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Freitag, 30. Dezember 2011

„Und unsere Tage waren es doch“ von Sho Shibata

Tokio in den 50er Jahren: Der Ich-Erzähler und Student Fumio findet ganz unerwartet in einem Antiquariat die Gesamtausgabe des Autors H., die erst vor kurzem komplett erschienen ist. Fumio ist verwundert, dass er sie so kurz nach Veröffentlichung günstig erstehen kann, und da die Bücher eine rätselhafte Anziehungskraft auf ihn ausüben, kann er nicht widerstehen, sie zu kaufen.

Als Fumios Freundin Setsuko einen Blick in die Bücher wirft, erkennt sie das Exlibris wieder. Ihr Kommilitone Sano hatte ihr ein Buch mit demselben Exlibris geliehen, bevor er auf Weisung der Kommunistischen Partei in den Untergrund ging. Setsuko ist neugierig, was aus Sano geworden ist und beginnt, ihre gemeinsamen Bekannten zu befragen.

So löst Fumios Buchkauf eine ganze Kette von Ereignissen aus, durch die der Leser nicht nur Fumio und Setsuko, sondern auch deren Freundeskreis kennen lernt: Fumio und Setsuko kennen sich seit ihrer Kindheit. Da Setsukos Familie in Fumio einen idealen Ehemann sieht, verloben sich die beiden. Doch die Beziehung erscheint eher platonisch als leidenschaftlich. Sano meint, sein Herz schlüge nur für die KP – und enttäuscht sich selbst maßlos beim Mayday-Zwischenfall: Als es zum Zusammenstoß mit der Polizei kommt, flieht er statt sich wie seine Parteifreunde dem Kampf zu stellen. Seitdem fühlt er sich als Versager. Sone ist ebenfalls kommunistisch eingestellt, steht den Weisungen der KP jedoch kritisch gegenüber. Sones Kollege Miyashita hat über Omiai Setsukos Arbeitskollegin Kazuko kennen gelernt. Bevor er sie heiratet, bittet er Fumio um eine kleine Recherche über die Charaktereigenschaften Kazukos. Fumio weiß mehr, als er Miyashita gegenüber zugeben möchte: Kazuko und ihr ehemaliger Professor sind unglücklich ineinander verliebt. Um Kazuko versorgt zu wissen, hatte der Professor das Omiai eingefädelt. Und dann gibt es noch Nose, der sich ebenfalls der KP verschrieben hat und nach deren Weisung, den bewaffneten Widerstand aufzugeben, völlig desillusioniert und hilflos ist.

„Und unsere Tage waren es doch“ von Sho Shibata ist trotz der Handlung rund um die KP kein politischer Roman. Vielmehr illustriert er das Lebensgefühl der Studenten im Japan der 50er Jahre und ihre diversen individuellen Schicksale. Dadurch dass Setsuko als emanzipierte Frau beschrieben wird, gilt Sho Shibatas Roman als eines der ersten emanzipatorischen literarischen Werke Japans.

Donnerstag, 29. Dezember 2011

Sho Shibata

Der Autor Sho Shibata wurde 1935 in Tokio geboren. Zunächst studierte er Ingenieurswissenschaften an der Universität Tokio, wechselte dann aber zur Germanistik.

Von 1962 bis 1964 weilte Sho Shibata zu Studienzwecken in Frankfurt. Der Roman „Und unsere Tage waren es doch“, den er vor seiner Abreise nach Deutschland fertiggestellt hatte und für den er 1964 in Abwesenheit den Akutagawa-Literaturpreis erhielt, entwickelte sich zu einem langfristigen Bestseller (die aktuelle deutsche Übersetzung basiert immerhin auf der schon 91. Auflage aus dem Jahr 1975).

Neben seiner literarischen Laufbahn, während der er Romane, aber auch Essays, literaturwissenschaftliche Abhandlungen und Übersetzungen aus dem Deutschen verfasste, verfolgte Sho Shibata bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1995 vor allem eine wissenschaftliche Karriere an der Universität von Tokio. Von 1999 bis 2007 war Sho Shibata Jurymitglied für verschiedene Literaturpreise. 

