„[…] Dabei war doch jeder einzelne von ihnen ein Mensch. Wir wissen nichts von ihm. Ob sie ihre Frau geliebt haben, ob sie Kinder hatten, ob sie lieber ins Kino gegangen sind oder ins Theater. Gar nichts weiß man. Man sagt einfach: 115 Tote.“
Man mag unterstellen, dass Haruki Murakami mit „Nach dem Beben“ einen Versuch startet, die abstrakte Zahl der Erdbebentoten in individuelle Schicksale umzuwandeln.
Die erste Erzählung in „Nach dem Beben“ ist „Ufo in Kushiro“: Fünf Tage lang harrt Komuras Frau vor dem Fernseher aus und kann sich nicht von den Bildern der Erdbebenkastrophe losreißen. Doch dann ist sie verschwunden. In einem Abschiedsbrief erklärt die Ehefrau ihre Rückkehr zu den Eltern: Komura kann ihr nichts geben, er ist nur ein Klumpen Luft. Um sich von der Trennung abzulenken, willigt Komura ein, ein dubioses Päckchen nach Hokkaido zu transportieren…
In „Stillleben mit Bügeleisen“ treffen die junge Frau Junko und der ältere Maler Miyake beim Lagerfeuermachen am Strand aufeinander. Miyake hat seine Familie in der Nähe von Kobe verlassen und weiß nichts über deren Schicksal nach dem Erdbeben. Vielmehr beschäftigt ihn sein eigener Tod: Ihn quält der Alptraum, in einem Kühlschrank ersticken zu müssen…
„Alle Kinder Gottes“ ist die Geschichte von Yoshiya, dessen Mutter sich während der Schwangerschaft einer Sekte zugewandt hat. Da er ohne Vater aufgewachsen ist, erklärt die Sekte den „Herrn“ zu seinem Vater. Doch eines Tages, als seine Mutter Hilfsgüter zu den Erdbebenopfern transportiert, begegnet er einem Mann, der sein leiblicher Vater sein könnte…
„Thailand“ erzählt von der Ärztin Satsuki, die nach einem Kongress Entspannung in Thailand sucht. Satsuki ist verbittert und wünscht einem ehemaligen Liebhaber in Kobe, dass er durch das Erdbeben umgekommen sein möge. Wie ein Stein liegt dieser Wunsch auf Satsukis Seele…
In der phantastischen Geschichte „Frosch rettet Tokio“ rettet ein Frosch Tokio: Zusammen mit dem Geldeintreiber Katagiri gilt es, einen Kampf gegen Wurm auszufechten, der Tokio mit einem Erdbeben zerstören will…
Die letzte Geschichte in „Nach dem Beben“ heißt „Honigkuchen“: Die kleine Sara wird seit dem Erdbeben von Alpträumen geplagt. Der Erdbebenmann kommt Nacht für Nacht und will sie in eine Kiste sperren. Junpei, einem Freund von Saras Mutter, gelingt es, das Kind mit Geschichten zu beruhigen. Währenddessen nähern sich Saras Mutter und Junpei an…
„Nach dem Beben“ bietet mit seinen sechs Erzählungen ein wunderbares, murakamieskes Potpourri: Ein fantastisches, versöhnliches, weises, groteskes, schaudriges und auch trauriges Feuerwerk der Erzählkunst.
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