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Freitag, 31. August 2012

„Vita sexualis“ von Ogai Mori

Professor Kanai, Ogai Moris Alter Ego, zeichnet in „Vita sexualis“ mit nüchterner Sprache seine sexuelle Entwicklung auf. Diese startet im Alter von sechs Jahren: Als der kleine Kanai unversehens ins Haus der Tante Ohara stürmt, überrascht er die Tante, wie sie mit einem jugendlichen Mädchen ein geheimnisvolles Buch betrachtet. Die dargestellten Körperteile kann der Junge nicht recht zuordnen.

Mit sieben muss sich Kanai sexuell anzügliche Sprüche über seine Eltern anhören. Mit zehn findet er im Speicher seines Elternhauses ein Buch derselben Art, wie es damals die Tante Ohara durchgeblättert hatte. Dadurch inspiriert zu anatomischen Studien versucht er, der Tochter von Dienstboten unter den Kimono zu spannen.

Als er auf eine Privatschule kommt, wird er als „Knabe“ zum Objekt der Begierde für einen älteren Schüler. Er entgeht nur knapp einer homosexuellen Vergewaltigung. Mit 13 Jahren zieht Kanai ins Schülerwohnheim. Die Jungen dort teilen sich auf in Fans der illustrierten Bücher und den „Rauhbeinen“, die handschriftliche Heftchen, die die Knabenliebe thematisieren, konsumieren. Kanai wird zum beliebten Opfer der Rauhbeine.

Mit 15 ist Kanais Sexualität noch nicht erwacht, dennoch stromert er mit Freunden durchs Rotlichtviertel Yoshiwara. Mit 17 vernarrt er sich in ein Mädchen und mit 20 soll der heiratsfähige Kanai vermittelt werden. Schließlich besucht er das erste Mal eine Prostituierte.

„Vita sexualis“ erschien 1909 – und wurde kurz darauf wegen moralischer Verwerflichkeit verboten. Als hätte Mori Ogai dies vorhergesehen, schreibt er über seinen Protagonisten Kanai, der seine eigene Niederschrift rekapituliert:

„Und da er nun zu Ende gelesen hatte, fragte er sich, ob er dies der Öffentlichkeit vorlegen könne. Das war ein heikles Problem. Es handelte sich um Dinge, die jeder tat, über die aber niemand sprach. In der von Prüderie beherrschten Welt der Gebildeten, und weil er selber ihr angehörte, wäre das schwierig geworden.“ (S. 131)

Mori Ogai prangert mit „Vita sexualis“ jedoch nicht nur Prüderie an. Er wendet sich auch explizit gegen den Naturalismus, der die Sexualität als primären menschlichen Antrieb definiert. Kanai hinterfragt die These und begibt sich auf eine protokollarische, möglichst objektive Zeitreise seiner eigenen sexuellen Entwicklung.

Bibliographische Angaben:
Mori, Ogai: „Vita sexualis“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-01813-2

Mittwoch, 29. August 2012

„Tagebuch eines alten Narren“ von Junichiro Tanizaki

„Was würde meine Mutter sagen, wenn sie wüsste, dass ich, ihr Sohn Tokusuke, der im 16. Jahr Meiji geboren wurde, noch immer am Leben bin und mich in die niedrigen Reize Satsukos, also der Ehefrau ihres Enkels, verliebt habe, dass ich darüber glücklich bin, von ihr gequält zu werden, und sogar Frau und Kind opfern würde, um ihre Liebe zu gewinnen!“ (S. 86)

Was würde wohl die Mutter des Tokusuke Utsugi sagen, der im „Tagebuch eines alten Narren“ einige seiner letzten Eskapaden auf Erden niederschreibt? Denn obwohl Tokusuke ein pflegebedürftiger Greis ist, hat er es faustdick hinter den Ohren. Schöne und insbesondere grausame Frauen haben es ihm angetan. Satusko, seine Schwiegertochter, ist eine solche Femme Fatale, die ihre Reize ausspielt, Tokusuke hinhält und sich kleine sexuelle Gefälligkeiten teuer bezahlen lässt. Nüchtern schildert Tokusuke in seinem Tagebuch, wie er Satsukos Treiben zwar durchschaut, sich aber umso mehr zu ihr hingezogen fühlt. Denn statt eines ersehnten Kusses lässt sie ihm nur Spucke in den Mund tropfen. Statt zu ihm zärtlich zu sein, verhätschelt sie demonstrativ lieber ein Haustier. Und den zahnlosen Alten, der sein Gebiss gerade nicht trägt, veräppelt sie als hässlich. Der Wunsch nach Dominierung soll sich auch in der Gestaltung seines Grabes widerspiegeln, hat Tokusuke beschlossen.

