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Sonntag, 28. September 2014

Ume Kajima

Ume Kajima wurde 1903 als Tochter von Seiichi Kajima, dem Inhaber der Kajima Corporation, in Tokio geboren. Da Seiichi keine Söhne hatte, wurde der Diplomat Morinosuke als Ehemann für Ume von der Familie adoptiert. Der Sohn von Ume und Morinosuke leitete die Firma bis in die 1990er.

Ume Kajima veröffentlichte einige Bücher und betätigte sich als Übersetzerin. Sie war zudem Präsidentin des Kajima-Friedensforschungsinstituts und Vorstandsmitglied von Unicef Japan. 1972 kam sie einer Einladung von Bundespräsident Walter Scheel nach und bereiste Deutschland (inklusive der Erwin Bälz-Heimatstadt Bietigheim-Bissingen).

Wann und wie Ume Kajima starb, ließ sich für mich leider nicht ausfindig machen.

Interessante Links:
  • Offizielle Homepage des Kajima Institute of International Peace

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Samstag, 27. September 2014

„Eine Braut zieht flussabwärts“ von Sawako Ariyoshi

Eine Braut darf niemals zu einem Ehemann flussaufwärts ziehen, sonst ist Unheil im Verzug. Sie muss dem natürlichen Flusslauf folgen, um Glück in der Ehe zu finden, so sagt Großmutter Toyono, die ihre Enkelin Hana Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in die Familie Matani mit dem ältesten Sohn Keisaku verheiratet.

Für die Ausbildung von Hana hat Toyono keine Kosten und Mühen gescheut. Hana hat sowohl die höhere Mädchenschule absolviert als auch eine klassische Ausbildung erfahren. Neben perfekten Fertigkeiten in Kotospiel, Kalligraphie und Teezeremonie bringt Hana mit ihrer Schönheit alles mit, was man von einer idealen Ehefrau erwarten kann. Die Heiratsangebote sind daher vielfältig. Umso schwerer fällt die Auswahl, denn nicht nur Stand, Reichtum und Charakter des potenziellen Ehemanns müssen berücksichtigt werden, sondern auch der Aberglaube, der Toyono einige Kandidaten ablehnen lässt.

Die Wahl fällt schließlich auf Keisaku, der eine große politische Karriere vor sich hat. Der Abschied von Toyono fällt Hana zwar schwer, aber als perfekte Ehefrau will sie sich ganz ihrer neuen Rolle in der Familie der Matanis einfinden.

Das erste der drei Kapitel in Sawako Ariyoshis „Eine Braut zieht flussabwärts“ widmet sich Hanas ersten Ehejahren. Im zweiten Kapitel sorgt ein Wirbelwind in Form von Hanas Tochter Fumio für Aufregung. Fumio lebt nach dem Vorbild emanzipierter Frauen und will von einer traditionellen Mädchenausbildung nichts wissen. Sie setzt sich sogar durch, in Tokio zu studieren und eine Liebesheirat einzugehen. Damit opponiert sie in jeder Hinsicht gegen ihre Mutter Hana.

Das dritte Kapitel schlägt versöhnlichere Töne an: Hanako, Tochter von Fumio und Enkelin von Hana, ist im Ausland aufgewachsen, kehrt aber während des zweiten Weltkriegs zusammen mit ihrer Familie nach Japan zurück. Zu ihrer Großmutter entwickelt sie besonders viel Zuneigung.

Sawako Ariyoshis Roman „Eine Braut zieht flussabwärts“ zeigt das japanische Rollenverständnis der Frau im Wandel. Das gelingt ihr sehr anschaulich, wenn auch enorm überspitzt. Dadurch beginnt einen die Protagonistin Hana langsam zu nerven. In jeder Situation ist sie einfach perfekt, jeder verehrt sie, jeder liebt sie (insbesondere ihr Schwager, der sie zwar recht schroff behandelt – aber eben nur, weil er in sie verliebt ist). Und auch Fumio wird einem so gar nicht sympathisch. Sie wirkt eher wie eine inkonsequente, verzogene Kratzbürste. Hanako bleibt dagegen recht blass. Trotzdem liest sich der Roman sehr flüssig und er zieht den Leser in vergangene Tage in Japan hinein.

