. 1923 zog Junichiro Tanizaki aufs Land und widmete sich in einer konservativeren Umgebung klassischen japanischen Themen.

Im Mittelpunkt seiner Werke steht meist die Obsession eines Mannes, der sich zu einer unerreichbaren Frau hingezogen fühlt. Die Suche nach Schönheit ist damit immer mit Schmerz und der Groteske verbunden. Die dargestellte Erotik und Sinnlichkeit überschreitet manchmal die Grenze zur Perversion.

1965 starb Junichiro Tanizaki an Herz- und Nierenversagen. Zu seinen Ehren wird seitdem der Junichiro-Tanizaki-Literaturpreis vergeben.

Interessante Links:

  • Projekt Gutenberg: Wer japanische Tanizaki-Originale lesen will, wird hier fündig

Hier rezensiert: 


        Weitere ins Deutsche übersetzte Werke:

        • Das Geständnis
        • Liebe und Sinnlichkeit

        Sonntag, 12. Juni 2011

        „Dornröschenschlaf“ von Banana Yoshimoto

        „Dornröschenschlaf“ von Banana Yoshimoto enthält die drei Erzählungen „Dornröschenschlaf“, „Wanderer der Nacht“ und „Eine geheimnisvolle Erfahrung“, deren Protagonisten sich alle in einer Phase der Stagnation befinden. Die Nacht spielt dabei jeweils eine gewisse Rolle in der weiteren Entwicklung.

        „Dornröschenschlaf“ enthält den Schlaf von gleich drei Dornröschen: Die Protagonistin Terrako ist der Schlafsucht verfallen – 12 Stunden oder mehr verschläft sie pro Tag und kann sich auch ansonsten kaum wach halten. Sie arbeitet nicht und kommt primär dann aus dem Haus, wenn sie sich mit ihrem Freund trifft, der mit einer anderen Frau verheiratet ist. Diese Frau ist das zweite Dornröschen: Nach einem Unfall liegt sie bereits monatelang im Koma. Eine Aussicht auf Besserung besteht nicht. Das dritte Dornröschchen ist Terrakos Freundin Shiori, die dem kuriosen Beruf des „Bei-Schlafs“ nachgegangen ist: Dem keuschen nebeneinander Schlafens mit Kunden, die sich einsam fühlten und menschliche Nähe suchten. Shiori beging Selbstmord, da sie im Halbschlaf die Sorgen und Ängste ihrer Kunden in sich aufgenommen hatte. Terrakos Leben ist ins Stocken geraten: Ihr Freund wagt es nicht, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, sie hat ihre beste Freundin Shiori verloren und möchte nur noch schlafen. Eine wundersame Begegnung bringt vielleicht den Wendepunkt.

        Der „Wanderer der Nacht“ ist Marie, die Cousine der Ich-Erzählerin Shibami. Marie war mit Shibamis Bruder Yoshihiro zusammen, doch Yoshihiros plötzlicher Unfalltod riss nicht nur das Paar brutal auseinander, sondern stürzte die Familie und Yoshihiros Ex-Freundin Sarah mit ins Unglück. Ein Jahr ist seit dem Tod vergangen und langsam regenerieren sich Marie und Shibami von dem Schock. Insbesondere da die US-Amerikanerin Sarah sich eventuell wieder in Japan befindet.

        „Eine geheimnisvolle Erfahrung“ hat Fumi: Jeden Abend betrinkt sie sich und hört dann beim Einschlafen eine liebliche Melodie. Ihr ist, als ob sie von jemandem gerufen würde. Kann es sein, dass es Haru ist, mit der sie gleichzeitig eine Freund- und Feindschaft verbunden hatte, als sie beide den gleichen Mann umgarnten?

        „Dornröschchenschlaf“ besticht durch seine blumige Sprache und übersinnliche Phänomene aus der japanischen Geisterwelt. Leider rutscht der Stil in der ersten Erzählung etwas zu sehr in Richtung Jugendsprache. Doch schließlich und endlich ist „Dornröschenschlaf“ ein herzerwärmendes, typisches Banana Yoshimoto-Buch, von deren Sorte es eigentlich gar nicht genug geben kann.

