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Donnerstag, 7. November 2019

"Der Revolver" von Fuminori Nakamura

Fuminori Nakamuras "Der Revolver" ist die Geschichte einer Besessenheit: Der Student und Protagonist Nishikawa findet an einem schauerlichen Regentag unter einer Brücke einen Revolver - neben einem mutmaßlichen Selbstmörder aus dem Yakuza-Milieu. Der Revolver zieht in magisch an und so entwendet Nishikawa die Waffe kurzerhand vom Tatort. Zu Hause genießt er es, den Revolver zu berühren, ergötzt sich an der funktionalen Schönheit des Werkzeugs des Todes.

Allein durch den Besitz des Revolvers nimmt Nishikawas Leben neue Fahrt auf. Der Revolver wirkt auf ihn wie eine Droge, die ihn high macht und den ehemals faden Alltag glänzen lässt.

Doch irgendwann drängt es ihn, einen Schritt weiter zu gehen: Wann und wie lässt sich ein Abfeuern der Waffe denn endlich realisieren? Nishikawa merkt sehr wohl, dass er von dem Revolver besessen ist. Doch er vermag nicht, sich von ihm zu trennen. Zu schrecklich ist die Vorstellung, dass er in sein früheres, langweiliges Leben zurückkehren müsste, wenn er den Revolver nicht mehr sein Eigen nennen könnte.

Die Bestimmung der Waffe, zum Töten verwendet zu werden, dringt immer stärker in Nishikawas Bewusstsein. Wird sich Nishikawa gegen die Macht des Revolvers behaupten können?

Die Lektüre von Fuminori Nakamuras "Der Revolver" hat Spaß gemacht. Ein Nobody gerät in den Sog einer gefährlichen Macht. Wird es ihm gelingen, sich zu retten? Auch wenn der Roman nur partiell spannend ist, überträgt sich ein gewisses Flirren von Nishikawas Besessenheit auch auf den Leser. Und das Ende des Romans: sensationell!

Bibliographische Angaben:
Nakamura, Fuminori: "Der Revolver" (Übersetzung aus dem Japanischen: Eggenberg, Thomas), Diogenes, Zürich 2019, ISBN 978-3-257070613

Freitag, 1. November 2019

"2" von Hideo Yokoyama

Wer Hideo Yokoyamas "64" bereits gelesen hat, wird sich denken können, dass das Label  "Thriller", das der Atrium Verlag aufs Cover gesetzt hat, wohl auch diesmal wieder nur bedingt zutrifft. Den Titel "2" darf man wörtlich nehmen, denn die Veröffentlichung enthält zwei Geschichten. Der Leser trifft in beiden Erzählungen alte Bekannte aus "64" wieder. Insbesondere der eher unsympathische Futawatari, seines Zeichens Inspektor der Verwaltungsabteilung der Präfektur, als solcher verantwortlich für sämtliche Versetzungsangelegenheiten und daher von allen Kollegen gefürchtet, hat in beiden Erzählungen seinen Auftritt und wird in "2" durchaus menschlicher gezeichnet als in "64".

In der ersten Geschichte "Zeit der Schatten" ist Futawatari die zentrale Figur. Gerade hat er seine regelmäßigen Versetzungspläne abgeschlossen, ereilt ihn die Nachricht, dass der ehemalige Direktor des Kriminaluntersuchungsamts Osakabe und nun Vorstand einer Stiftung seinen Posten keinesfalls räumen wird. Ein Skandal und ein ungeheuerliches Vorgehen, das Futawataris Pläne durcheinanderwirbelt. Als Futawatari dem Ganzen auf den Grund gehen will, stößt er auf einen alten, nie aufgeklärten Fall aus Osakabes Umfeld.

"Schwarze Linien" sind das täglich Brot der Kommissarin Mizuho Hirano: Im Team der Spurensicherung ist sie diejenige, die die Phantombilder zeichnet. Als sie eines Tages nicht zum Dienst erscheint, klingeln nicht nur bei Tomoko Nanao, die sich um die weiblichen Kolleginnen kümmert, die Alarmglocken. Gerade konnte ein Fall wegen Mizuhos Fähigkeiten erfolgreich abgeschlossen werden. Daher könnte ein Racheakt hinter Mizuhos Verschwinden stecken. Tomoko geht aber noch weiteren Spuren nach, um Mizuho zu finden.

"2" bietet nicht sonderlich viel Spannung, sondern eher einen ungewöhnlichen Einblick in den japanischen Polizeiapparat, wie es auch bei "64" der Fall ist. So wird in der ersten Erzählung von der Praxis berichtet, pensionierten Führungskräften zum Rentenbeginn Posten in Stiftungen zu verschaffen, um ihnen weiterhin ein prestigekräftiges Aufgabenfeld zu eröffnen. In der zweiten Erzählung geht es um den Alltag von Frauen bei der Polizei. Allerdings empfand ich die weibliche Perspektive eher recht klischeehaft geschildert.

Bibliographische Angaben:
Yokoyama, Hideo: "2" (Übersetzung aus dem Englischen: Roth, Sabine), Atrium, Zürich 2019, ISBN 978-3-85535-065-0

Mittwoch, 4. September 2019

"Schuldig" von Kanae Minato

Bereits die erste deutsche Veröffentlichung von Kanae Minato "Geständnisse" hat mich nicht hundertprozentig überzeugt. Dieses Frühjahr gab es mit "Schuldig" ein zweites Werk der Autorin in deutscher Übersetzung. Doch um es gleich vorweg zu nehmen: Auch dieser Roman hat es weder geschafft, mich in seinen Bann zu ziehen, noch irgendwie einen plausiblen Plot zu kreieren.