Bibliographische Angaben:
Ariyoshi, Sawako: „Eine Braut zieht flussabwärts“ (Übersetzung: Dill, Marion), Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-15833-7

Mittwoch, 24. September 2014

„Japan erzählt“ herausgegeben von Margarete Donath

Einen schönen Überblick über die japanische Literatur bietet der Band „Japan erzählt“, der von Margarete Donath herausgegeben wurde – insbesondere durch das Nachwort der Herausgeberin, das erklärt, warum welche Autoren ausgewählt wurden.

Ryunosuke Akutagawas „Der Faden der Spinne“ macht den Anfang in „Japan erzählt“. Der Autor stellt ein Bindeglied zu vielen anderen in dem Band vertreten Schriftstellern her, haben diese doch schließlich den Akutagawa-Literaturpreis erhalten oder wurden dafür nominiert. Ryunosuke Akutagawas Erzählung entführt in die buddhistische Hölle. Hier quält sich der Räuber Kandata im Blutteich. Buddha im Paradies erinnert sich an eine gute Tat des Räubers und schickt ihm den sprichwörtlichen seidenen Faden. Ist dies die Rettung Kandatas oder wird der Räuber die gebotene Chance nicht nutzen?

Junichiro Tanizaki ist mit seiner ersten Erzählung „Tätowierung“ vertreten, die dem Autor zu großer Bekanntheit verholfen hatte und die schließlich auch verfilmt wurde. Sadomasochismus und eine Femme fatale sind die Themen des Debütwerks: Der Tätowiermeister Seikichi pflegt seine Kundschaft mit seiner Nadel besonders gern zu quälen und ergötzt sich an dem Leid der Gepeinigten. Sein großer Wunsch ist es, die perfekte Frau mit einer Tätowierung zu schmücken. Durch Zufall soll diese in seine Wohnung gelangen. Es zeigt sich, dass die jugendliche Maid selbst für sadistische Anwandlungen zu haben ist. Seikichis Tätowierung lässt ihr ihre wahre Bestimmung bewusst werden.

Naoya Shiga stellt in „Die Verbrechen des Han“ die Frage nach Schuld und Unschuld: Der Zirkusartist Han hat vor versammeltem Publikum seine Ehefrau und Show-Partnerin beim Messerwerfen getötet. War es ein tragischer Unfall oder hat Han absichtlich auf den Körper seiner Frau gezielt? Schließlich lagen Han und seine Gemahlin schon lange im Streit. Doch selbst Han ist sich über seine bewussten und unbewussten Handlungen nicht im Klaren.

Yasushi Inoues „Ein Brief aus der Wüste“ ist an einen längst verstorbenen Freund des Ich-Erzählers gerichtet. Der Ich-Erzähler befindet sich fernab der Zivilisation in der Wüste Takla Makan. Als ihm ein Soldat anbietet, die Post nach Japan mitzunehmen, damit sie schneller ihr Ziel erreicht, kommt er ins Grübeln: Wem soll er denn bitte bloß einen Brief schreiben? Da kommt ihm sein verstorbener Jugendfreund ins Gedächtnis, der in ihm einst mit dem Gedicht

„Hart
klirren die Kieselsteine.
Es ist Herbst.“ (S. 38)

das Interesse an der Literatur geweckt hatte.

Mit „Der Bergasket“ nimmt Kenji Nakagami den Leser mit auf eine surrealistische Pilgerreise. Der Protagonist erlegt sich die Bergwanderung als Buße auf – hat er doch oftmals seine Frau geprügelt, die sich am liebsten von ihm trennen würde. Wie in einem Fieberwahn wird er Zeuge von metaphysischen Erfahrungen, die ihm hoffentlich zur Besserung verhelfen.

Tagelang fällt schon „Regen“ in Shotaro Yasuokas Erzählung. Der Ich-Erzähler hat das Wetter, das ihm in Mark und Bein kriecht, langsam satt. Das Geld ist fast zu Ende und so kauft er sich ein Hackebeil, um einen Einbruch zu begehen. Doch was er auch anstellt, um ein Verbrechen zu begehen – so richtig mag es nicht gelingen.