        Samstag, 11. Juni 2011

        „Tsubaki“ von Aki Shimazaki

        „Tsubaki“ ist die japanische Kamelie und die Lieblingsblume der Protagonistin Yukiko in Aki Shimazakis erstem Roman, den sie auf Französisch verfasste. Yukiko ließ nach dem Atombombenabwurf auf ihre Heimatstadt Nagasaki Japan hinter sich und gründete im Ausland eine kleine Familie. Ihre Vergangenheit in Japan bleibt bis zu ihrem Tod nahezu im Dunkeln. Erst durch einen Abschiedsbrief erfährt ihre Tochter mehr über das Familienleben in Nagasaki und dem unheilvollen Tag des Atombombenabwurfs.

        Auf nur 111 Seiten spinnt Aki Shimazaki eine Familientragödie um verbotene Liebe, Familienbande, Normen, Manipulation, Betrug und einen Mord, der aufgrund des Atombombenabwurfs niemals entdeckt wurde. Mehr sei an dieser Stelle nicht über die Handlung vorweggenommen.

        Der Erzählstil ist schnörkellos, fast schon distanziert. Schade nur, dass die Autorin sich nicht doch noch etwas mehr dem Thema Sühne und Schuld gewidmet hat. Trotz des tollen Plots wirkt die Geschichte so noch etwas schwach auf der Brust.

        Nichtsdestotrotz macht „Tsubaki“ und sein versöhnliches Ende Lust auf die weiteren Bücher von Aki Shimazaki. Die im Kunstmann Verlag erschienenen Werke sind ohnehin auch optisch kleine, liebevolle Kunstwerke, denen die Abbildungen hier nicht gerecht werden können.

        Freitag, 10. Juni 2011

        Aki Shimazaki

        Aki Shimazaki wurde 1954 in Gifu als Tochter eines Landwirts geboren. Bereits als Jugendliche begeisterte sie sich für Literatur. Diese Passion blieb ihr auch während ihrer Arbeit als Grundschullehrerin erhalten. 1981 wanderte Aki Shimazaki nach Kanada aus. Sie lebte in Vancouver und Toronto, bevor sie sich 1991 in Montreal niederließ. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie als Japanisch-Lehrerin und Übersetzerin.

        Aki Shimazaki schreibt ihre Romane auf Französisch. In einer Sprachschule entdeckte sie den Roman „Le Grand Cahier“ von Agota Kristof und begeisterte sich für den simplen Sprachstil der Autorin. Auch aus Sprachübungszwecken begann Aki Shimazaki ihren Roman „Tsubaki“ auf Französisch. Ihr minimalistischer Schreibstil ist unter anderem auch von Haikus inspiriert.

        Aki Shimazaki wählt den Titel ihrer Romane primär nach dem Klang im Ohr eines Franzosen aus und dies bevor sie zu schreiben beginnt. Dies ist wohl auch der Grund, weswegen die Titel im Deutschen nicht übersetzt wurden.

        Interessante Links:

        Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert: 

        Mittwoch, 8. Juni 2011

        „Der zerbrochene Schmetterling“ von Yoko Ogawa

        „Der zerbrochene Schmetterling“ umfasst zusammen mit „Schwimmbad im Regen“ die ins Deutsche übersetzten Erzählungen von Yoko Ogawa. „Der zerbrochene Schmetterling“ enthält drei Erzählungen mit je circa 60 Seiten Umfang:

        „Das Schwimmbecken“ und „Das vollkommene Krankenzimmer“ weisen einige Parallelen auf: Beide Protagonistinnen begeistern sich für nasse Männer. In beiden wird das seltsame Schicksal eines Kindes, dessen Eltern ein Waisenhaus leiten, geschildert: Obwohl das Kind Eltern hat, ist es vom Schicksal härter geschlagen als die Waisenkinder. Diese haben die Chance, das Waisenhaus zu verlassen und von einer „richtigen“ Familie aufgenommen zu werden. Nur das leibliche Kind der Heimleitung wird immer ein Kind des Waisenhauses bleiben. Und beide Erzählungen räumen verschimmelten Lebensmitteln einen gewissen Platz ein.