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Ins Deutsche übersetze Erzählungen/Romane und hier rezensiert:

    Mittwoch, 28. Dezember 2011

    „Das Fest des Abraxas" von Gen’yu Sokyu

    Auf „Das Fest des Abraxas" arbeitet der Zen-Priester Jonen hin. Der manisch-depressive, alkoholkranke, knapp 40-Jährige, der einen gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich hat, liebt die Musik und findet darin eine ekstatische Möglichkeit, den Alltag zu transzendieren. So bittet er seinen Vorgesetzten Genshu um die Erlaubnis, in dem kleinen Ort, in dem er Seelsorge betreibt, ein Konzert zu veranstalten. Genshu sieht ein Risiko darin, dass sich Jonen in der Öffentlichkeit lächerlich machen könnte, gibt aber dennoch seine Zustimmung. Der Leser begleitet Jonen in "Das Fest des Abraxas" nicht nur bei den Vorbereitungen des Konzerts, sondern auch durch seine manisch-depressiven Phasen und der Darlegung seiner religiösen Ansichten.

    Gen’yu Sokyus Werk ist ein leiser Roman, der in den Zwischentönen gesellschaftliche Problemstellungen anspricht: Die Auswirkungen der platzenden Bubble Economy auf individuelle Schicksale; Generationskonflikte; Ehen, die nur noch einer Wohngemeinschaft gleichen; fehlender Respekt dem Ehepartner gegenüber; Umgang mit depressiven und alkoholkranken Menschen; das einsame Sterben von alten Verwandten etc.

    Doch trotz aller Probleme, die Jonen hat bzw. auf sich zukommen sieht, bleibt die Hoffnung auf Versöhnung und individuelles Ausleben der eigenen Persönlichkeit.

    Montag, 26. Dezember 2011

    Gen’yu Sokyu

    Gen’yu Sokyu wurde 1956 als Sohn eines Zen-Priesters in Miharu in der Präfektur Fukushima geboren. Er studierte chinesische Literatur an der Keio-Universität. Mit 28 Jahren wurde er buddhistischer Mönch. Momentan unterstützt er seinen Vater im Zen-Tempel von Miharu.

    Gen’yu Sokyu debütierte erst im Jahr 2000 als Autor. 2001 erhielt er den Aktuagawa-Preis. Sein Schaffen umfasst neben fiktionaler Literatur auch Essays und Ratgeber. Gen’yu Sokyus Romane spielen meist im Priestermilieu und enthalten spirituelle Sichtweisen.

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      Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

      Freitag, 23. Dezember 2011

      „Braut des Windes“ von Kenji Hara

      Kenji Haras „Braut des Windes – Versuch einer Geschichte“ enthält die vier Erzählungen „Frau im Schatten“, „Braut des Windes“, „Wiener Festwochen“ und „Eine Geschichte von ihr“. Alle vier handeln von einem Japaner in Europa bzw. einem aus Europa nach Japan zurückgekehrten Japaner, während „Braut des Windes“ mit 163 Seiten das Kernstück bildet und so schon mehr Kurzroman als Erzählung ist: Der japanische Student Jiro begibt sich auf die Suche nach seiner (Ex-)Freundin. Diese ist Japanerin und genauso wie der Protagonist zum Studium nach Deutschland gekommen. Kaum waren die beiden ein Paar, ist sie in eine andere Stadt gezogen und der Kontakt abgebrochen. Auf eine kleine Nachricht von ihr hin begibt sich Jiro auf eine Tour durch drei Länder Europas, um ihr nachzuspüren. Unterwegs landet er in Sackgassen, nimmt die Fährte wieder auf und macht dabei vor allem die Bekanntschaften von Europäerinnen: Andrea lernt er in einer Stadt am Meer kennen, wo er eigentlich seine Freundin finden möchte. Sabine ist deren Nachbarin, die sich nicht sonderlich gut mit ihrer Schwester Claudia versteht. Mit Claudia macht Jiro Bekanntschaft, als er auf dem Weg nach Wien ist. Und dort wiederum lernt er die ungleichen Schwestern Dora und Maria kennen.

      Auch in „Frau im Schatten“ und „Wiener Festwochen“ begegnet der männliche Protagonist verführerischen Frauen. „Eine Geschichte von ihr“ ist eine Fortführung der Suche aus „Braut des Windes“: Er und sie sind beide zurück in Japan. Die von ihm gewünschte Annäherung entwickelt sich schwieriger als gedacht.

      Eine Kritik nimmt der Autor gleich selbst vorweg, indem er seine Erzählungen nur als „Versuch einer Geschichte“ bezeichnet. Manche Stellen wirken in der Tat sehr sperrig, verkopft und konstruiert. Doch den Reiz von „Braut des Windes“ macht auch der europäische Handlungsort aus.

      Sonntag, 18. Dezember 2011

      Kenji Hara

      Kenji Hara wurde 1951 geboren und studierte an der Tohoku-Universität in Nordjapan, wo er schließlich auch seine akademische Laufbahn einschlug. Mit einem DAAD-Stipendium kam Kenji Hara 1978 nach Deutschland, um bis 1980 an der Universität Bonn und der Universität des Saarlandes zu studieren. 1997 wurde er zum Professor der Germanistik berufen.