Yukio Mishima erzählt in „Rosinenbrot“ von dem Nihilisten Jack, der sich auf eine Party von Gleichgesinnten begibt, die sich an einem abgeschiedenen Strand tummeln. Es geht gar ekstatisch zu: Kongas werden geschlagen, archaische Tänze werden vollführt und ein lebendes Huhn wird der Tollheit geopfert. Zwar sind sich die versammelten Herrschaften einig, dass „die Welt ohne Sinn und alle Menschen minderwertig seien“ (S. 76), dennoch wird Jack als ein „durchsichtiger Kristall“ (S. 70) beschrieben und sieht die „Heiligung im Schmerz“ (S. 79). Soviel zu Minderwertigkeit und genereller Sinnlosigkeit – und Kohärenz in der Erzählung. Der zweite Teil der Erzählung findet in Jacks Wohnung statt: Jack liest Lautréamonts „Die Gesänge des Maldoror“, macht sich dann aber auf die ganz profane Suche nach Essbaren in seinem leeren Kühlschrank. Es findet sich ein Stück von Ameisen befallenem Rosinenbrot, das er noch kaut, als sein Kumpel Gogi in Jacks Bude aufkreuzt, um sich mit seiner neuen Freundin ein Stelldichein zu geben.

Die „Erdbeeren“, die der Mann der Autovertreterin Mieko Mizawa als Snack reichen mag, führen zu einer ungewöhnlichen und intimen Unterhaltung: Mieko muss die Erdbeeren ablehnen, denn die kleinen Kernchen würden unangenehm unter ihr Gebiss rutschen. Sie kommt in Erklärungsnot, als der Mann nachfragt, warum eine so junge Frau bereits keine Zähne mehr im Unterkiefer hat. Da erzählt sie von ihrem Ehemann und einer Freundin, beides Gebissträger, und dem Wunsch, den beiden nachzueifern. Junnosuke Yoshiyukis Erzählung ist geprägt von einer subtilen Erotik von Geheimnissen, Erdbeeren und roten Lippen.

Fumiko Enchi beschreibt in „Ahorn im Winter“ eine Frau im Herbst ihrer Jahre. Yoko ist ihr Name und als TV-Schauspielerin probt sie gerade ihre Rolle als alternde Frau, deren Tochter mit einem älteren Mann liiert ist. Das Bild eines Liebespaares mit großem Altersunterschied zieht sich als großes Thema durch die Erzählung. Während die Konstellation älterer Mann und jüngere Frau gesellschaftsfähig ist, ist die umgekehrte Variante verpönt bis unmöglich. Fumiko Enchi lässt dieses Beziehungsparadox unkommentiert stehen, weswegen die Erzählung erst im Nachklang zu sacken beginnt.

Die Autorin Ineko Sata, die der proletarischen Literaturbewegung angehörte, thematisiert in „Ihr eigenes Herz“ das Phänomen des O-miais: Fumiko soll verheiratet werden, hat aber wenig Lust auf eine arrangierte Hochzeit. Sie ist zwar eine gehorsame Tochter und geht auch brav auf die Treffen mit den Ehekandidaten, ihr ist jedoch das Gefühl zuwider, wie eine Ware taxiert zu werden. Ihre jüngere Schwester hat dagegen eine Liebesheirat durchgesetzt und damit gegen die Konventionen vor der älteren Schwester geheiratet. Auch ist ihr Umgang mit dem Ehemann weit weniger als üblich von patriarchalischen Werten gekennzeichnet.

Sawako Ariyoshi entführt den Leser in die kleine Bar „Laternchen“, die sich in einer Seitenstraße der Ginza befindet. Hier geht es relativ gemütlich zu: Die Räumlichkeiten sind so klein, dass die Bar mit nur wenigen Besuchern voll wirkt und die Mama gibt den Männern gleich das Gefühl, Stammgäste zu sein. Das Erfolgsrezept des „Laternchen“ lautet:

„In einer Bar, wo die Besitzerin kein guter Mensch ist, finden sich auch keine Gäste ein, denn Trinker sind unbestechlich.“ (S. 143)

Zwei Mädchen unterstützen die Mama, doch aus tragischen Gründen ist eine der Barmädchenstellen gerade vakant. Aus Gutmütigkeit nimmt die Mama die hypersensible Shizu bei sich auf. Ob ihr der Job im Laternchen gut tut?