Die für Tokuske so körperlich anstrengenden Tagebuchaufzeichnungen umfassen neben den amourösen Anwandlungen auch den Alltag des Greises: Akupunktur, Arztbesuche, Schmerzmitteleinnahme und Diskussionen über Geld. In diesen Dingen erweist sich Tokusuke als relativ dickköpfig – nur Satsuko wickelt ihn um den kleinen Finger.

Junichiro Tanizakis Spätwerk aus dem Jahr 1962 zeichnet das Bild eines verschrobenen Freigeistes – weder Religion noch Familie sind ihm heilig. Dennoch hängt er auch an Vergangenem: Das moderne Tokio kommt ihm vor wie eine Müllhalde. Da ist ihm das ruhige, traditionellere Kioto schon sehr viel lieber. Den modernen Frauentyp à la Satsuko vergleicht er mit den völlig anderen Frauen der Generation seiner Mutter, die sich im Watschelgang fortbewegten. So nimmt Tanizaki auch in „Tagebuch eines alten Narren“ das Thema Modernisierung auf.

Bibliographische Angaben:
Tanizaki, Junichiro: „Tagebuch eines alten Narren“, Volk und Welt, Berlin 1991, ISBN 3-353-00813-6

Mittwoch, 22. August 2012

„Münchner Freiheit“ von Miki Sakamoto

München tituliert sich ja gerne als die Weltstadt mit Herz – doch als Miki Sakamoto 1974 nach München kommt, da erscheint ihr München eher dörflich als weltstädtisch im Vergleich zu Tokio. Und das Herz haben ihre Gastgeber, die sie als Au-Pair aufnehmen, auch irgendwie nicht am rechten Fleck. Doch Gott sei Dank hat Miki Sakamoto München doch ein paar mehr als ein, zwei Chancen gegeben – denn sonst wäre mit „Münchner Freiheit – Fernöstliche Blicke auf die Weltstadt mit Herz“ keine solch herzliche Liebeserklärung an die bayerische Landeshauptstadt entstanden.

Wer München kennt – und liebt, – der wird ein ums andere Mal zustimmend bei der Lektüre von Miki Sakamotos Anekdoten gelacht haben. Denn so ruppig München manchmal ist, umso liebenswerter ist es ein anderes Mal. Natürlich wird Miki Sakamoto dem obligatorischen und legendären Oachkatzlschwoaf-Test unterzogen – und besteht ihn mit Bravour. Was so manch ein Preiß nicht von sich behaupten kann... Und ja, Miki Sakamoto hat uns ertappt: So gut wie alles lässt sich mit dem Föhn entschuldigen, da hat der Münchner immer Verständnis für Grantigkeit. Leider trifft auch zu, dass man sich in München immer übers Wetter beklagt. Zu heiß, zu kalt, zu nass, zu trocken, zu viel Schnee oder zu wenig – egal wie’s ist, der Wettergott macht’s immer falsch, wenn es nach den Münchnern geht. Das Selbstverständnis der Stadt, wie es Miki Sakamoto beschreibt, werden die Einwohner wohl gerne bestätigen:

„München fließt wie die Isar. München eilt nicht dahin und stürmt nicht nach vorn, um weiterhin an der Spitze zu bleiben. München erhält sich die Bedächtigkeit des Gehens. Mit der Zeit und schnell genug“. (S. 96)

Für Nicht-Münchner ist Miki Sakamotos „Münchner Freiheit“ ein einfühlsamer Reiseführer der besonderen Art, der Vergleiche mit Japan einflicht. Der Münchner und der Zugroaste haben ihre Gaudi mit dem Buch und erfahren doch noch ein bisschen etwas Neues über die (Wahl-)Heimatstadt.