      Neben seinem Interesse für deutsche Literatur interessierte er sich auch für Kunst; insbesondere für Oskar Kokoschka und Gustav Klimt. Kenji Haras einziges unwissenschaftliches Werk „Braut des Windes“ ist inspiriert worden durch Oskar Kokoschkas „Die Windsbraut“. „Braut des Windes“ entstand während Kenji Haras Studium in Saarbrücken. Teilweise schrieb der Autor den Text direkt auf Deutsch, teilweise verfasste er ihn erst auf Japanisch und übersetzte ihn dann ins Deutsche. Das Werk erschien 2009 posthum, nachdem Kenji Hara 2008 gestorben war.

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      Ins Deutsche übersetzte/auf Deutsch geschriebene Erzählungen und hier rezensiert:

      Samstag, 17. Dezember 2011

      „Dark Water“ von Koji Suzuki

      „Dark Water“ enthält sieben (leicht) gruselige Erzählungen des japanischen Psychohorror-Autors Koji Suzuki.

      In „Dunkles Wasser“ findet Yoshimi, die allein erziehende Mutter der kleinen Ikuko, eine Kindertasche auf dem Dach des halb verlassenen Mietshauses, das die beiden bewohnen. Yoshimi fühlt eine Bedrohung, ist doch Ikuko das einzige Kind im Haus. Wer kann diese Tasche nur dort verloren haben? Als sich seltsame Begebenheiten häufen, geht Yoshimi einem Geheimnis nach: Was geschah vor zwei Jahren, als die kleine Mitsuko spurlos aus dem Mietshaus verschwand?

      „Die einsame Insel“ ist Daiba VI in der Bucht von Tokio. Aso behauptet gegenüber seinem Freund Kunsuke, er habe seine Freundin Yukari auf der im 19. Jahrhundert zu Verteidigungszwecken künstlich errichteten Insel nackt ausgesetzt. Als Aso kurz darauf stirbt, kann Kunsuke nur raten, ob Yukari tatsächlich noch auf der Insel ist, die man eigentlich nicht betreten darf. Als er Jahre später die Chance erhält, auf legalem Weg auf die Insel zu gelangen, ist er mehr als gespannt, was ihn auf Daiba VI erwarten mag.

      Eine besondere „Strafe“ erfährt der cholerische und gewalttätige Fischer Hiroyuki. Schon seit einigen Stunden hat sich seine Ehefrau nicht mehr blicken lassen. Nur ganz vage befällt ihn eine Ahnung, dass er irgendetwas vergessen hat, was in der letzten Nacht passiert war, als er betrunken nach Hause kam. Als er schließlich mit seinem Fischerboot ins Meer sticht, fügen sich die Erinnerungen langsam wieder zusammen.

      Das „Traumschiff“ besteigt Enoyoshi und bereut es nach kurzer Zeit. Denn die Ushijamas, die ihn zu einem kleinen Segeltörn mit ihrer Jacht einladen, hegen Hintergedanken: Sie wollen ihn davon überzeugen, in den Vertrieb von Autopflegeprodukten einzusteigen, um selbst durch die erfolgreiche Rekrutierung Enoyoshis in der Unternehmenshierarchie aufsteigen zu können. Sie lassen erst von ihrem Opfer ab, als die Jacht sich ohne ersichtlichen Grund im offenen Meer keinen Zentimeter mehr bewegen lässt.

      In „Flaschenpost“ stößt die Besatzung eines Fischtrawlers auf eine völlig verlassene Jacht. Sie nehmen das Schiff in Schlepptau, während sich Kazuo an Bord der Jacht begibt. Kazuo stößt nicht nur auf das Logbuch des Kapitäns, sondern erlebt den Schrecken nach, den wohl auch die ursprüngliche Besatzung an Bord erlebt haben muss.

      „Wassertheater“ handelt von einem Theaterstück, das in einer ehemaligen Diskothek stattfinden soll. Ausgerechnet bei der Premiere tropft der Hauptdarstellerin auf der Bühne Wasser ins Gesicht – offensichtlich kommen die Tropfen aus der darüber liegenden Etage. Kamiya wird geschickt, um schnell nach dem Rechten zu sehen und Abhilfe zu schaffen. In dem verlassenen Stockwerk findet er einen laufenden Wasserhahn, der ein Badezimmer unter Wasser setzt. Doch ist Kamiya wirklich allein auf der Etage?