Im Zentrum der Geschichte steht der junge Mann Fukase, Typ Loser. Trotz Universitätsabschluss hat er es nur in die Verkaufsabteilung eines kleinen Schreibwarenhandels geschafft. Mit menschlichen Kontakten tut er sich allgemein eher schwer. Sein einziges Talent, das ihm auch den Respekt seiner Kollegen einbringt, ist das Kaffeekochen. Während bei Haruki Murakami Loser-Typen sympathisch wirken, bleibt Fukase furchtbar blass, wenig liebenswert, eher bedauernswert. Und noch ein Murakami-Vergleich: Ein Spaghetti-kochender Murakami-Protagonist ist leider auch sehr viel spannender als Fukase, der über Kaffeebohnen sinniert.

Eines Tages wird Fukase in einem anonymen Schreiben als Mörder bezeichnet. Und in der Tat gibt es ein dunkles Geheimnis in Fukases ansonsten sehr eintönigem Dasein: Ein Abend in den Bergen und ein tragischer Unfall sind die Zutaten für ein einschneidendes Ereignis in Fukases Vergangenheit.

Aufgeschreckt durch die mysteriöse Nachricht nimmt Fukase Kontakt zu seinen ehemaligen Kommilitonen auf, die ebenfalls Zeugen der Unglücksnacht waren. Schließlich wird er sich auf die Suche nach dem Absender, der den Männern einen Mord vorwirft, machen.

Manche Wendungen in Kanae Minatos "'Schuldig" sind recht abwegig und auch ansonsten ist das Werk reichlich unspannend, manchmal sogar recht langweilig. Das Ende hat mich ein bisschen enttäuscht und zu einer kleinen Google-Recherche veranlasst. Mit dem Ergebnis, dass da etwas doch sehr an den Haaren herbeigezogen wurde (aus Spoilergründen hierzu aber lieber keine Details).

Bibliographische Angaben:
Minato, Kanae: "Schuldig" (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), C.Bertelsmann, München 2019, ISBN 978-3-570-10367-8

Donnerstag, 15. August 2019

"Augenblicke in Bernstein" von Yoko Ogawa

"Augenblicke in Bernstein" ist sicherlich die ruhigste, handlungsärmste Yoko Ogawa-Veröffentlichung in deutscher Übersetzung bisher. Es ist die Geschichte eines erzwungenen Rückzugs aus der Gesellschaft: Nach dem Tod ihres vierten Kindes beschließt eine zwischenzeitlich allein erziehende Mutter, aufs Land in das leerstehende Haus des Kindervaters zu ziehen. Sie selbst geht zum Arbeiten in ein Kurhotel, während die Kinder versteckt auf dem Gelände des alten Hauses aufwachsen.

Die Mutter macht ihnen glauben, dass außerhalb der Mauern des Grundstücks der böse Hund lauert, der die jüngste Tochter kurz vor deren Tod gebissen hat. Demonstrativ bewaffnet sich die Mutter jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit ins Kurhotel aufbricht, um sich im Falle eines Angriffs gegen den Hund verteidigen zu können.

Die Kinder sollen nicht nur die Außenwelt vergessen, sondern bestenfalls auch ihre bisherigen Namen. Als die älteste Schwester dazu aufgefordert wird, blättert sie eine beliebige Stelle in einem Nachschlagewerk auf und erhält den Namen des dort erklärten Begriffs: Opal. Das zweitälteste Kind, ein Junge, wird künftig Bernstein genannt, der jüngste Sohn heißt nun Achat. Eingeschlossen in die Mauern des Anwesens erleben sie eine Kindheit voller Fantasie, gekleidet in kindliche Kostüme, die die Mutter näht. Doch bereits ganz am Anfang des Buches wird klar, dass der abgeschottete Aufenthalt auf dem Grundstück nicht von Dauer sein wird.

"Augenblicke in Bernstein" ist für mich eher ein Buch für ruhige Winterabende, weswegen ich das Buch eher in ein Herbst-/Winterverlagsprogramm gesteckt hätte. Für den Sommer war mir der Roman ein bisschen zu ruhig. Aber dennoch wirkt die Handlung noch nach. Auch wenn der Grad der Freiheitsliebe unterschiedlich ist: Alle Kinder haben das Bedürfnis, die Welt da draußen zu entdecken und haben ihre eigenen Wege, wie sie das fremde Terrain für sich selbst entdecken. So wirft Bernstein Kletten über die Mauer. Sie reisen an seiner Stelle nach draußen, um ihrer Bestimmung gerecht zu werden. Den kleinen Achat lockt eine Katze nach außen. Und Opal wird von einem Hausierer becirct, der eines Tages das Gelände betritt. Auch die Mutter fährt regelmäßig in die nächste, größere Stadt, um Komplimente für ihr Aussehen einzuheimsen. Durch die angeborene Neugier der Kinder ist der Rückzug aus der Welt natürlich auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt.

Auf mich wirkt Bernstein, der die zentrale Figur des Romans ist, leider stets etwas blass. Viel herzerwärmender sind der kleine Achat, der einen eingebildeten Lehrmeister namens Meister Signal hat, oder auch Opal, die im Tutu nachts, beschienen vom Mondlicht, durch den Garten tanzt.