Mir war die Zoologische Staatssammlung beispielsweise bisher kein Begriff. Doch der nächste Tag der offenen Tür am 17.11.2012 ist vorgemerkt. Liebe Frau Sakamoto, ich werde die Augen ein bisschen nach Ihnen offen halten. Verzeihen Sie, falls die Pferde mit mir durchgehen sollten und ich Sie bei ihrem Museumsbesuch stören sollte, indem ich Sie anspreche.

Bibliographische Angaben:
Sakamoto, Miki: „Münchner Freiheit“, Herbig, München 2007, ISBN 978-3-7766-2535-6

Dienstag, 21. August 2012

Miki Sakamoto

Miki Sakamoto wurde 1950 in der Präfektur Kagoshima geboren. Sie entstammt dem Adelsgeschlecht der Satsuma. Nachdem sie in Tokio Literatur studiert hatte, ging sie im Jahr 1974 als Au-Pair nach München. Zunächst sollte der Aufenthalt in Deutschland nur ein Jahr dauern. Doch statt wie geplant ihr Studium in England fortzusetzen, blieb Miki Sakamoto in der bayerischen „Weltstadt mit Herz“.

Interessante Links:

Auf deutsch verfasste Werke und hier rezensiert:

Montag, 20. August 2012

„Wo Europa anfängt“ von Yoko Tawada

Wo fängt denn Europa an? Das fragt sich die Ich-Erzählerin in der Erzählung „Wo Europa anfängt“, als sie auf dem Weg von Japan nach Europa ist. Schon in Russland oder ist Russland, wie einer ihrer europäischen Mitreisenden abfällig meint, noch nicht Europa?

Gewarnt wird die Ich-Erzählerin von ihrer Großmutter:

„Reisen hieß für meine Großmutter, fremdes Wasser zu trinken. Andere Orte anderes Wasser. Vor einer fremden Landschaft müsse man sich nicht fürchten, aber fremdes Wasser könne gefährlich sein.“ (S. 66)

Doch eigentlich weiß die Ich-Erzählerin nichts mehr von ihrer Reise – ihr Gedächtnis funktioniert nicht mehr. Ein (fiktives) Tagebuch schließt das schwarze Loch der Erinnerung.

Das Motiv des fremden Wassers stand wohl auch Pate für Yoko Tawadas Vorlesungen, die sich in „Fremde Wasser“ nachlesen lassen. Hier sei auch auf „Talisman“ verwiesen, in dem Yoko Tawada geheimnisvoll flüstert „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht".

Neben 14 Gedichten enthält „Wo Europa anfängt“ auch noch eine zweite Erzählung namens „Das Leipzig des Lichts und der Gelatine“. Auf dem Weg von West- nach Ostdeutschland heftet sich ein Spion an die Fersen der Ich-Erzählerin. Ein Geheimnis will er ihr entlocken; mit welcher Ware will sie denn in Leipzig handeln?

Das Büchlein umfasst ca. 90 Seiten und ist liebevoll mit transparenten Trennblättern versehen. Zudem lassen sich die Gedichte von Japanisch-Kundigen im Original nachlesen.

Die Erzählungen wie auch die Gedichte zeugen wie alle Tawada-Werke von dem Sprachgenie der Autorin. Yoko Tawadas Texte sind wie immer ein Hochgenuss.

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Wo Europa anfängt“, Konkursbuch, Tübingen 1991, ISBN 3-88769-054

Sonntag, 19. August 2012

„Liebesgeschichten der Samurai“ von Saikaku Ihara

13 Geschichten über gleichgeschlechtliche Männerliebe umfasst Saikaku Iharas „Liebesgeschichten der Samurai“, die zum Großteil auf der Wakashudo genannten Samurai-Tradition fußen, dass Samurai-Schüler ein erotisches Lehrer-Schüler-Verhältnis mit einem älteren Samurai eingingen.

So lässt sich der junge Shonosuke beispielsweise in „Die Koto-Zither aus der armseligen Hütte, die im Steinmörser zermahlen werden sollte“ unwissentlich ausgerechnet mit dem Samurai ein, der einst seinen Vater tötete. Hin und her gerissen zwischen den Rachegelüsten seiner Mutter und dem eigenen Treueschwur dem Mentor gegenüber kann diese Geschichte freilich zu keinem Happy End führen.