      „Der unterirdische See“ wird von Sugiyama entdeckt, als er mit Sakakibara im Gebirge unterwegs ist. Beide sind Hobby-Höhlenforscher und finden zufällig den Eingang zu einer bisher unbekannten Grotte. Doch die Entdeckung steht unter keinem guten Stern und durch Sakakibaras unüberlegtes Handeln nimmt das Unheil seinen Lauf.

      Eingerahmt werden die Geschichten von einem Pro- und einem Epilog: Kayo will ihrer Enkelin Yuko Geschichten erzählen, um ihr die immateriellen Bedeutung des Begriffs "Schatz" klar zu machen.

      Alle Erzählungen nehmen das Motiv des Wassers auf, alle spielen im Dunstkreis der Bucht von Tokio. Der passionierte Segler Koji Suzuki bringt zudem sein Hobby mit in die Handlung ein, die zwar doch den einen oder anderen kleinen Schauder auslöst, doch keinesfalls für Alpträume sorgen wird.

      Donnerstag, 15. Dezember 2011

      Koji Suzuki

      Koji Suzuki gilt als der japanische Stephen King. Der im Jahr 1957 geborene Autor studierte französische Literatur an der Keio-Universität. Nach seinem Abschluss probierte er sich in verschieden Jobs aus und wurde schließlich der Vater zweier Töchter Hausmann, während seine Ehefrau arbeiten ging. In dieser Zeit begann Koji Suzuki Psychohorror-Literatur zu schreiben.

      1990 erhielt er den Preis für Fantasyromane mit „Rakuen“ („Paradies“). 1992 veröffentlichte er den Roman „The Ring“, der mit großem Erfolg verfilmt wurde.

      Neben seiner schriftstellerischen Karriere engagiert er sich sehr für die Stärkung der Rolle der Väter in der Kindererziehung.

      Koji Suzuki lebt mit seiner Familie in Tokio.

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      Ins Deutsche übersetzte Erzählungen/Romane und hier rezensiert:

        Montag, 12. Dezember 2011

        „Versuchter Liebestod“ von Choukitsu Kurumatani

        Der 34-jährige Ikushima heuert in Amagasaki bei Seiko an: Sein Job besteht darin, in einem stickigen Kämmerchen in einem heruntergekommenen Mietshaus, Grillspieße mit Kutteln zu bestücken, die Seiko dann in ihrer Garküche verkauft. Ikushima, ein studierter Aussteiger, findet sich im Gangstermilieu wieder: Gegenüber tätowiert der Yakuza Hori seine Kundschaft. Nebenan zitieren in die Jahre gekommene Huren Sutren, während sie ihre Freier bedienen. Ein älteres Ehepaar im Haus kommt nur über die Runden, indem es Abfälle nach verwertbaren Resten durchwühlt. Und dann ist da auch noch Ayako, die selbstbewusste Schönheit, die mit dem gefährlichen Hori liiert ist und Ikushima ganz schön den Kopf verdreht.

        Ikushima ist seinen Nachbarn suspekt. Warum macht dieser Akademiker so eine Arbeit, wenn er doch viel besseren Tätigkeiten nachgehen könnte?

        Ikushima hatte in Tokio als Anzeigenverkäufer gearbeitet und sich von Tag zu Tag leerer gefühlt. Das für seine Kollegen geltende Ziel, ein nach westlichen Normen standardisiertes Mittelstandsleben zu führen, hatte ihn abgestoßen. Schließlich hatte er gekündigt, in zwei Jahren in Tokio sein Erspartes durchgebracht und sich als Küchenhilfe in Himeji, Kyoto, Kobe, Nishinomiya und schließlich Amgasaki durchgeschlagen. Mit Lebensfreude hatte er abgeschlossen, nun hangelt er sich von Tag zu Tag, von Job zu Job.

        Mit der Zeit gewinnt Ikushima das Vertrauen seiner Nachbarn und seiner Chefin, was nicht unbedingt ungefährlich für ihn ist: Für Seiko soll er den Geldboten spielen und gerät in das Visier der Gangsterbanden Amagasakis. Für Hori soll er eine ominöse Schachtel zunächst aufbewahren und schließlich einem Yakuza überbringen. Und insbesondere seine Faszination von Ayako könnte Horis Eifer- und Tobsucht heraufbeschwören.

        Als Ikushima bereits wieder in eine andere Stadt weiterziehen möchte, gerät Ayako in eine Klemme: Um die enormen Schulden ihres Bruders zu bezahlen, wird sie bedrängt, sich für eine Gangsterbande zu prostituieren. Um diesem Schicksal zu entgehen, bittet sie Ikushima, sie in den gemeinsamen Liebestod zu begleiten. Die beiden verlorenen Seelen begeben sich nach Akame, um sich dort von den Wasserfällen in den Tod zu stürzen.