Bibliographische Angaben:
Ogawa, Yoko: "Augenblicke in Bernstein" (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), Liebeskind, München 2019, ISBN 978-3-95438-100-5

Sonntag, 23. Juni 2019

"Die Rache" von Shugoro Yamamoto

Die Lektüre von Shugoro Yamamotos "Die Rache" hat so richtig Spaß gemacht und macht Lust auf mehr Werke des Autors - leider ist "Die Rache" aber (noch) die einzige Übersetzung des in Japan sehr populären Schriftstellers. Im Nachwort wird Shugoro Yamamoto wie folgt zitiert:

"Die Aufgabe der Literatur [...] ist nicht, festzuhalten, was am Soundsovielten Soundsovielten des Jahres 1600 in der Burg von Osaka geschah, sondern das, was sich selbigen Tags in der Burgunterstadt im Kopf eines einsamen Ladenbengels abspielte." (S. 61) 

Und ein Bengel ist der Protagonist von Shugoro Yamamotos "Die Rache" auf jeden Fall: Iwata, Sohn des Kochs in der Kumamoto-Burg, hat gleich vier Geliebte nebenher laufen. Grundsätzlich ist er immer abgebrannt und bringt alles Geld beim Glückspiel durch.

Als sein Vater vom legendären Schwertkämpfer Musashi getötet wird, steigt Iwatas älterer Bruder zum Familienoberhaupt auf uns verstößt prompt den jüngeren, nichtsnutzigen Bruder Iwata. Der war schon vorher gewillt, Bettler zu werden, da gerade alles schief läuft. Und nun setzt er seinen Plan in die Tat um. Seine Bettlerklause errichtet er just an dem Weg, der zu Musashis Zweitresidenz führt. Da munkeln die Leute, Iwata sinnt auf Rache und zollen ihm Respekt, der ihm nur bedingt gebührt. Musashi wirklich herauszufordern, steht außer Frage. Ein Spiel auf Zeit beginnt.

Die Darstellung des Iwatas macht wahrlich den Reiz der Geschichte aus. Und das Ende lässt einen laut Auflachen. Großes Kino in einem schmalen Bändchen.

Bibliographische Angaben:
Yamamato, Shugoro: „Die Rache“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Cassing, Katja), Cass, Löhne 2018, ISBN 978-3-944751-18-4 

Samstag, 22. Juni 2019

Shugoro Yamamoto

Shugoro Yamamoto wurde im Jahr 1903 als Satomu Shimizu in ärmlichen Verhältnissen geboren. Shugoro Yamamotos Familie lebte bis zu einem Erdrutsch im Jahr 1907 in Otsuki in der Präfektur Yamanashi. Bei dem Unglück starben Shugoro Yamamotos Großeltern, ein Onkel und eine Tante. Daraufhin zog seine Mutter mit ihm zusammen zu seinem Vater, der aus beruflichen Gründen in Tokio lebte.

Shugoro Yamamoto besuchte verschiedene Grundschulen und wurde bereits in der vierten Klasse von seinem Klassenlehrer zum Schreiben ermutigt. Sein späterer Chef, Mentor und Ausbilder in einer Pfandleiher war ebenfalls literarisch interessiert und derjenige, von dem Shugoro Yamamoto seinen Künstlernamen übernahm.

Als die Pfandleihe 1923 durch das große Kanto-Erdbeben zerstört wurde, ging Shugoro Yamamoto nach Osaka. Er schlug sich eine Weile als Journalist in Westjapan durch, bis er 1926 in einer Zeitschrift seinen ersten Roman veröffentlichte. Zunächst publizierte er Kinder- und Jugendliteratur, bis 1942 ein erfolgreiches Werk über Samurai-Frauen erschien. Den Naoki-Preis hierfür lehnte er ab – wie fast alle weiteren Preise, für die er prämiert werden sollte.

Seine Werke spielen in Japans Vormoderne und werden gerne aus der Perspektive eines Underdogs erzählt. Viele seiner Romane wurden verfilmt, unter anderem von Akira Kurosawa.

1930 heiratete Shugoro Yamamoto das erste Mal. Der Ehe entsprangen zwei Söhne und zwei Töchter. Im Jahr 1945 starb seine Frau an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ein Jahr später heiratete Shugoro Yamamoto ein zweites Mal.

1967 starb Shugoro Yamamoto.

Interessante Links:

  • Wikipedia Japan: Biographie von Shugoro Yamamoto

  • Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert:

  • Die Rache
  • Samstag, 30. März 2019

    „In Liebe, Dein Vaterland“ von Ryu Murakami

    Es ist ein ausländischer Film, den ausgewählte Nordkoreaner zu sehen bekommen, als sie überraschend abkommandiert werden: Während des zweiten Weltkriegs wird ein Spezialkommando der Nazis, getarnt als jüdische Flüchtlinge, nach New York entsendet. Sie besetzten Manhattan unter dem Vorwand, eine deutsche Exilregierung zu bilden. Um sich offiziell aus der Schusslinie zu bringen, bezeichnet Hitler die Exilanten als Abtrünnige, die gerne exekutiert werden dürfen. Zwischenzeitlich bringen die Nazis Manhattan unter ihre Gewalt, um von dort Anschläge auf US-amerikanische Politiker verüben zu können.