Minako Oba lässt ihre Ich-Erzählerin in „Blauer Fuchs“ recht unkonventionell aus dem klassischen Rollenmuster fallen: Die konfuzianische Pietät gegenüber ihrem Vater ist ihr recht schnurz. Sie lebt mit ihrem Partner zusammen, den sie Grille nennt, geht aber mit dem blauen Fuchs eine Affäre ein, der ihr vor Jahren einen Heiratsantrag gemacht hat.

Mieko Kanais Erzählung „Platonische Liebe“, die dem gleichnamigen Erzählband entnommen ist, der 1979 mit dem Izumi-Kyoka-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, greift ein typisches Thema der Schriftstellerin auf: Das Selbstverständnis der Ich-Erzählerin, die Autorin ist, wird durch eine unbekannte Frau bedroht, die sich brieflich nach jeder Veröffentlichung der Protagonistin meldet und behauptet, die eigentliche Verfasserin der schriftstellerischen Werke zu sein. Die Ich-Erzählerin beginnt bald selbst an sich zu zweifeln. Ist sie wirklich eine Autorin oder nur eine Plagiatorin?

Auch das Sujet von Yuko Tsushimas „Heimlicher Handel“ ist ein recht typisches: Eine alleinerziehende Mutter sinniert über die Funktion von Tieren für Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Sind sie vielleicht sogar ein Vaterersatz?

Taeko Konos „Der Eisenfisch“ erzählt die traurige Geschichte einer Kriegswitwe. Kaum verheiratet wurde ihr Ehemann eingezogen – er sollte als maritimer Kamikaze in einem bemannten Torpedo sterben. Erst Jahrzehnte später stellt sich die Witwe der Vergangenheit, als sie zum Yasukuni-Schrein aufbricht, in dem ihr Mann angeblich als Gott verehrt wird. Es werden alte Wunden aufbrechen, als sie einen der tödlichen „Eisenfische“ in Realität sehen wird.

In Masuji Ibuses „Das Soldatenlied ‚Alte Kameraden’“ reflektiert Okuyama seine Erinnerungen an den Pazifik-Krieg. In seiner Funktion in einer Transporteinheit traf er auf Oberst Nishi, der kurze Zeit später sterben sollte. Über das Lied „Alte Kameraden“ hat Okuyama damals in bitterer Notlage gesprochen – in der Jetzt-Zeit wird dieses Lied für unlautere Zwecke missbraucht.

Kenzaburo Oe zeichnet mit „Stolz der Toten“ ein Stimmungsbild der Studenten der ausgehenden 50er Jahre: Es ist ein Leben der Hoffnungslosigkeit; die Studenten funktionieren einfach. Ein erneuter Krieg wird vielleicht alles endgültig in den Abgrund reißen. Als Metapher für die Sinnlosigkeit lässt Kenzaburo Oe seinen studentischen Protagonisten eine recht grauslige Aushilfstätigkeit verrichten: Er soll helfen, konservierte Leichen von einem Aufbewahrungsbecken in ein anderes umzulagern. Doch wie es sich zeigen soll, wird diese Mühe völlig umsonst sein.

„Japan erzählt“ aus den 90ern enthält drei für diesen Band neu übersetzte Erzählungen; vier wurden aus dem gleichnamigen Buch aus den 60ern entnommen. Die restlichen zehn Erzählungen stammen aus anderen Anthologien. Daher trifft man in „Japan erzählt“ auf viele bereits bekannte Werke, wenn man sich schon etwas mit japanischer Literatur auseinandergesetzt hat. Dennoch ist die Mischung sehr gelungen, auch wenn man die eine oder andere Erzählung in diversen anderen Anthologien ebenfalls findet und gegebenenfalls schon dort gelesen hat.

Bibliographische Angaben:
Donath, Margarete (Hrsg.): „Japan erzählt“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Benl, Oscar/Berndt, Jürgen/Brasch, Heinz/Donath, Diana/Donath, Margarete/Gössmann, Hilaria/Hijiya-Kirschnereit, Irmela/Gelbrich, Ekkehard/Gelbrich, Itsuko/Schaarschmidt, Siegfried & Yoshida-Krafft, Barbara), Fischer, Frankfurt/Main 1991, ISBN 3-596-10162-X