        Choukitsu Kurumatani schöpfte für „Versuchter Liebestod“ aus seinen eigenen Erfahrungen als Aussteiger. Fast nur angedeutet sind seine Reflektionen über die Funktion der Sprache, was den reflektierenden Ikushima im Milieu erst recht zum intellektuellen Outsider stempelt.

        Ein klassisches Happy End wird der Leser bei „Versuchter Liebestod“ sicherlich nicht finden, jedoch ein authentisches Zeugnis der Trostlosigkeit, die die Menschen in allen Gesellschaftsschichten ereilen kann.

        Sonntag, 11. Dezember 2011

        Choukitsu Kurumatani

        Choukitsu (auch manchmal „Chokitsu“ geschrieben) Kurumatani wurde 1945 in Himeji, in der Präfektur Hyogo als Yoshihiko Kurumatani geboren. Nach einer Landreform wurde der Familie Kurumatani ihr Grundbesitz entzogen. Das Kimonogeschäft des Vaters lief in der Nachkriegszeit, als vor allem westliche Mode nachgefragt wurde, denkbar schlecht. Die Großmutter mütterlicherseits musste mit ihrem Geldverleih oftmals finanziell aushelfen.

        Entgegen dem Wunsch der Eltern, Medizin oder Jura zu studieren, begann Choukitsu Kurumatani 1964 mit einem Studium der Literaturwissenschaften an der Keio Universität. Ein Jahr später wechselte er zur Germanistik.

        Nach seinem Studienabschluss arbeitete Choukitsu Kurumatani zunächst in einer Werbeagentur, wo er aber bald kündigte, da der Chef ein eher unkoscheres Geschäftsgebahren an den Tag legte. Seinen folgenden Job bei einem Verlag kündigte er, nachdem er 1972 den Shincho-Preis für seine Kurzgeschichte „Gelobet sei" erhielt, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Der finanzielle Erfolg blieb zunächst aber leider aus. Nachdem er völlig mittellos geworden war, arbeitete er unter anderem als Küchenhilfe in verschiedensten Kneipen und Lokalen in der Kansai-Region.

        Obwohl Choukitsu Kurumatani mehrfach für den Akutagawa-Preis nominiert wurde und den Mishima-Preis für „Ein Löffel im Salzfass" gewann, wollte sich der finanzielle Erfolg erst mit dem stark autobiographisch gefärbten Roman „Versuchter Liebestod“ einstellen, der 1998 mit dem Naoki-Preis ausgezeichnet wurde. 2001 wurde ihm der Kawabata-Preis für die Erzählung „Musashimaru" verliehen.

        Ein zentrales Motiv seiner Werke ist der Selbstmord. Als Jugendlicher war der Selbstmord seines Onkels mütterlicherseits ein prägendes Erlebnis gewesen.

        Mit der Dichterin Junko Takahashi, die er 1994 heiratete, lebte er bis zu seinem Tod im Jahr 2015 in Tokio.

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        Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

        Donnerstag, 8. Dezember 2011

        „Der Schachtelmann“ von Kobo Abe

        Ein Schachtelmann schreibt in seiner Schachtel die Geschichte eines Schachtelmanns. Um vom Durchschnittsbürger zum Schachtelmann zu werden, bedarf es nur einen kleinen Auslöser: Das große Bedürfnis, andere Leute unbemerkt beobachten zu können beispielsweise. Oder die bewusste Wahrnehmung der Existenz der Schachtelmänner, durch die Normalos durchsehen ohne sie zu bemerken. Und schon ist er dann da, der Wunsch, sich eine Schachtel, in der Kühlschränke ausgeliefert zu werden, über den Kopf zu ziehen, die Schachtel mit einem Sichtfenster zu versehen und fortan auf der Straße als Schachtelmann zu leben.

        In der Schachtel bewahrt der Schachtelmann alles auf, was er zum täglichen Leben braucht. Überall im Müll der Großstadt findet er Nützliches – doch aufbewahren sollte er nur das, was er mindestens dreimal pro Tag verwendet.

        Er sollte sich jedoch vor Bettlern hüten. Denn die befinden sich in der Hierarchie noch eine Stufe über den Schachtelmännern, da sie immerhin noch am Rand der Gesellschaft stehen, während der Schachtelmann einfach raus ist. So ein Bettler kann ganz schön rabiat werden, wenn er glaubt, dass sein Revier bedroht wird.