    Der Film wird für Nordkorea zur Vorlage für die Operation „In Liebe, Dein Vaterland“. Ein Sonderkommando von wenigen, handverlesenen Elitesoldaten wird, als südkoreanische Touristen getarnt, nach Fukuoka geschleust. Sie sollen während eines Baseballspiels die Zuschauer im Fukuoka-Dome als Geiseln nehmen. Während der Geiselnahme sollen 500 weitere nordkoreanische Soldaten nach Fukuoka gebracht werden, um als Vorhut einer größeren Landung von Soldaten den Weg zu ebnen.

    Der Zeitpunkt für die Invasion ist perfekt gewählt: Japan ist wirtschaftlich, politisch und militärisch geschwächt. Auf den einstig so starken Bündnispartner USA lässt sich nicht mehr bauen. Die japanische Regierung reagiert nur zaghaft auf die zu allem entschlossenen Nordkoreaner.

    Während also zunächst alles für die nordkoreanischen Invasoren nach Plan läuft, gärt etwas in einem Lagerhauskomplex am Rande Fukuokas. Hier hausen von der Gesellschaft ausgestoßene Jugendliche mit ihrem Mentor Iwagaki: Waffennarren, Satanisten, Brandstifter, Mörder… Zwar haben die Jungs wenig Lust, die japanische Gesellschaft zu schützen, aber noch weniger darauf, ihr Land von den Nordkoreanern besetzen zu lassen. Die eigenen Talente sollen genutzt werden, die koreanischen Kampfmaschinen zu schlagen.

    Ryu Murakamis Roman „In Liebe, Dein Vaterland“, der 2005 in Japan erschien, ist wie „Coin Locker Babies“ natürlich recht überzeichnet. Aber unrealistisch von der Ausgangslage? Tatsächlich hat sich seit dem Erscheinungstermin einiges getan in der Welt: Die Abenomics stehen im Verdacht zu einem Abegeddon zu eskalieren. Unter der neuen republikanischen Regierung der USA (in „In Liebe, Dein Vaterland“ ist es allerdings eine demokratische) entwickelt sich eine Bromance zwischen Trump und Kim Jong-un. Japan muss sich immer wieder um den Bündnispartner USA bemühen. Insofern ist „In Liebe, Dein Vaterland“ ein höchst aktueller Roman, obwohl er schon fast 15 Jahre auf dem Buckel hat.

    Das Werk, das mit seinen zwei Bänden fast tausend Seiten umfasst, zieht den Leser schnell in seinen Bann. Der Autor entwirft ein gewaltig furioses und gewalttätiges Szenario, dessen Geschehnisse von diversen Perspektiven beleuchtet werden. So weiß man als Leser fast nicht mehr, auf welcher Seite man denn stehen soll, da in Ryu Murakamis Roman die Dichotomie „gut/böse“ nicht gilt: Da sind die Nordkoreaner, die unter schrecklichen Lebensbedingungen aufgewachsen sind und eine furchtbare militärische Ausbildung durchlaufen mussten, die die  Folterung eines jeden Soldaten beinhaltet. Natürlich sympathisiert man dann auch mit den Invasoren, die in Japan viel bessere Lebensbedingungen vorfinden. Da sind die normalen Bürger Fukuokas, die um des lieben Frieden willens mit den Nordkoreanern kooperieren, um ihr alltägliches Leben in groben Zügen weiterführen zu können. Und da sind die geschundenen Seelen der Jugendlichen, deren Herzen auf Zerstörung drängen.

    Zum Höhepunkt der Handlung hin wird die Spannung fast schon unerträglich und spätestens dann fiebert man mit den jugendlichen Outlaws in ihrem fast aussichtslosen Kampf mit. Episches Entertainment mit Gesellschaftskritik – eine große Leseempfehlung für das Jahr 2019!

    Bibliographische Angaben:
    Murakami, Ryu: „In Liebe, Dein Vaterland – I: Die Invasion“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Septime Verlag, Wien 2018, ISBN 978-3-902711-76-2
    Murakami, Ryu: „In Liebe, Dein Vaterland – II: Der Untergang“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Septime Verlag, Wien 2019, ISBN 978-3-902711-80-9

    Dienstag, 5. März 2019

    "Alte Freunde" von Osamu Dazai

    Osamu Dazais "Alte Freunde" ist sicherlich eher ein Buch für Liebhaber. Für den doch stolzen Preis von 18 Euro erhält der Leser 25 Seiten Prosatext, sieben Seiten mit Illustrationen und fünfeinhalb Seiten Nachwort. Die Illustrationen von Susanne Theumer sind freilich Geschmackssache, dafür ist der Text ein Träumchen – bestimmt nicht nur für Osamu-Dazai Fans.

    Der Protagonist und Ich-Erzähler scheint identisch mit dem Autor selbst zu sein. Im September 1946 lebt der Ich-Erzähler Shuji als Ausgebombter in seiner alten Heimat. Da bekommt er Besuch von einem "alten Freund" namens Hirata, der sich als Ausgeburt der Dreistigkeit herausstellen wird. Nicht nur, dass sich der Bauer Hirata nur als ehemaliger Mitschüler ausgibt, um an den von Shuji gebunkerten, raren Alkohol ran zu kommen. Er bedient sich immer weiteren Kniffs, um nachgeschenkt zu bekommen.

    Obwohl Shuji sich des Betrugs sehr wohl bewusst ist, muss er sich in Langmut fügen. Nicht auszudenken, wenn der besoffene Kerl aggressiv werden sollte und die Wohnung demoliert, die Shuji und seine Familie als Ausgebombte nur gestellt bekommen haben. Shuji muss sich eingestehen, dass es Hirata zu faustdick hinter den Ohren hat, um es mit ihm aufzunehmen.