Ohnehin rollen zahllose Köpfe in „Liebesgeschichten der Samurai“ – vornehmlich nach freiwilligem oder angeordnetem Seppuku. Ein abgewiesener Liebhaber wird schnell zum Feind, der Lieblingspage muss sich vor Neidern und dem Daimyo in Acht nehmen und selbst der auf dem Liebespfad erkorene Liebste kann vor Eifersucht grausam werden.

Weniger Platz wird in „Liebesgeschichten der Samurai“ den homosexuellen Beziehungen der jungen Kabuki-Schauspieler eingeräumt. So gilt der Frauendarsteller Sennojo besonders adrett und verdreht nicht nur dem Samurai, sondern auch dem Bauer wie dem Priester völlig den Kopf. Als einer seiner einstigen Liebhaber als Bettler in der Stadt lebt, entzündet sich die alte Leidenschaft neu in „Wie sich an einem Feuerstein-Verkäufer eine alte Liebe noch einmal entzündete“.

„Liebesgeschichten der Samurai“ eröffnet einen Blick in die Samurai-Kultur, die gemeinhin nicht bekannt ist. So wird die homosexuelle Beziehung edler als die zwischen Mann und Frau erachtet. Nur leider ist den Beziehungen in Saikaku Iharas Geschichten nur ganz selten ein glückliches Ende vergönnt.

Bibliographische Angaben:
Ihara, Saikaku: „Liebesgeschichten der Samurai“, Albino, Berlin 1985, ISBN 3-88803-016-1

Samstag, 18. August 2012

Saikaku Ihara

Saikaku Ihara der unter dem bürgerlichen Namen Togo Hirayama im Jahr 1642 in Osaka geboren wurde, trat mit 14 Jahren in eine Dichterschule für Haikus ein. Bereits sechs Jahre später wurde ihm der Rang eines Haiku-Meisters verliehen. Ab diesem Zeitpunkt nahm er den Familiennamen seiner Mutter, Ihara, an und nannte sich Kaku’ei (= Langlebig (ist der) Kranich).

1670 setzte eine Modernisierungsbewegung des Haikus ein, an der auch Saikaku Ihara seinen Anteil hatte. Die so genannte Holländer-Schule verfasste volksnähere Haikus. Saikaku Ihara wurde fortan auch Oranda-Saikaku/Holländer-Saikaku genannt.

Nach dem Tod seiner Ehefrau und seiner blinden Tochter, überließ er seine weiteren Kinder seiner Großfamilie und reiste durch Japan.

Ab 1682 erschienen seine ersten Prosawerke. Als er 1693 starb, hatte er ca. zwei Dutzend Bücher veröffentlicht, die zum großen Teil den Vergnügungsvierteln gewidmet waren. Da er in seinen späteren Werken auch die dunklen Seiten der Etablissements beschrieb, gilt er als gesellschaftskritischer Autor.

Interessante Links:

Hier rezensiert: 

Weitere ins Deutsche übersetzte Erzählungen/Romane:
  • Japanische Parallelfälle im Schatten des Kirschbaumes
  • Koshokumono – Japanische Kurtisanengeschichten aus dem 17. Jahrhundert

Freitag, 17. August 2012

„Gezeichnet“ von Osamu Dazai

„Gezeichnet“ (im Original „Ningen shikakku“ = „als Mensch disqualifiziert“) gilt als einer der meistgelesenen Romane in Japan. Der Autor Osamu Dazai hat das Erscheinen nicht mehr erlebt – er beging kurz zuvor Selbstmord. Wer „Erinnerungen“ (zu finden in „Einspruch der Dekadenz“ oder „Das Gemeine und andere Erzählungen“) gelesen hat, der wird in „Gezeichnet“ einige Parallelen finden, geht es in dem Ich-Roman doch um dasselbe Thema: Der Lebens-, Leidens- und Liebesweg des Osamu Dazai.