        Die Notizen des Schachtelmanns führen in ein surreales Labyrinth, das von Pseudoschachtelmännern, Krankenschwestern, Luftgewehrschützen und Briefmarkenmalern bevölkert wird. Wer ist ein echter Schachtelmann, welche Notizen stammen vom Pseudoschachtelmann und was hat die (Selbst-)Ermordung eines Stabsarztes damit zu tun?

        Neben all den phantastisch anmutenden Geschehnissen ist „Der Schachtelmann“ von Kobo Abe aber auch vor allem Gesellschaftskritik. Da stirbt ein Stadtstreicher an einen Pfeiler in der U-Bahnstation gelehnt und keiner der 10.000 Passanten hat den Toten registriert. Das passiert in den Großstädten der Namenlosen, in denen im Betrachten Liebe und im Betrachtet-Werden Hass liegt. Willkommen im Labyrinth, in dem sich die Schachtelmänner von Tag zu Tag vermehren!

        Sonntag, 4. Dezember 2011

        „Die schlafenden Schönen“ von Yasunari Kawabata

        Eguchi geht auf die Siebzig zu, als er in den Kreis der Besucher eines speziellen Etablissements eingeführt wird: Im Haus der schlafenden Schönen warten auf die alten Männer junge Frauen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren, die eigens für den Herrenbesuch mittels starker Schlafmittel in Tiefschlaf versetzt werden. Die Greise, die ihre Potenz schon so gut wie verloren haben, finden ihr Vergnügen darin, neben den jungen Frauen einzuschlafen. Verkehr und Ausschweifungen sind ohnehin im Haus der schlafenden Schönen verboten. Dadurch, dass die Damen schlafen, bleibt den Greisen jegliche Scham erspart.

        Fünf Mal besucht Eguchi das Etablissement und bekommt jeweils eine neue Bettgespielin zugewiesen. Er ergötzt sich nicht nur an dem Anblick der Frauen, sondern spielt mit ihrem Haar, schmiegt sich an sie, berührt ihre Lippen und insbesondere ihr Geruch erinnert ihn an seine ehemaligen Affären und Beziehungen, an seine Ehefrau, seine Töchter und seine Mutter. So lässt er sein Beziehungsleben Revue passieren, aber auch seine Freveltaten.

        Eguchi kommt zu dem Schluss, warum das Haus der schlafenden Schönen bei den alten Männern so beliebt ist:

        „So war es wohl nicht allein die Furcht vor dem nahen Tod, oder die Trauer, die Verzweiflung im Gedenken an eine verlorene Jugend, was aus der Tiefe ihrer Brust heraufschoss, wenn sie sich, die bloße Haut berührend, neben eine der ‚schlafenden Schönen’ niederlegten; vielmehr dürfte es zugleich die Reue über begangene Freveltaten gewesen sein oder das bei Erfolgreichen häufige Gefühl, dass sie ein unglückliches Familienleben führten.“ (S. 81)

        Doch nichts ist für die Ewigkeit – selbst das Haus der schlafenden Schönen nicht.

        Yasunari Kawabatas „Die schlafenden Schönen“ ist ein langsamer, poetischer Roman mit wenig Handlung. Das Konzept des „Bei-Schlafs“ hat Banana Yoshimoto für die Erzählung „Dornröschenschlaf“ sicherlich von Yasnuari Kawabata übernommen und erzählt eine Geschichte aus der Sicht einer Beischläferin.

        Samstag, 3. Dezember 2011

        Yasunari Kawabata

        Yasunari Kawabata wurde 1899 in Osaka geboren. Seine ersten Lebensjahre wurden überschattet von den Todesfällen der wichtigsten Angehörigen: Sein Vater starb, als er zwei Jahre alt war, seine Mutter, als er drei Jahre zählte und seine einzige Schwester, als Yasunari Kawabata neun war. Schließlich starben bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr auch seine Tante und seine Großeltern väterlicherseits. Nun kümmerte sich die Verwandtschaft mütterlicherseits um den Teenager.

        An der kaiserlichen Universität von Tokio studierte Yasunari Kawabata Anglistik. Nach seinem Abschluss im Jahr 1824 arbeitete er als Reporter für Mainichi Shimbun, als Literaturkritiker und schließlich auch als Autor fiktionaler Literatur. Beeinflusst durch den Kubismus, Expressionismus und Dada sah sich Yasunari Kawabata als Literat, der sich dem „l’art pour l’art“ verpflichtete. Seinen Stil benannte er als Shinkankakuha, der sich als Gegenpol zur Arbeiter-/Proletarierliteratur verstand.