    Die ganze Situation wirkt auf den ersten Blick so unangenehm, dass man sich als Leser fragen könnte, warum man so etwas denn lesen soll. Doch das erzählerische Talent von Osamu Dazai macht selbst daraus noch Gold: Humorvoll und sich selbst nicht zu ernst nehmend schwadroniert der Autor über das Geschehnis, das "in ganz sonderbarer Weise unerträglich" (S. 7) war, und über seine Vergangenheit als Säufer und Weiberheld in Tokio.

    Ich hoffe für die Erzählung, dass der Cass Verlag sie vielleicht eines Tages als kostengünstigeres Ebook herausgeben wird. Wäre doch zu schade, wenn sie den Liebhabern vorbehalten bleiben würde!

    Bibliographische Angaben:
    Dazai, Osamu: "Alte Freunde" von Osamu Dazai (Übersetzung aus dem Japanischen: Stalph, Jürgen), Cass Verlag, Löhne 2017, ISBN 978-3-944751-14-6

    Samstag, 23. Februar 2019

    „Die zehn Lieben des Nishino“ von Hiromi Kawakami

    Anders als in den bisher auf Deutsch erschienenen Hiromi Kawakami-Romanen wechselt in „Die zehn Lieben des Nishino“ mit jedem Kapitel die Erzählperspektive. So wird die Handlung aus der Sicht von zehn verschiedenen Frauen geschildert, die sich untereinander manchmal sogar kennen und auf einander eifersüchtig sind. Sie alle eint, dass sie Nishino verfallen sind. Denn Nishino scheint der perfekte Liebhaber zu sein. Vielleicht ist er sogar zu perfekt – denn er wird meist bald schon wieder von seinen Geliebten verlassen.

    Der Leser lernt mit jedem Kapitel Frauen in einer anderen Lebensphase kennen: Die Schülerin und die Studentin, die Jobberin und die Karrierefrau, die verheiratete Frau mit Kind und die Frau, die ihre Blüte schon etwas hinter sich hat.

    Da Nishino selbst irgendwie blass und nicht greifbar auf mich gewirkt hat, lag der Reiz von „Die zehn Lieben des Nishino“ für mich eher in diesen wie Kurzgeschichten zusammen gewürfelten Frauenleben. Leider hat mich die Figur des Nishino nämlich so gar nicht überzeugt. Warum er jede Frau haben kann, ist mir bis zum Schluss nicht aufgegangen. Manchmal wirkt er mehr wie ein geschlagenes Hündchen, das die Frauen streicheln mögen, als ein großer Don Juan.

    Insbesondere die Geschichten von Nishinos erster und letzter Liebe haben mich von der Skurrilität glatt ein bisschen an Yoko Ogawa erinnert. Insofern ist „Die zehn Lieben des Nishino“ sicherlich vielfältiger als die bisherigen Romane der Autorin in deutscher Übersetzung. Aber leider fehlen durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven die schrulligen Charaktere, die einem ans Herz wachsen, die man sonst in Hiromi Kawakamis Romanen kennenlernen darf.

    Bibliographische Angaben:
    Kawakami, Hiromi: „Die zehn Lieben des Nishino“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula & Nakayama-Ziegler, Kimiko), Hanser, München 2018, ISBN 978-3-446-26169-3 

    Donnerstag, 21. Februar 2019

    „Das Haus der roten Töchter“ von Kazuki Sakuraba

    Kazuki Sakurabas Roman „Das Haus der roten Töchter“ stellt drei Frauengenerationen der Familie Akakuchiba in den Mittelpunkt. Die erste dieser Frauen ist Manjo, die die Zeit des Wirtschaftswunders und die langsame Auflösung der alten Traditionen erlebt. Manjo ist ein Findelkind, das einem urtümlichen Bergvolk entstammt und von einer Arbeiterfamilie aufgenommen wird. Tatsu, die Herrin aus der reichen Stahlunternehmerfamilie Akakuchiba, bestimmt Tatsu überraschenderweise als künftige Ehefrau ihres Sohnes. Dass Tatsus Entscheidung zwar im ersten Moment seltsam erscheint, sich aber dann doch als sehr weise erweist, liegt an Manjos Hellsichtigkeit, die der Familie in schwierigen Zeiten noch helfen wird.

    Die zweite Frau, die während der rebellischen 70er Jahren aufwächst, ist Kemari und Manjos zweitgeborenes Kind. Sie ist nicht nur im Jahr des Pferdes geboren, sie ist mit ihrem Geburtsjahrgang 1966 gar ein Feuerpferd, was laut des chinesischen Horoskops als besonders wild und unzähmbar gilt. Daher überrascht es niemanden, dass Kemari bald die Anführerin einer weiblichen Bosozoku-Motorradgang wird.

    Kemaris Tochter Toko ist ganz Töchterchen aus reichem Hause und muss im Gegensatz zu Gleichaltrigen der Freeter-Generation nicht unbedingt eigenes Geld verdienen. Toko hadert dennoch mit ihrem Leben, fehlt ihr doch die Fähigkeit, sich mit ganzem Herzen für etwas zu begeistern. Erst als Manjo stirbt und ihr mit dem fast letzten Atemzug ein Geheimnis offenbart, scheint sie etwas wie eine Aufgabe gefunden zu haben.