Ein namenloser Ich-Erzähler gerät durch einen Zufall an die Aufzeichnungen des Comic-Zeichners Yozo Oba. Drei Hefte erzählen über drei Lebensabschnitte: Das erste Heft wird der Kindheit Yozos gewidmet. Zutiefst verunsichert und dies hinter der Maske des Clowns verbergend wächst Yozo heran. Die Clownerie macht ihn beliebt, doch wahre Freundschaft findet er nicht – oder nur beinahe, womit wir schon beim zweiten Heft wären: Ein noch schwächerer Mitschüler entlarvt Yozos Tarnung und orakelt richtig, dass Yozo einst ein ziemlicher Weiberheld werden wird. Als Yozo auf eine Oberschule nach Tokio wechselt, beginnt sein dekadentes Leben in der Großstadt: Alkohol, Prostitution, Verschuldung und damals illegale Betätigung für die politische Linke. Marx ist Yozo im Grunde egal, die Illegalität macht die Linke für ihn attraktiv. Und die Frauen vergucken sich in Yozo. Mit einer seiner Verehrerinnen will er Selbstmord begehen – doch nur sie stirbt und er wird angeklagt, von der Familie verstoßen. Das dritte Heft zeichnet das Bild des endgültigen Abstieg Yozos:

„Unglück. In der Welt gab es viele unglückliche Leute, nein, es gab nur unglückliche Leute, das ist sicher nicht zuviel gesagt; doch alle diese Leute konnten sich in die Brust werfen und ihr Unglück der ‚Gesellschaft’ klagen, und die ‚Gesellschaft’ verstand und fühlte mit. Mein Unglück aber war allein meine Schuld, ich konnte mich bei niemandem beklagen“. (S. 121)

Die Parallelen zu Osamu Dazais Leben sind vielfältig, was unter anderem den Reiz von „Gezeichnet“ ausmacht. Doch dies allein würde wohl nicht ausreichen, um dem Roman den Erfolg im bestehenden Ausmaß zu bescheren. Beschreibt Osamu Dazai nicht Phänomene, die jedem bekannt sind: Würde man nicht allzu oft und allzu gerne seine Unsicherheit hinter einer Maske verstecken wollen? Ist nicht jeder vom Wusch nach Anerkennung erfüllt?

„Gezeichnet“ bietet nicht nur Einblick in die Gedankenwelt Osamu Dazais, sondern auch genügend Gesellschaftskritik. Nur leider sehr schade, dass das Buch restlos vergriffen ist und selbst gebraucht nur zu horrenden Preisen zu haben ist. Da lohnt sich dann doch eher der Mitgliedsausweis für eine gut sortierte Bibliothek. Oder vielleicht wagt der Insel Verlag eine Neuauflage? Der Roman würde es durchaus mehr als verdienen!

Update Dezember 2014:
Ab März 2015 ist eine Neuauflage des Cass Verlags erhältlich. Danke Cass Verlag!

Bibliographische Angaben:
Dazai, Osamu: „Gezeichnet“, Insel, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-458-16871-0

Donnerstag, 16. August 2012

„Japanischer Alltag“ von Jiro Akagawa

Ganz so alltäglich sind Jiro Akagawas Kurzgeschichten, die sich in dem Band „Japanischer Alltag“ versammeln nicht. Da wird von geschickter Hand ein (Selbst-)Mord inszeniert oder ein Schwerverbrecher gefasst. Doch erzählen die Geschichten auch einen Teil japanischen Alltag nebenbei mit, auch wenn der teilweise etwas überzeichnet wirkt: Der Konkurrenzkampf im Arbeitsleben ist sehr ausgeprägt und schließt auch außerdienstliche Aktivitäten mit ein. Besonders die jüngeren Kollegen sind dabei, den älteren das Wasser abzugraben. Ohnehin wird so viel gearbeitet, dass man im Urlaub schon ganz hibbelig wird, wenn man nicht zum Arbeitsplatz gehen darf. Wie man sieht: Die Kurzgeschichten kreisen primär um die Welt eines „sarariman“ (= salaryman).