Sonntag, 21. September 2014

Mieko Kanai

Mieko Kanai erblickte 1947 in Takasaki, in der Präfektur Gumma, das Licht der Welt. 1966 schloss sie die Oberschule ihres Geburtsorts ab. Statt einen höheren Bildungsgrad anzustreben, widmete sich Mieko Kanai dem Schreiben. 1967 wurde sie für den Osamu Dazai-Literaturpreis nominiert, wurde jedoch nur Zweitplatzierte. Ihre Erzählung wurde dennoch in einer bekannten Literaturzeitschrift publiziert. 1968 Jahr erhielt sie einen Poesie-Preis. 1970 wurde Mieko Kanai für den Akutagawa-Preis nominiert. 1979 erhielt sie den Izumi Kyoka-Literaturpreis. 1985 publizierte Mieko Kanai ihren ersten Roman.

Eines ihrer Hauptmotive ist „der imaginierte Andere“: Der Ich-Erzähler muss sich gegen eine andere Person behaupten, der den Wirklichkeitsanspruch des Erzählers bedroht.

Die Autorin und Kritikerin Mieko Kanai lebt eher zurückgezogen in Tokio.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert:

Freitag, 12. September 2014

„Stille Tage“ von Kenzaburo Oe

„Stille Tage“, ein zurückgezogenes Leben zusammen mit einem potenziellen Ehemann und ihrem behinderten Bruder I-Ah möchte Kenzaburo Oes Protagonistin Ma-chan am liebsten leben. Doch ihr Vater K. befindet sich gerade in einer Lebenskrise und braucht Luftveränderung. Daher bricht er zusammen mit seiner Frau in die USA auf. I-Ah bleibt in der Obhut der Studentin Ma-chan. Der jüngste Sohn O-chan lernt währenddessen fleißig für Aufnahmeprüfung an der Universität und überlässt die Hausarbeit als auch die Betreuung von I-Ah Ma-chan.

Hinter K. steckt freilich der Autor Kenzaburo Oe selbst. I-Ah ist nur ein Spitzname, Hikari heißt der Charakter offiziell und daher genauso wie Kenzaburo Oes behinderter Sohn. Aus der Ich-Perspektive lässt Kenzaburo Oe seine Tochter über die Zeit berichten, die seine Kinder allein in Japan verbringen. So begleitet Ma-chan I-Ah zur Behindertenwerkstatt, zu seinem Klavierlehrer und zum Schwimmunterricht. Gemeinsam fahren die beiden Geschwister aufs Land, um ihren Vater bei der Beerdigung seines älteren Bruders zu vertreten.

Hinzu kommen Themen, die man neben dem biographischen Schwerpunkt des behinderten Sohnes ebenfalls aus anderen Kenzaburo Oe-Romanen kennt: Auch in „Stille Tage“ wird gern über Literatur (wieder mal am Start ist der unvermeidliche Yates, aber auch Blake, Celine und Ende) philosophiert. Der Deutung des Films „Stalker“ von Tarkowski wird fast ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem Ma-chan unter anderem Parallelen zwischen einer Filmfigur und ihrem Bruder I-Ah thematisiert. Dann ist da freilich die Krise des K., ein zurückliegender Skandal und eine daraus entstandene Feindschaft, wegen der der Roman gegen Ende hin noch etwas Fahrt aufnimmt.

Etwas nervig wirkt in „Stille Tage“ das reichlich überstrapazierte Stilmittel, Worte kursiv zu setzen. Wird über K.s Krise gesprochen, wird der Begriff kursiv gesetzt. Wird über O-chan gesprochen, wird dessen Lieblingswendung „für alle Fälle“ an jeder noch halbwegs passenden Stelle kursiv eingeschoben. Das mag vielleicht noch ein netter Einfall sein, denn K. kennzeichnet gerade die Krise, der patente O-chan ist für alle Fälle gewappnet. Aber auch bei trivialen Aussagen wird die Kursivsetzung immer wieder angewendet, wie z.B. hier:

„Dieser Badeanzug hätte – zu[.] einer Zeit, in der so etwas modern war, und am rechten Ort getragen – bestimmt hervorragend ausgesehen.“ (S. 191)

Insgesamt wirkt die Tonalität des Romans etwas unpassend für eine junge Studentin. Sie ist von einer intellektuellen Schwere, die eher zu dem krisengebeutelten K. passen würde. Dadurch kann man sich mit der Ich-Erzählerin nicht sonderlich anfreunden. I-Ah dagegen erscheint einem umso sympathischer:

„‚[…] aber Ma-chan ist doch eine beachtliche Persönlichkeit, nicht wahr, I-Ah?’
‚Ist das etwas Gutes?’ vergewisserte sich mein Bruder vorsichtig.
‚Das Beste’, antwortete Frau Shigeto, und Herr Shigeto setzte wieder seine ernsthafte Miene auf.
‚Ich finde auch, dass Ma-chan eine beachtliche Persönlichkeit ist.’, sagte I-Ah.“ (S. 94)

Aufschlussreich an „Stille Tage“ ist sicherlich, dass der Autor dem Leser offenbart, dass er dazu neigt, bei Krisen ins Ausland Reißaus zu nehmen und sich dort die Krise von der Seele zu schreiben. Auch seine Einstellung zu Religion wird beleuchtet. Insgesamt quält man sich aber etwas durch „Stille Tage“, wenn man sich nicht ausgerechnet für Kenzaburo Oes Deutung des Films „Stalker“ interessiert...

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Stille Tage“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schlecht, Wolfgang E. & Gräfe, Ursula), Insel, Frankfurt/Main 1994, ISBN 3-458-16686-6

Montag, 8. September 2014

„Überseezungen“ von Yoko Tawada

„Überseezungen“ – bereits der Titel von Yoko Tawadas Werk ist bedeutungsschwanger: „Übersetzungen“, „Über Setzungen“, „Über Seezungen“, „Übersee Zungen“… Das Versprechen des vieldeutigen Titels wird auch eingehalten: Die Wortakrobatin Yoko Tawada präsentiert ihre Lieblingsdisziplin der Jonglage in manchmal verspielter und manchmal surrealistischer Art und Weise. Sie spielt mit Worten, dem Alphabet, Schriftzeichen, Redewendungen, Sprachen, (nationalen) Identitäten und Geschlechterrollen.

So definiert sie in „Ein chinesisches Wörterbuch“ den Begriff des Kinos als „Institut für elektrische Schatten“ oder das Adjektiv schwindelerregend als „in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht“ (S. 31).

In „Bioskoop in der Nacht“ wird die Ich-Erzählerin, die als Japanerin in Deutschland ständig gefragt wird, in welcher Sprache sie denn träume, endlich erfahren, was das denn für eine urige Sprache ist, in der sie tatsächlich träumt. Obwohl sie noch nie in Südafrika war, ist ihre Traumsprache Afrikaans. Dafür hat sie auch eine plausible Begründung. Denn wenn man in der Sprache des Landes träumt, in dem die Seele wohnt, dann antwortet die Ich-Erzählerin:

„Ich habe viele Seelen und viele Zungen.“ (S. 70)

Mit „Die Ohrenzeugin“ webt Yoko Tawada einen Klangteppich, den sie in einem Universitätsgebäude in Cambridge auslegt. Hier werden allerhand (Fremd-)Sprachen geplappert, Tastaturen klappern vor den Computern, Schuhe dagegen auf dem Gang und natürlich analysiert die Ich-Erzählerin in der Fremde ihr Verhältnis zur Muttersprache im Vergleich zum Deutschen, der später angeeigneten Sprache:

„Ich war also ins Japanische hineingeboren worden, wie man in einen Sack hineingeworfen wird. Deshalb wurde diese Sprache für mich meine äußere Haut. Die deutsche Sprache jedoch wurde von mir hinuntergeschluckt, seitdem sitzt sie in meinem Bauch.“ (S. 103)

Yoko Tawada zeichnet auch ein „Porträt einer Zunge“: In den USA freundet sie sich mit P an; einer Deutschen, die schon lange Zeit im Ausland lebt. P vermischt englische Begriffe mit deutschen; benutzt deutsche Begriffe, die in Deutschland kaum mehr Verwendung finden und weiht die Ich-Erzählerin in englischsprachige Begriffe ein. Dennoch spricht P mit Akzent, was auch sicherlich gut ist, denn:

„Der Akzent bewahrt die Erinnerungen an die Muttersprache auf. Ohne den Akzent könnte man von den Gegenwart der Fremdsprache verschluckt werden.“ (S. 135)

14 längere und kürzere Erzählungen, Kurzgeschichten und Notizen umfasst „Überseezungen“. Bei der Lektüre sollte man sich Zeit lassen und sich die Texte wahrlich auf der (Übersee-)Zunge zergehen lassen. Yoko Tawadas Werke sind einfach immer wieder ein Lesegenuss!