    Einerseits sind die drei porträtierten Damen an sich sehr spannende Charaktere: Manjo, die Visionen hat, Kemari das Feuerpferd und die verloren wirkende Toko. Doch in der Umsetzung hätte ich mir bei Manjo mehr Atmosphäre gewünscht. Kemaris Leben ist dagegen fast schon hanebüchen übertrieben geschildert und Toko wirkt irgendwie langweilig und taugt als reiches Mädchen wenig als Identifikationsfigur für die Leserschaft.

    Hinzu kommt, dass der Roman sprachlich so einfach gestrickt ist, dass er an einen Teenie-Roman erinnert. Und das liegt sicherlich nicht an der Übersetzung aus dem Englischen.

    An sich finde ich persönlich Übersetzungen aus dem Englischen nicht zwangsläufig schlechter als aus dem Japanischen, wenn das Original eher durch Handlung als durch sprachliche Kunstfertigkeit bestechen soll. „Das Haus der roten Töchter“ zählt sicherlich zu ersterem. Allerdings ist die Umsetzung nicht immer besonders geglückt. Das gibt es z.B. Sätze, die für mich nicht wirklich Sinn machen:

    "An jenem Abend verließ Manjo ihren Platz und bewegte all die Dinge in ihrem Herzen, die Tatsu ihr mitgeteilt hatte." (S. 85)

    Und dann wird der Bedeutung von Schriftzeichen auch nicht Rechnung getragen. Natürlich ergibt sich aus dem Zusammenhang, für was die Schriftzeichen des Hauses Akakuchiba stehen und später wird die gleichnamige Firma gar umfirmiert in die englische Übersetzung und spätestens dann wird klar, warum die Farbe rot immer wieder vorkommt. Aber so ein bisschen mehr Liebe zum Detail und das eine oder andere Fußnötchen hätten dem Roman sicher nicht geschadet. Daher ergeben sich solche Passagen, die einfach schlecht übersetzt sind:

    „Kaum hatte seine Mutter das Kind im Arm, gab sie ihm in einem Anflug von Humor den Namen Kaban. Dies bedeutete ‚Tasche’ und war kein besonders angemessener Name für einen Menschen, zumal es ein normales Wort war und keinen Buchstaben für einen Namen enthielt.“ (S. 166f)

    Und selbst der deutsche Titel des Romans ist irgendwie abwegig. Die Töchter des Hauses Akakuchiba sind sicherlich nicht rot. Der Familienname beinhaltet das Schriftzeichen für die Farbe rot. Daher ist das Haus (in der Bedeutung des Geschlechts/der Familie der Akakuchibas) doch das, was von roter Farbe ist. Warum den Roman dann nicht korrekterweise „Die Töchter des roten Hauses“ nennen?

    Insgesamt verpasst man also nicht wirklich viel, wenn man „Das Haus der roten Töchter“ nicht auf seine Leseliste setzt. Wer aber einfach Lust auf harmloses Entertainment hat, macht mit dem Roman natürlich nichts falsch.

    Bibliographische Angaben:
    Sakuraba, Kazuki: „Das Haus der roten Töchter“ (Übersetzung aus dem Englischen: Allen, Jocelyne/übertragen von Rahn, Marie), Heyne, München 2019, ISBN 978-3-453-42297-1

    Samstag, 16. Februar 2019

    Kazuki Sakuraba

    Die Autorin Kazuki Sakuraba wurde 1971 in der Präfektur Shimane geboren und wuchs als Einzelkind in der Präfektur Tottori auf. Bereits in der Grundschule begeisterte sie sich fürs Schreiben. Nach dem Abschluss der Oberschule in Yonago ging sie zum Studium nach Tokio.

    Sie begann, zunächst die Handlungen für Computerspiele zu schreiben und publizierte dann im Jahr 1999 ihre erste Light Novel. Ihre Light Novel-Serie „Gosick“ wurde schließlich zum Bestseller. 2011 wurde „Gosick“ auch als TV Anime umgesetzt.

    Im Jahr 2005 publizierte Kazuki Sakuraba erstmals einen klassischen Erwachsenenroman mit „Ein unpassender Beruf für Mädchen“. 2007 erhielt sie für „Das Haus der roten Töchter“ den Mystery Writers Award und eine Nominierung für den Naoki-Preis. 2008 wurde ihr Werk „Mein Mann“ mit dem Naoki-Preis prämiert. 2014 wurde „Mein Mann“ verfilmt.

    Interessante Links:

    Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

    Donnerstag, 24. Januar 2019

    "Das magische Café" von Toshikazu Kawaguchi

    Um das kleine, altmodische Café Funiculi Funicula im Untergeschoss eines Hauses in einer Nebenstraße in Tokio rankt sich eine urbane Legende: Angeblich soll man dort eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen können. Doch da die vielen Regeln, der diese Zeitreise unterliegt, wenig attraktiv sind, sind die Interessenten rar und im Café gehen primär einige wenige Stammgäste ein und aus. Wer will schon in die Vergangenheit reisen, wenn sich die Gegenwart nicht ändern lässt, wie Regel Nummer zwei besagt...

    Der Roman setzt ein, als die Büroangestellte Fumiko im Café statt des erwarteten Heiratsantrags von ihrem Freund verlassen wird. Er will noch am selben Tag Japan verlassen, um in den USA seinen Traumjob anzunehmen. Fumiko ist zu verletzt, um angemessen auf die Situation zu reagieren. Doch eine Woche später möchte sie ihren Fehler korrigieren und begibt sich nochmals ins Funiculi Funicula. Leider bringt auch sie Regel Nummer zwei ins Zweifeln. Sie möchte doch ihre Beziehung retten und nach der Zeitreise nicht erneut allein dastehen.