Jiro Akagawas Kurzgeschichten sind allesamt kurzweilig und kommen zu recht überraschenden Enden, die einem ein Lächeln auf die Lippen treiben können. Die Literatur des Jahrhunderts sind sie freilich nicht, denn „Japanischer Alltag“ präsentiert neben den deutschen Texten das japanische Original und dient daher eher als Übungslesebuch. Die deutschen Übersetzungen umfassen folglich nur die Hälfte der knapp 180 Seiten. Wer sich nicht für die Lektüre im Original interessiert, zahlt einen stolzen Preis von 18,90 EUR für acht Kurzgeschichten. Doch leider sind diese Kurzgeschichten derzeit die einzigen Übersetzungen von Werken des so überaus produktiven Jiro Akagawa…

Bibliographische Angaben:
Akagawa, Jiro: „Japanischer Alltag“, Buske, Hamburg 2009, ISBN 978-3-87548-538-7

Mittwoch, 15. August 2012

Jiro Akagawa

Jiro Akagawa gilt als überaus fleißiger Schreiberling: Zwischenzeitlich hat er schon über 500 Werke verfasst. Der 1948 in Fukuoka geborene Autor begann 1976 mit dem Schreiben. Für seine erste Veröffentlichung „Geisterbahn“ erhielt Jiro Akagawa den Akutagawa-Literaturpreis.

Viele seiner Krimis und Gruselgeschichten wurden als Anime, Filme oder Videospiele umgesetzt. 2012 startet zudem die Verfilmung seiner Reihe eines beliebten Katzenkrimis namens „Mikeneko Holmes“.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Kurzgeschichten und hier rezensiert:

Dienstag, 14. August 2012

„Der Fang“ von Kenzaburo Oe

Ein typischer Kenzaburo Oe-Schauplatz: Ein abgeschiedenes Dorf. Der zweite Weltkrieg liegt in den Endzügen. Ein US-amerikanisches Flugzeug stürzt in den Bergen ab. Nur einer der Insassen, ein Afroamerikaner, überlebt und wird von den Dorfbewohnern gefangen genommen. Der Feind wird in ein Kellerloch gesteckt. Insbesondere die Kinder sind fasziniert von dem großgewachsenen, feindlichen Soldaten, der eine völlig andere Hautfarbe hat.

Der Ich-Erzähler, ein heranwachsender Junge, nähert sich dem Soldaten immer mehr an, da er für seine Versorgung mit Nahrungsmittel zuständig wird. Bald weicht jegliche Scheu der Dorfbewohner vor dem Fremden und der Soldat wird nur noch als harmloses Haustier erachtet, das sich sogar relativ frei im Dorf bewegen kann. Doch in dem Haustier schlummert immer noch der Feind, der um sein Überleben ringt. Das Dorf, das bisher kaum Auswirkungen des Kriegs verspürt hat, erlebt sein eigenes Kriegsdrama, das den Ich-Erzähler abrupt erwachsen werden lässt.

Kenzaburo Oe erhielt mit 23 Jahren für „Der Fang“ den Akutagawa-Literaturpreis. Wie schnell aus Feinden Freunde, aus Freunden Feinde werden können, zeigt die Erzählung eindrücklich auf.

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Der Fang“, Suhrkamp, Frankfurt 1995, ISBN 3-518-22178-7 

Montag, 13. August 2012

„Finsternis eines Sommers“ von Takeshi Kaiko

In Europa treffen er und sie, ein ehemaliges Pärchen, wieder aufeinander. Sie, die sich als Waise bezeichnet und als Frau in Japan keine berufliche Perspektive im Wissenschaftsbetrieb hatte, war nach Europa gegangen und hat nach Jahren der Entbehrung die Chance erhalten, zu promovieren. Zwischenzeitlich hasst sie alles, was mit Japan zu tun hat – ihn selbstverständlich ausgenommen. Doch er ist gefangen in unglaublicher Lethargie. Deswegen bestehen die ersten hundert Seiten in Takeshi Kaikos Roman „Finsternis eines Sommers“ vor allem aus Beschreibungen von Schlafen, Sex und Essen. Erst danach wird offenbar, warum auch er mindestens so verloren ist wie sie.