        Mit seiner ersten Erzählung „Die Tänerzin von Izu“ erhielt Yasunari Kawabata 1926 erste Beachtung als Autor. 1968 erhielt er als erster japanischer Autor den Literaturnobelpreis. Yasunari Kawabata kombinierte traditionell japanische Literaturelemente mit modernen. Seine Themen umfassten Fremdheit, Einsamkeit, Liebe, Alter und Tod.

        Zwei Jahre nach dem Suizid seines Freundes Yukio Mishima beging der Parkinson-kranke Yasunari Kawabata Selbstmord, indem er sich selbst vergaste.

        Interessante Links:

        Hier rezensiert:


        Weitere ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen/Kurzgeschichten:
        • Die Tänzerin von Izu
        • Handtellergeschichten
        • Schönheit und Trauer

        Montag, 28. November 2011

        „Der Vulkan“ von Shusaku Endo

        Mit „Der Vulkan“ erzählt Shusaku Endo die Geschichte von zwei in die Jahre gekommenen Männern. Suda hat sich die letzten Jahre als Abteilungsleiter eines meteorologischen Instituts so intensiv mit dem Vulkan Rotgipfel auseinandergesetzt, dass er sich den Spitznamen „Geist des Rotgipfels“ eingefangen hat. Mit seiner Pensionierung fehlt ihm eine Aufgabe. Da ist er dankbar, dass der Stadtverordnete Aiba für ihn Verwendung hat: Aiba plant ein Hotel am Rotgipfel und Suda als Vulkanexperte soll bestätigen, dass der Vulkan nicht mehr ausbrechen wird. Suda erachtet den Rotgipfel als sein Spiegelbild: Beide sind alt und müde geworden.

        Der exkommunizierte, ehemalige katholische Priester Durand dahingegen sieht im Rotgipfel die Bedrohung durch das Böse. Jedoch verspürt Durand keine Angst vor einem Ausbruch – er ist derart verbittert, dass er einen Ausbruch regelrecht herbeisehnt. Insbesondere da Pater Sato am Rotgipfel einen Ort der inneren Einkehr für die katholischen Gläubigen schaffen will.

        Als Suda einen Herzinfarkt erleidet, werden er und der schon seit längerer Zeit kranke Durand Zimmernachbarn im selben Krankenhaus. Die Begegnungen der beiden sind marginal, doch parallel erleben sie die letzten Enttäuschungen, bevor sich das Leben zum Ende neigt. Suda muss feststellen, dass sich seine Frau und sein Sohn von ihm entfremdet haben. Mehr noch: Sie sehen in Suda nur noch eine kranke Person, die durchgefüttert werden muss. Auch die jahrelange wissenschaftliche Arbeit am Rotgipfel erweist sich als eine Farce: Entgegen Sudas Annahme ist der Vulkan nicht dabei, zu erlöschen.

        Durand reflektiert über seine Boshaftigkeiten der letzten Jahre. Doch statt sich auf seine alten Tage eines Besseren zu besinnen, führt er die Gläubigen aus Pater Satos Gemeinde vor. Dafür plagt ihn die Angst, nach seinem Tod in der Hölle zu schmoren.

        Der katholische Autor Shusaku Endo thematisiert mit „Der Vulkan“ unter anderem die Auslebung des katholischen Glaubens in Japan: Sind die Japaner ohne eine westliche Vorstellung von Sünde denn überhaupt fähig, Reue zu empfinden? Und wozu sollte man beichten, wenn man ohnehin keine Reue fühlt?

        Die Moral der Geschichte ist nicht offensichtlich. Doch es scheint fast so, als ob Shusaku Endo doch etwas mit dem Enfant terrible Durant sympathisiert. Durant setzt mit seinem Selbstmord seinem unangepassten Leben ein entsprechendes Ende und wird im Gedächtnis der Leute bleiben. Der brave Suda hingegen, der sich einem Leben der Mittelmäßigkeit verschrieben hatte, wird nach seinem Tod sofort vergessen sein.

        Sonntag, 27. November 2011

        „Knabenjagd“ von Taeko Kono

        Taeko Konos „Knabenjagd“ enthält neben der gleichnamigen Erzählung vier weitere namens „Krabben“, „Die letzten Stunden“, „Die Flut“ und „Eisenfisch“.