    Im Folgenden wollen noch drei weitere Personen in kritischen Lebensphasen in Toshikazu Kawaguchis "Das magische Café" eine Zeitreise antreten.

    Dem Klappentext kann man entnehmen, dass "Das magische Café" zunächst als Theaterstück entstand. Erst nach dem Bühnenerfolg wurde die Handlung in Romanform gegossen. Dass sich dadurch die Handlung eigentlich nur im Funiculi Funicula abspielt, tut dem Roman aber nicht weh. Vielmehr wirkt das Café nach und nach wie das ausgelagerte Wohnzimmer der Protagonisten, in dem es auch mal menschelt.

    Aber auch die Charaktere fangen einen ein – insbesondere durch ihre Schrulligkeit. Und für die fantastische Komponente sorgt nicht nur die Zeitreise, sondern auch noch ein Geist, der für die Umsetzung derselben eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

    Der Roman schrammt jedoch hart an der Grenze, ein bisschen zu sehr auf die Tränendrüse zu drücken. Er bedient Themen, die viele kennen: die Angst, geliebte Menschen könnten an Alzheimer erkranken; der Tod von Angehörigen; die bedingungslose Liebe zum eigenen Kind. Und so habe auch ich beim Lesen nicht nur ein Tränchen verdrückt. Ein bisschen weniger Rührseligkeit hätte den Roman für mich jedoch noch interessanter gemacht.

    Bibliographische Angaben:
    Toshikazu Kawaguchi: "Das magische Café" (Übersetzung aus dem Englischen: Thiele, Sabine), O.W. Barth, München 2018, ISBN 978-3-426-29290-7

    Mittwoch, 23. Januar 2019

    Toshikazu Kawaguchi

    Toshikazu Kawaguchi (geboren in der Präfektur Osaka im Jahr 1971) betätigt sich primär als Theaterregisseur und Dramatiker für die Gruppe Sonic Snail.

    Er debütierte 2015 als Autor mit dem Roman „Das magische Café“, der seinen Ursprung in einem Theaterstück von 1110 Productions hat. Das Werk erhielt 2017 den japanischen Buchhändlerpreis. 2018 wurde der Roman verfilmt. 

    2017 veröffentlichte Toshikazu Kawaguchi mit „Bevor die Lügen offenbart werden“ eine Fortsetzung von „Das magische Café“.

    Interessante Links:

    Hier rezensiert:


    Weitere ins Deutsche übersetzte Romane:

    • Bevor es für uns zu spät ist
    • Bevor sich unsere Wege trennen

    Sonntag, 13. Januar 2019

    "Der nasse Tod" von Kenzaburo Oe

    Ich bin wahrlich kein großer Kenzaburo Oe-Fan, aber den "Roman über meinen Vater", wie es im Untertitel heißt, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Wer "Der Tag, an dem ER selbst mir die Tränen abgewischt" gelesen hat, kennt bereits das Motiv, das "Der nasse Tod" zu Grunde liegt. Zum Ende des zweiten Weltkriegs stürzt sich der Vater des Erzählers in einen aussichtslosen Aufstand und kommt um. Vor der Lektüre von "Der nasse Tod" macht es also Sinn "Der Tag, an dem ER selbst mir die Tränen abgewischt" und auch "Tagame. Berlin –  Tokyo" gelesen zu haben, da auf die beiden Werke immer wieder eingegangen wird.

    Oes Alter Ego Kogito begibt sich in der aktuellen Neuveröffentlichung zurück in seine Heimat. Zehn Jahre nach dem Tod seiner Mutter möchte ihm seine Schwester Asa einen roten Koffer übergeben, wie es die Mutter zu Lebzeiten verfügt hat. Von dem Inhalt des Koffers erhofft sich Kogito Material, um endlich den Roman "Der nasse Tod", in dem er die wahre Geschichte um den mysteriösen Tod seines Vaters darlegen will, zu schreiben. Der frei erfundene Roman "Der Tag an dem ER selbst", der ein ähnliches Thema hatte und schon vor Jahren veröffentlicht wurde, hatte damals zum Bruch mit der Familie geführt. Eine Theatergruppe namens "Caveman" will Kogitos Aufenthalt zudem nutzen, um den noch im Entstehen begriffenen Roman in ein Stück umzusetzen.

    In der Tat nimmt die Theaterarbeit den Großteil der Handlung ein. Das Stück soll Collage-artigen Charakter haben und auch der reale Roman benutzt dieses Mittel: Neben der Ich-Erzählung werden Briefe, Zitate, eine Tonbandaufnahme und Interviews eingefügt.

    Was entsteht, ist aber leider eben kein "Roman über meinen Vater", sondern eher ein Roman über die Theaterschauspielerin Unaico, die sich mit dem politischen Establishment anlegt. Um starke Frauen geht es ohnehin viel mehr als um den Vater. Irritierenderweise nimmt der Roman auf den letzten dreißig Seiten eine geradezu dramatische Wendung, die irgendwie so gar nicht zu den vorhergehenden knapp 400 Seiten passt und auf mich sehr unrealistisch gewirkt hat. Und so erscheint auch der Roman wie eine Collage, die viel zu viele Themen abdecken mag und nicht fesseln kann.

