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Sonntag, 27. September 2020

„Das Seidenraupenzimmer“ von Sayaka Murata

Die Neuveröffentlichung „Das Seidenraupenzimmer“ von Sayaka Murata nimmt das Thema ihres Romans „Die Ladenhüterin“ wieder auf: Wie steht es um Außenseiter, die sich nicht in die gesellschaftliche Vorgabe „Heiraten und Familiengründung“ fügen? Diesmal geht die Autorin aber zunächst einmal zurück in die Kindheit der Protagonistin Natsuki und beleuchtet, was sie überhaupt zur Außenseiterin gemacht hat. In Natsukis Fall: ein Elternhaus, in dem sie nicht geliebt wird, und ein Lehrer, der sie missbraucht. Die Flucht in die Fantasie scheint alternativlos – Natsuki glaubt, ein Magical Girl zu sein und hat in einem Stofftier einen imaginären Beschützer gefunden. 

Natsukis Feind ist „die Fabrik“, genauer gesagt: die Menschenfabrik – denn die Produktion von neuen Menschen, die Reproduktion, ist das oberste Ziel der Gesellschaft. Natsukis Menschsein wird zur Funktion eines Werkzeugs degradiert – sie soll sich für die Produktion von Menschen, also dem Gebären von Nachkommen einsetzten. 

In ihrem Cousin Yu findet Natsuki einen Gleichgesinnten, den sie jedoch nur einmal im Jahr zum Ahnenfest treffen kann. Sie schwören sich gegenseitig aufs Überleben und Durchhalten ein – bis sie sich ein Jahr später erst wiedersehen können. Doch schließlich werden die beiden nach einem Familienskandal getrennt und erst recht an die Kandare genommen. 

Erst Jahre später treffen sich Natsuki und Yu wieder. Zwischenzeitlich ist Natsuki eine Scheinehe mit Tomoobi eingegangen, der ebenfalls von seiner Familie gegängelt wird. Ob die drei Außenseiter sich gemeinsam dem Zugriff der Fabrik entziehen können?

Gegen „Das Seidenraupenzimmer“ kommt einem „Die Ladenhüterin“ ziemlich harmlos vor. Die schreckliche Stimmung in Natsukis Familie schlägt aufs Gemüt, die Missbrauchsszenen will man lieber nicht gelesen haben. Und das große Finale ist geradezu grotesk, aber gelungen.

Bibliographische Angaben:
Murata, Sayaka: „Das Seidenraupenzimmer“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Aufbau Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3351037932

Samstag, 6. Juni 2020

„50“ von Hideo Yokoyama

„50“ ist das dritte Werk Hideo Yokoyamas, das bisher ins Deutsche übersetzt wurde. Wer die vorausgegangenen Veröffentlichungen „64“ und „2“ gelesen hat, der weiß, dass bei Hideo Yokoyama die eigentliche Kriminaltat weniger im Vordergrund steht, als die Beschreibung von Strukturen und Vorgängen im Strafverfolgungsapparat. Und so verwundert es auch bei „50“ nicht, dass wenig Spannung aufgebaut wird. Gleich auf den ersten Seiten ist klar, wer der Täter ist. Es stellt sich nämlich der 49-jährige Polizeiausbilder Kaji. Er gibt an, seine schwer an Alzheimer erkrankte Ehefrau auf deren eigenes Verlangen hin getötet zu haben. Sie habe es nicht länger ertragen können, ihren verstorbenen Sohn mehr und mehr zu vergessen und wolle zumindest als Mutter sterben.

Das erste Kapitel wird aus der Sicht des Ermittlers Shiki erzählt. Er ist Abteilungsleiter im Dezernat und wird wegen seiner exzellenten Verhörtechniken damit betraut, Kajis Aussage aufzunehmen. Nachdem der eigentliche Tatverlauf geklärt ist, tut sich dennoch eine Ungereimtheit auf: Wieso hat sicht Kaji erst drei Tage nach der Tat gestellt? Was hat er in diesen Tagen getrieben? Und wieso schweigt er so hartnäckig, wenn es um diese Fragestellung geht?