        Trotzdem werden sehr unterschiedliche Handlungsstränge gesponnen: „Das Schwimmbecken“ ist die Geschichte von Aya, die im von ihren Eltern geführten Waisenhaus aufwächst. Aya ist unglücklich verliebt in Jun – und lässt an dem Kleinkind Rie ihre Unzufriedenheit aus.

        In „Das vollkommene Krankenzimmer“ wird der todkranke Bruder der Protagonistin eingeliefert, um seine letzten Monate zu verleben. Erst durch die Krankheit kommt die namenlose Protagonistin ihrem Bruder nahe, während sie und ihr Ehemann sich fast nichts mehr zu sagen haben.

        „Der zerbrochene Schmetterling“ stellt die Realität in Frage: Ist die Welt eines senilen Menschen real oder leben nur die Gesunden in der Realität?

        Wie auch schon im „Schwimmbad im Regen“ startet „Der zerbrochene Schmetterling“ mit der stärksten Geschichte. In jeder Erzählung lauern die typischen Yoko Ogawa-Schauer: Ameisen auf der Erdbeertorte; Rie, die einen verdorbenen Windbeutel vorgesetzt bekommt; Eintopf, der wie faulendes Blut aussieht und aus den Mundwinkeln des Ehemanns tropft. Damit ist „Der zerbrochene Schmetterling“ das unappetitlichste Buch von Yoko Ogawa. Dennoch lässt es einen nicht mehr los: Yoko Ogawas schnörkelloser Erzählstil und die verschrobenen Charaktere stehen für ein Lesevergnügen der schaurig-schönen Art.

        Montag, 6. Juni 2011

        „Blaue Linien auf transparenter Haut“ von Ryu Murakami

        Gegen Ryu Murakamis „Blaue Linien auf transparenter Haut“ wirkt „Fear and Loathing in Las Vegas“ wie der Schulausflug von Fünftklässlern. Drogenexzesse, übelste Trips, Gruppensex, Crossdressing, Schlägereien und Selbstmordversuche sind die Zutaten für das literarische Debüt von Ryu Murakami, das in den 70er Jahren spielt. Teilweise wird der 141-seitige Roman so eklig, dass man am liebsten nicht weiter lesen würde. Kein Wunder, dass Ryu Murakami als das Enfant Terrible der japanischen Literaturszene gilt.

        Die  Jugendlichen rund um den 19-jährigen Protagonisten Ryu sind desillusioniert: Okinawa ist Junkie, hängt so an der Nadel, dass er sich mit einem baldigen Drogentod abfindet. Die Mädchen der Clique würden sich für Geld an jeden GI der nahe gelegenen US-Militärbasis verkaufen. Kei lässt sich als Bondage-Modell ablichten. Yoshiyama schlägt seine Freundin krankenhausreif. Und Ryu lässt sich als Sexspielzeug missbrauchen. Ohnehin schläft jeder mit jedem. Hauptsache, man muss sich keine Spießigkeit vorwerfen lassen.

        Wirkliche Freundschaft gibt es nicht zwischen den Teens. Jeder bleibt sich selbst der nächste. Dennoch klingen auch konservative Töne an: Eine feste Beziehung haben, eine Ausbildung machen, einen Lebenssinn außerhalb der permanenten Drogenparty finden sind Wünsche, die gegen Ende des Romans geäußert werden. Doch irgendwie mag man als Leser nicht daran glauben, dass die Jugendlichen noch die Kurve kriegen.

        Wie „69“ hat „Blaue Linien auf transparenter Haut“ biographische Züge. Wie groß die Deckungsgleichheit des Protagonisten Ryu mit dem Autor Ryu Murakami lässt sich nur erahnen.

        „Blaue Linien auf transparenter Haut“ verbreitet die drückende Stimmung eines schwülen Sommertags. Man erträgt die Handlung kaum, kann aber doch nicht aufhören, zu lesen. Für einen Ryu Murakami-Fan ist „Blaue Linien auf transparenter Haut“ ein Muss. Unter 18 Euro ist das vergriffene Büchlein derzeit jedoch nirgends zu bekommen.