Doch „Finsternis eines Sommers“ ist alles andere als ein tragischer Liebesroman. Schonungslos reflektiert er über sie:

„Das Erstaunen über das, was eine Frau in ihrer Einsamkeit innerhalb von zehn Jahren so alles zusammenbringt, ebbte ab, und was blieb, war der Blick auf eine Ödnis ohnegleichen.“ (S. 77)

Und auch sich selbst legt der männliche Protagonist unters Mikroskop:

„Ja, ich glaube fast, dass nichts besser zu mir passt als ein nächtlicher Zug voller Abfall und Lärm. Ein jeder hat die Energie verloren, das eigene Ich zu verdecken; alle sind nackt und bloß und starren sich mit Fisch- oder Froschaugen an, ohne sich zu schämen und den Blicken auszuweichen.“ (S. 120)

„Schwatzen ist Syphilis. Auch Selbstreflexion ist Syphilis. Für mich in meiner jetzigen Situation ist Friede Syphilis.“ (S. 223)

Wie der Titel des Romans bereits impliziert, lässt man sich auf sehr finstere Lektüre mit Takeshi Kaikos Werk ein. Auch kommt er streckenweise mit einer Handlung aus, die gegen Null geht. Der Reiz geht von den (selbst-)verletzenden Psychogrammen der Protagonisten aus und insbesondere davon, dass sich die beiden Japaner größtenteils in Deutschland aufhalten.

Bibliographische Angaben:
Kaiko, Takeshi: „Finsternis eines Sommers“, Edition Q, Berlin 1993, ISBN 3-86124-228-1

Sonntag, 12. August 2012

Takeshi Kaiko

Takeshi Kaiko (eigentlich: Ken Kaiko) wurde 1930 als ältester Sohn eines Grundschullehrers in Tennoji-kun geboren. Als sein Vater 1943 starb, wurde der Mittelschüler Takeshi Kaiko zum Familienoberhaupt. 1944 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Als er nach Kriegsende die Schulausbildung fortführen konnte, nahm er diverse Gelegenheitsjobs wahr, um das Auskommen der Familie zu unterstützen.

Nach seinem Schulabschluss nahm er ein Studium an der Universität von Osaka auf. Mit dem Schreiben begann Takeshi Kaiko im Jahr 1951. Durch eine literarische Gruppe lernte er seine baldige Ehefrau Yoko Maki kennen. Zunächst arbeitete Takeshi Kaiko in der Werbeabteilung von Suntory, wurde jedoch bald Vollzeitautor. 1958 erhielt er den Akutagawa-Literaturpreis. Ab dem folgenden Jahr verbrachte der Autor einige Zeit im Ausland; unter anderem in China, Rumänien, Tschechoslowakei und in der Sowjetunion. Von 1964 bis 1965 war er Auslandskorrespondent in Vietnam für die Asahi Shinbun. Seine Kriegserfahrungen verarbeitete er in Romanen.

Takeshi Kaiko war Mitgründer der pazifistischen Organisation Behrein, trat jedoch aus, als diese anti-amerikanische Züge bekam.

1989 starb Takeshi Kaiko infolge einer Lungenentzündung, die aufgrund einer Speisröhrenkrebserkrankung aufgetreten war.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetze Romane/Erzählungen und hier rezensiert: 

Sonntag, 5. August 2012

„Fremde Wasser“ von Yoko Tawada, herausgegeben von Ortrud Gutjahr

„Wenn Sie hier sind, haben Sie vielleicht das Gefühl, dass es ein ‚hier’ gibt. Damit meine ich, dass Sie zum Beispiel in der Moderne leben, die alles andere hinter sich gelassen zu haben sollte, und dass Sie in der ersten Welt leben, in der Sie vor bodenloser Armut und einer tödlichen Diktatur geschützt sein sollten. Aber wenn ich verschiedene Länder und Zeiten durcheinanderbringe und in diesen Raum importiere, zeigt dieser Raum seinen eigentlichen Charakter als Wasser, das keine Grenzen kennt. Und wer wirklich bereit ist, in einer Hafen-City zu wohnen, muss damit rechnen, dass in jedem Moment ein unbekanntes Schiff erscheint.“ (S. 73)

So startet Yoko Tawada in ihre zweite Poetikvorlesung. Insgesamt drei an der Zahl enthält der Band „Fremde Wasser“. Darüber hinaus tummeln sich 17 wissenschaftliche Beiträge, die sich mit dem Sprachphänomen Yoko Tawada befassen. Ein Interview mit ebendieser komplettiert den Band.