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Überseezungen“, Konkursbuch, Tübingen 2002, ISBN 3-88769-186-5

Montag, 1. September 2014

„Kyoto“ von Yasunari Kawabata

Im Garten der Familie Sata steht ein Ahornbaum, an dessen Stamm zwei Veilchenbüschel wachsen. Die junge Chieko steht jedes Jahr im Frühling erneut vor den Blumen und fragt sich, ob die Veilchen jemals zueinander finden mögen. Es zeigt sich, dass diese Sehnsucht nach dem Zusammenfinden zweier getrennter Seelen für Chieko eine besondere Bedeutung hat. Denn obwohl Chiekos Mutter darauf besteht, sie hätte Chieko als Baby entführt, weiß es Chieko besser: Sie wurde als Findelkind vor dem Geschäft der Satas aufgefunden und von dem kinderlosen Ehepaar Sata liebevollst aufgezogen. An einem Festtag in Kioto schließlich trifft Chieko auf die junge Arbeiterin Naeko, die ihr wie ein Ei dem anderen gleicht. Die hübsche Chieko wird von mehreren jungen Männern umgarnt, was zu kleinen Verwirrungen führt, als Naeko für Chieko gehalten wird.

Yasunari Kawabata bettet diese Geschichte in die Feste und Festivitäten von Kioto und dessen Umkreises ein. So geht Chieko mit ihrem Jugendfreund Shinichi, der als Kind einen Pagen auf dem Hellebardenwagen des Gion-Festes verkörpert hat, zur Blütenschau in den Heian-Schrein. Chiekos Vater Takichiro liebt das Fest des Bambusschneidens im Kurama-Tempel. Zum Gion-Fest sollen sich Chieko und Naeko treffen, als Naeko einen Bittgang für die Götter des Yasaka-Schreins ausführt. Das Daimonji-Fest im August mit dem heiligen Bon-Feuer wird Chieko dagegen leider verpassen – sie ist traurig, da sie durch Naeko erfahren hat, dass ihre leiblichen Eltern bereits verstorben sind und bleibt lieber zu Hause. Zum Epochenfest trifft sich Naeko mit einem von Chiekos Verehrern. Zum Abschluss des Kitano-Tanzfestes verschlägt es Chiekos Vater Takichiro seit längerer Zeit wieder einmal in ein Teehaus.

Das Nachwort von Jürgen Berndt verortet Yasunari Kawabatas „Kyoto“ in einer Zeiterscheinung der 60er Jahre: Japan befindet sich in einer Suche nach nationaler Identität. Man besinnt sich auf alte kulturelle Werte, was im Extrem zu neuen nationalistischen Tendenzen führen wird. Kioto als alte Hauptstadt, die nicht unter Kriegsbombardement zu leiden hatte, ist das Symbol für die Besinnung auf die alte japanische Tradition. So scheint Yasunari Kawabata mehr der alten Hauptstadt ein Denkmal setzen zu wollen, als eine Liebes- oder Familiengeschichte erzählen zu wollen.

Trotz der vielen Feste findet sich aber leider kein Zauber in der Beschreibung Kiotos im Wechsel der Jahreszeiten. Auch wirkt das Zusammentreffen von Chieko und Naeko nicht so herzlich, wie man es sich hätte vorstellen können. Dazu trägt sicherlich auch die Übersetzung bei, die Naeko Chieko in der dritten Person anreden lässt – und dies obwohl der Kurzroman in den 60er Jahren angesiedelt ist. Auch geht freilich der Kioto-Dialekt verloren, der die direkte Rede im japanischen Original prägt. Vielleicht evoziert das Werk im Japanischen und bei Japanern mit entsprechendem Hintergrundwissen wirklich die Anziehungskraft und den Liebreiz der alten Hauptstadt – im Deutschen liest sich „Kyoto“ jedoch eher etwas sperrig.

Bibliographische Angaben:
Kawabata, Yasunari: „Kyoto“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Donat, Walter/Yuzuru, Kawai), Reclam, 1974 Leipzig