        Sonntag, 5. Juni 2011

        „Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt“ von Taichi Yamada

        Taichi Yamadas „Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt“ erzählt die fantastischen Geschehnisse von nur wenigen Monaten im Leben des Herrn Taura. Alles beginnt damit, dass der depressive Protagonist sich im Alter von 47 Jahren aus dem zweiten Stock eines Sushi-Restaurants stürzt, sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzieht und im Krankenhaus liegt. Dort hat er eine übersinnliche Vision: In der Nähe wird ein Zug entgleisen. Und tatsächlich: Der Zug verunglückt, die Krankenhauszimmer werden knapp und Herr Taura muss sich aus Platzmangel ein Zimmer mit Mutsuku teilen, die aber darauf besteht, mit einem Paravent abgeschirmt zu werden. In der Nacht haben Herr Taura und Mutsuko Verbalsex, während sie sich selbst befriedigen. Als Herr Taura am nächsten Morgen wieder in ein anderes Zimmer verlegt wird, kann er einen kurzen Blick auf Mutsuko erhaschen – und ist entsetzt: Die grauhaarige Mutsuko muss schon weiter über 60 Jahre alt sein. Die letzte Nacht ist ihm vor diesem Hintergrund sehr peinlich.

        Kurz nach seiner Genesung wird Herr Taura zurück nach Tokio versetzt und tut seinen Dienst in der Abteilung, in die die psychisch labilen Mitarbeiter abgeschoben werden. Karriereambitionen kann er ab sofort vergessen.

        Währenddessen ist seine Ehefrau vom Erfolg verwöhnt: Nachdem die gemeinsamen Kinder flügge geworden sind, macht sie sich mit einer eigenen Stadtteilzeitung selbstständig und kann sogar Angestellte beschäftigen. Herr Taura fühlt sich minderwertig und entfremdet sich zusehends von Sohn und Ehefrau.

        Unversehens meldet sich Mutsuko bei ihm, um ein Wiedersehen zu arrangieren. Herr Taura ist von diesem Ansinnen so gar nicht begeistert: Ihm steckt die Peinlichkeit ihrer ersten Begegnung noch in den Knochen. Obwohl er ein Treffen ablehnt, läuft er Mutsuko auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in die Arme. Sie scheint um mindestens 20 Jahre jünger als im Krankenhaus und spricht von einer Verjüngung. Herr Taura ist baff: Geht das mit rechten Dingen zu? Und warum kann er in Mutsukos Gegenwart wieder so gut französisch und englisch sprechen wie zu Studienzeiten; sich an vor langer Zeit gelesene Gedichte erinnern?

        Übersinnliches geschieht in Taichi Yamadas „Lange habe ich nicht vom Fliegen geträumt“; das Ende bleibt offen. Die Figur des Herrn Taura in einer späten Midlifecrisis ist ein sympathischer Anti-Held. Doch seine Liebe zu Mutusko kann man als Leser nur bedingt nachvollziehen: Sind es nicht eher die Schönheit Mutuskos und der Wunsch, aus seinem faden Dasein auszubrechen, die ihn so an ihr faszinieren?

        Samstag, 4. Juni 2011

        „Warten auf die Sonne“ von Hitonari Tsuji

        „Warten auf die Sonne“ von Hitonari Tsuji ist ein geradezu magischer Roman, der die Schicksale verschiedenster Menschen zu einem schlüssigen Gesamtkunstwerk bündelt:

        Shiro ist Patinierer beim Film. Doch die Dreharbeiten geraten ins Stocken – denn der Regisseur wartet für eine bestimmte Szene auf die optimale Sonne, die sich einfach nicht zeigen will. Währenddessen wird Shiro in die verbrecherischen Machenschaften seines älteren Bruders Jiro hineingezogen. Jiro hat einer gefährlichen Organisation etwas Wichtiges entwendet, wurde dann aber angeschossen und liegt nun im Koma. Der Yakuza Fujisawa heftet sich jetzt an Shiros Fersen – Shiro soll das Diebesgut unter Androhung von Gewalt aufspüren und zurückbringen. Fujisawa ist halb Japaner, halb US-Amerikaner. Seinen Vater konnte er nie kennen lernen, denn der US-Pilot wurde kurz vor dem Abwurf der Atombombe in Hiroshima als Kriegsgefangener eingesperrt. In vollem Wissen über die nahende Katastrophe versucht er, wenigstens eine handvoll Menschen zu retten, wenn schon er selbst dem sicheren Tode geweiht ist. Doch auch der Regisseur Inoue trägt eine traumatische Kriegserfahrung mit sich, die er als sein letztes Vermächtnis verfilmen will.