    Leider wirken die Charaktere auch wenig sympathisch und geradezu unzugänglich. Die Figur des Kogito neigt zum Phlegmatismus, Asa erscheint fast schon ein bisschen herrisch, während Unaico als recht spröde beschrieben wird. Dazu kommt noch seitenweise direkte Rede, die die monologisierenden Charaktere recht uncharmant wirken lässt.

    Was ich mir bei "Der nasse Tod" sehr gewünscht hätte, das wäre ein ausführliches Nachwort gewesen. Da hätte erläutert werden können, inwieweit der Autor mit seiner Figur Kogito deckungsgleich ist. Und welche Geschehnisse auch in Realität passiert und welche reine Fiktion sind. Wie ist denn Kenzaburo Oes Vater wirklich gestorben? Und was hat es z.B. mit der Geschichte um Meisukes Mutter auf sich? Geht es hier um den Bauernaufstand von 1853, dessen Wortführer Meisuke Miura war? Und gab es wirklich einen Aufstand, der später von Meisukes Mutter angeführt wurde? Google hilft hier leider auch nicht weiter.

    Tatsächlich habe ich mich beim Lesen recht durch die Seiten quälen müssen. Und dabei wären die Zutaten wirklich ergiebig gewesen: ein mysteriöser Tod, alte Legenden aus dem Wald, ein eingebildeter Freund aus Kindheitstagen, ein alternder Autor, der sich dem eigenen Tod, seinem verblassenden Ruhm und der Versorgung seines behinderten Sohnes stellen muss, Frauenschicksale, Intrigen aus dem rechten Spektrum… Irgendwie schade, dass der Roman trotzdem allzu zäh zu lesen ist. Und so werde ich auch mit dem Spätwerk des Autors leider kein Oe-Fan.

    Bibliographische Angaben:
    Oe, Kenzaburo: "Der nasse Tod" (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), S.Fischer, Frankfurt/Main 2018, ISBN 978-3-10-397218-4

    Samstag, 12. Januar 2019

    "Frühlingsgarten" von Tomoka Shibasaki

    Die Autorin Tomoka Shibasaki gibt an, von der Betrachtung von Häusern und Strassen und damit zusammenhängenden Mutmaßungen gar nicht genug zu bekommen. Daher überrascht es auch nicht, dass Tomoka Shibasaki ihren Protagonisten Taro durch sein Stadtviertel streifen und allerlei Beobachtungen anstellen lässt. Taro wohnt im Tokio vor den anstehenden olympischen Spielen. Viele bisher verwahrloste und leerstehende Gebäude werden abgerissen, um neuen Wohnraum bis zu den Spielen zu schaffen.

    Taro pflegt wenig sozialen Umgang. Dieser beschränkt sich auf die Familie und die Arbeit. Auch das Wohnhaus, in dem Taro zur Miete lebt, soll bald abgerissen werden. Mit den noch zwei verbliebenen Mieterinnen pflegt er ein wenig Kontakt.

    Seine Nachbarin Nishi weiht Taro nach und nach in eine Besessenheit ein: Das blaue Haus gegenüber fasziniert Nishi. Jeden Tag schleicht sie ums Grundstück. Zu ihrer Schulzeit wurde der Fotoband "Frühlingsgarten" herausgegeben, der das Haus und die Bewohner in einer Art Homestory porträtiert. Das blaue Haus und insbesondere das grüne Bad darin werden zum Sehnsuchtsort für Nishi. Bald ist auch Taro von dem Gebäude gefesselt und er unterstützt Nishi in ihrem Vorhaben, endlich das grüne Bad zu betreten.

    Nach und nach merkt der Leser, dass Taro zum Hikikomori neigt. Hier wird ein Bild aus der Natur herangezogen: Die Brut der Sakekrug-Wespe reift allein in einer Hülle heran, die Taro bei seiner Wohnung findet. Die Brut der Blattläuse vor dem Haus tummelt sich zuhauf in einem Styrax-Katzenpfoten-Beutel.

    "Ihm gefiel die Vorstellung von einem winzigen Sakekrug für sich allein besser, als dicht gedrängt mit massenhaft Geschwistern zusammen in einem dieser Katzenpfoten-Beutel zu wohnen. " (S. 139)

    Als Nishi auszieht, wird diese fixe Idee für Taro immer greifbarer.

    "Frühlingsgarten" besticht sicherlich nicht durch temporeiche Handlung. Wer schon tiefer in die japanische Literatur eingetaucht ist, der kennt sicherlich diverse Romane, die ebenfalls mit sehr wenig Action ausgestattet sind. Insofern reihen sich hier Taros Spaziergänge und Reflektionen ein – auch wenn das Buch gegen Ende hin doch noch ein bisschen Fahrt aufnimmt.

    Auch wenn der Bebra-Verlag die Japan Times mit "ein meisterhafter Blick auf die Einsamkeit des modernen Großstadtmenschen" zitiert, so habe ich "Frühlingsgarten" nicht in diesem Sinn gelesen. Mir stellt sich eher die Frage, ob Taros Glück eben nicht im pulsierenden Großstadtleben liegt, sondern in selbst gewählter Abgeschiedenheit (, die freilich nicht in den Wahn umschlagen sollte). So fragt er sich ja schließlich selbst:

    "Ob wohl alle Lebewesen immer die beste von allen Möglichkeiten wählen?" (S. 138)

    Bibliographische Angaben:
    Shibasaki, Tomoka: "Frühlingsgarten" (Übersetzung aus dem Japanischen: Tan, Daniela), Bebra, Berlin 2018, ISBN 978-3-86124-921-4