Doch zunächst zurück zu den drei Vorlesungen, die im Rahmen einer Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik im Sommersemester 2011 nur wenige Monate nach der verheerenden Natur- und Nuklearkatastrophe in Japan gehalten wurde. Daher startet Yoko Tawada auch so in die erste Vorlesung:

„Hiroshima endet genau wie Fukushima auf ‚Shima’, und das Wort ‚Shima’ bedeutet Insel.“ (S. 49)

Doch im Zentrum dieser ersten Vorlesung soll ein anderes „Shima“ – Tanegashima – stehen, auf der die ersten Europäer im 16. Jahrhundert landeten. Yoko Tawada illustriert hier jedoch auch ihre eigene „Landung“ im Westen, nämlich ihre Erfahrungen als Japanerin in Hamburg und den Besuch erster sprachwissenschaftlicher Vorlesungen, unter anderem über Roland Barthes.

Die zweite Vorlesung widmet Yoko Tawada der Insel Dejima, auf der die holländischen Handelspartner isoliert lebten. Sie begibt sich jedoch auch nach Südafrika, spürt Afrikaans als „belastete Sprache“ nach und stellt offene Fragen:

„Wie stark ist eine Sprache belastbar? Gibt es die Unschuld der Sprache? Bin ich vielleicht eine perverse Autorin, die sich nur für belastete Sprachen interessiert?“ (S. 77)

Die dritte und letzte Vorlesung steht unter dem Thema Uraga, dem Hafen, in den 1853 die schwarzen Schiffe der US-Amerikaner einliefen, um Japan zu Handelsbeziehungen mit den USA zu zwingen. Yoko Tawada widmet sich hier unter anderem dem Brecht-Stück „Die Judith von Shimoda“, das auf einem Werk von Yuzo Yamamoto basiert, und Puccinis „Madame Butterfly“.

Damit endet der von Yoko Tawada verfasste Teil von „Fremde Wasser“. Die Vorlesungen sind hier nur kurz angerissen, da man der Fülle von Yoko Tawadas Gedankengängen in einer Zusammenfassung ohnehin nicht gerecht werden könnte und man getrost auf das Buch selbst verweisen kann. Yoko Tawadas Beiträge lesen sich wie immer höchst interessant und ohne die Schwere von wissenschaftlichen Abhandlungen, die man bei dem Begriff „Vorlesung“ unterstellen könnte.

Die folgenden 17 wissenschaftlichen Aufsätze nehmen den größten Teil von „Fremde Wasser“ ein. Hier begibt sich Sigrid Weigel beispielsweise auf „Suche nach dem E-mail für Japanische Geister“, Christine Ivanovic und Franziska Schößler betrachten Yoko Tawadas Bühnenstücke, Andrea Bandhauer widmet sich dem Wasser, der Weiblichkeit und den Metamorphosen in „Schwager in Bordeaux“, Yasemin Dayioglu-Yücel fragt sich, ob sich Yoko Tawadas Werke als magischer Realismus verorten lassen und Vibha Surana fragt „Was hört auf, wo Europa anfängt?“.

Sicherlich muss sich der Leser hier auf etwas schwerere, analytische Kost einlassen, die die Lektüre jedoch allemal wert ist, wenn man sich mit Yoko Tawadas Werken näher befassen möchte. Ein kleines bisschen Grundwissen zu Barthes, Benjamin und Derrida sei jedoch empfohlen. Auch die Lektüre von Yoko Tawadas Werken sollte bereits vor dem Lesen der Aufsätze erfolgt sein, um den Gedankengängen der einzelnen Autoren gut folgen zu können.

„Fremde Wasser“ zeigt eindrücklich das (Sprach-)Genie der Autorin und Ethnologin Yoko Tawada auf und lässt den Leser tiefer in die Bedeutungszusammenhänge hinabtauchen. Eine Pflichtlektüre für jeden Yoko Tawada-Fan!

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko & Gutjahr Ortrud (Hrsg.): „Fremde Wasser“, Konkursbuch, Tübingen 2012, ISBN 978-3-88769-777-8