        „Warten auf die Sonne“ ist ein rasanter und spannender Roman über tragische Liebe, Lebenslust, die Macht der Erinnerungen und die Grausamkeiten des Krieges. Hitonari Tsuji verkettet die Protagonisten auf verschiedenen Erzählebenen: Der Ich-Erzähler Shiro präsentiert die Geschehnisse des Jahres 1999. Der Leser erlebt zudem die begrenzte (Alp-)Traumwelt des im Koma liegenden Jiros (ähnlich wie bei Haruki Murakamis „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“). Die Geschichte der letzten Tage des US-Piloten in Hiroshima wird in Form von Tagebucheinträgen dargestellt. Verschiedene Personen berichten häppchenweise das Schicksal des Regisseurs Inoue. Und auch Fujisawas Historie als „Weißer“ in Japan wird erzählt. Viele Geschichten, doch verknüpft sind sie alle durch die Faszination für die Sonne, die das Leben und Sterben der Menschen begleitet.

        Meine einzigen kleinen Kritikpunkte: Der Ich-Erzähler und Patinierer Shiro lässt sich zwischendurch etwas zu sehr über seinen Beruf aus. Und die Sex-Szenen kommen ein bisschen arg gestelzt à la "ich umfing ihren Körper" rüber.

        Leider ist „Warten auf die Sonne“ hierzulande ein recht unbekannter Roman, der zwischenzeitlich vergriffen ist. Einige Restexemplare des Hardcovers kann man sich derzeit aber noch bei Jokers günstig sichern.

        Donnerstag, 2. Juni 2011

        „Herr Nakano und die Frauen“ von Hiromi Kawakami

        „Herr Nakano und die Frauen“ von Hiromi Kawakami ist nicht die Geschichte von Herrn Nakano, sondern die der Protagonistin Hitomi. Hitomi ist in Herrn Nakanos Trödelladen beschäftigt und nähert sich langsam mit ihrem schüchternen, etwas tölpelhaften Kollegen Takeo an. Der Roman lebt von seinen Gegensätzen: Herr Nakano und seine Schwester Masayo reden unbefangen über Liebe und Sex, haben Affären, verletzen ihre Partner und versöhnen sich. Hitomi und Takeo dagegen tasten sich ganz zaghaft aneinander heran, wissen mit dem anderen eigentlich auch nichts so recht anzufangen. Während für Herrn Nakano und Masayo Sexualität ein ganz normales Gesprächsthema wie das Wetter ist, sind Hitomi und Takeo geradezu asexuell.

        Dank der Schrulligkeit von Herrn Nakano, der jeden Satz am liebsten mit „Und überhaupt…“ beginnt, wird „Herr Nakano und die Frauen“ an keiner Stelle langweilig, auch wenn der Roman keine großmächtige Handlung transportiert. Herrn Nakanos Laden in Tokio ist eher eine Oase der Beschaulichkeit: Kunden kommen und gehen, bringen ihre Lebensgeschichte mit. Umsatz spielt keine große Rolle. Die Angestellten pflegen mit ihrem Chef und dessen Schwester einen familiären Umgang. Eben ein altmodischer Trödelladen, wie er im Buche steht.

        Der Roman plätschert leicht dahin, wenn Herr Nakano und Takeo bei einem Yakuza eine Samurai-Rüstung abholen. Wenn Hitomi von einem in die Jahre gekommenen Herzensbrecher unmoralische Fotos zum Ankauf vorgelegt bekommt. Wenn Herrn Nakanos Geliebte Sakiko eine verfluchte Schale in ihre Obhut nimmt.

        Ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist, dass wörtliche Rede manchmal in Anführungszeichen steht und manchmal überhaupt nicht gekennzeichnet wird. Das stört etwas den Lesefluss.

        Ansonsten ist „Herr Nakano und die Frauen“ aber ein sehr gelungenes und unterhaltsames Buch: Würde der Laden des Herrn Nakano tatsächlich existieren, wär ich schon längst Stammkunde.