Für die Polizei steht ihr Ruf auf dem Spiel. Daher muss Kaji eine plausible Erklärung liefern – egal ob sie korrekt ist oder nicht. Sowohl die Presse als auch die Staatsanwaltschaft sind misstrauisch, was die Polizei an Ergebnissen liefert, und stellen eigene Nachforschungen an. So wird in fünf weiteren Kapiteln aus jeweils anderen Blickwinkeln der Fall beleuchtet. Dabei erfährt der Leser mehr über die Strukturen und Prozesse der japanischen Strafverfolgung und zugleich werden auch die persönlichen Probleme der jeweiligen Protagonisten dargestellt.

„50“ illustriert vor allem den Prozess, den Shiki als „aufs Fließband setzen“ beschreibt:

„Wenn in einem Fall der Verdächtige ein volles Geständnis ablegt und alle Unterlagen in Ordnung sind, kommt er quasi wie mit einem Freifahrtschein durch das Polizeiverhör, durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und durch das Gerichtsverfahren. Etwa so, als säße er auf einem Fließband. Gefährlich finde ich daran, dass das auch so läuft, wenn man überhaupt nichts darüber weiß, wie es im Innern des Verdächtigen aussieht. Kaji ist ein Musterbeispiel dafür.“ (S. 326)

Natürlich war auch „50“ kein Buch, durch das man sich in Windeseile durchgefressen hat. Der Schurke ist auch kein wirklicher Bösewicht, sondern ein sympathischer älterer Mann. Der Roman lebt vielmehr von den vielen Blickwinkeln auf den Fall und den Charakteren, die alle ihren täglichen Kampf ausfechten müssen. Um sich im Job zu behaupten, ein Familienleben aufrecht zu halten oder auch alleine klar kommen zu müssen.

Bibliographische Angaben:
Yokoyama, Hideo: „50“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bartels, Nora), Atrium, Zürich 2020, ISBN 978-3-85535-097-1

Sonntag, 3. Mai 2020

„Unschuldige Täter“ von Keigo Higashino

Manchmal bedarf es das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt: Ein verregnetes, kaltes Mai-Wochenende mit Corona-Ausgehbeschränkungen plus ein spannender Keigo Higashino-Roman, der (zum Teil) im Sommer am Meer spielt. Innerhalb weniger Stunden war das Werk verschlungen.

Leider verrät der Klappentext von „Unschuldige Täter“ für meine Begriffe glatt schon wieder ein bisschen zuviel über die Lösung des folgenden Falls: Ein Übernachtungsgast einer Pension wird in einem heruntergekommenen Örtchen, das die beste Zeit schon längst hinter sich hat, tot auf den Klippen am Meer aufgefunden. Kurz zuvor hat der Tote eine Versammlung von Umweltaktivisten, Fischern und der Firma DESMEC, die am Meeresboden nach Rohstoffen suchen will, besucht.

Zufällig hatte sich Professor Yukawa ebenfalls in dieselbe Pension wie der Tote eingemietet. Eigentlich sollte er die DESMEC beraten – doch seine natürliche Neugier treibt ihn zu eigenen Ermittlungen an, während die örtliche Polizei das Ganze am liebsten als Unfall deklarieren würde. Schließlich schaltet sich auch die Polizei von Tokio ein und stellt Untersuchung zum Hintergrund diverser Personen an.

Und so entspinnt sich ein typischer Keigo Higashino-Roman, bei dem der Leser die tröpfchenweisen Informationen schon einmal für sich ordnen und über die wahre Täterschaft spekulieren kann. Und doch wird einem dieses oder jenes Detail entgehen, bis Professor Yukawa am Schluss die finale Lösung präsentiert.

Besonders gut gefallen haben mir diesmal die Protagonisten, insbesondere der kleine Junge Kyohei, der in den Sommerferien zu seinen Verwandten geschickt wird, die die Pension betreiben. Yukawa und Kyohei tun sich als Lehrer und Schüler zusammen und so wird der verschrobene Yukawa in besonders sympathischem Licht dargestellt.

Bibliographische Angaben:
Higashino, Keigo: „Unschuldige Täter“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Tropen, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-608-50413-2