        „Knabenjagd“ ist wohl die bekannteste Erzählung von Taeko Kono und auch ihre verstörendste: Akiko verspürt eine enorme Abneigung gegen kleine Mädchen im Alter zwischen drei und zehn Jahren. Umso mehr fühlt sie sich zu kleinen Jungen hingezogen. Am Ziel, Opernsängerin zu werden, ist Akiko gescheitert. Mit Übersetzungen verdient sie mehr schlecht als recht. Ihre forsche Art findet einen krassen Gegenpol in ihrer Sexualität: Sie liebt es, von ihrem Partner geschlagen zu werden. Die Brutalität der sadomasochistischen Praktiken steigert sich von Mal zu Mal. Die masochistisch veranlagte Akiko läuft Gefahr, ihre Lust mit dem Leben zu bezahlen. Vielleicht schlummert auch insgeheim dieser Wunsch in ihr. Denn auch in ihrer liebsten Fantasie wird ein kleiner Junge zu Tode geschlagen.

        Yuko ist die Protagonistin in „Krabben“. Sie erholt sich gerade von ihrer Tuberkulose und bittet ihren Ehemann Kajii darum, zur Kur ans Meer fahren zu dürfen. Hier fühlt sie sich wie befreit und könnte sich gar vorstellen, ihren patriarchalischen Mann zu verlassen und in dem Küstenort neu anzufangen. Als ihr Neffe Takeshi mit seinen Eltern zu Besuch kommt, erreicht sie mit dem Versprechen, mit ihm Krabben suchen zu gehen, dass er bei ihr zwei Tage verbringt, bis Kajii sie aufsuchen wird. Doch das scheinbar einfache Unterfangen, am Strand eine Krabbe zu finden, erweist sich als ein Projekt der Unmöglichkeit.

        „Die letzten Stunden“ sind die von Noriko, die in 26 Stunden sterben soll. In dieser Situation beginnt sie über ihre Ehe mit Asari nachzudenken. Die Ehepartner lieben sich, aber im Alltag gibt es keine Auseinandersetzungen. Noriko nimmt gar von ihrer Vorgängerin vergessene Gegenstände dankbar als Geschenke von Asari an. Kann man dies als eine richtige Ehe bezeichnen? Oder sind sie nur eine Frau und ein Mann, die zusammenleben?

        Ein 12-jähriges Mädchen erlebt in „Die Flut“ den Beginn des zweiten Weltkriegs, der in Kontrast zum beschaulichen Leben zuvor illustriert wird. Kriegsschiffe halten eine Parade ab, die Kinder werden auf Tapferkeit und Fleiß eingeschworen, Feuerwerke dürfen nicht mehr stattfinden, der Klassenlehrer wird eingezogen und für die Schuluniform kann nur noch minderwertiger Stoff verarbeitet werden.

        Die Frau hat ihren Ehemann verloren, da er in den „Eisenfisch“ stieg, der gegen den Rumpf des Riesenfisch rammte. Nun wird ihr Ehemann in einem Heiligtum verehrt. So lautet die Umschreibung der Frau für den Tod ihres Manns als menschlicher Torpedo im zweiten Weltkrieg. Das Heiligtum ist der Yasukuni-Schrein, der den gefallenen japanischen Soldaten gewidmet ist. Erst Jahre nach Kriegsende findet die Frau die Kraft, den Schrein und insbesondere einen ausgestellten Torpedo zu besichtigen. Doch sie kann sich den Schrecken des Krieges nur stellen, indem sie verklausuliert von Eisenfischen und Riesenfischen spricht.

        Mit Ausnahme von „Die Flut“ kreisen die Themen des Bandes um die Ehen und Partnerschaften der Protagonistinnen. In einer patriarchalischen Gesellschaft finden die Frauen unterschiedliche Strategien zur Bewältigung des Alltags, mögen sie auch noch so bizarr sein.

        Einige Stellen in „Knabenjagd“ sind so drastisch, dass man sie am liebsten Überlesen würde. Doch insbesondere „Eisenfisch“ ist ein raffiniert konstruiertes Stück Erzählkunst, das man nicht missen möchte.

        Samstag, 26. November 2011

        Taeko Kono

        Takeo Kono wurde 1926 in Osaka geboren. Die Tochter eines Geschäftsmanns war bereits als Kind kränklich und las sehr viel, insbesondere Werke von Junichiro Tanizaki und Kyoka Izumi. Als Jugendliche wurde sie aber dennoch im Krieg als Fabrikarbeiterin zur Herstellung von Uniformen eingesetzt.

        1947 schloss Taeko Kono ihr Wirtschaftsstudium an der Osaka Universität ab und zog nach Tokio. Während sie dort Vollzeit arbeitete, schrieb sie am Abend.1962 erhielt sie für „Knabenjagd“ den Shinchosa-Literaturpreis. Kurz bevor sie 1964 für den Akutagawa-Preis nominiert wurde, kündigte sie ihren Job, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. 1965 heiratete Taeko Kono den Maler Yasushi Ichikawa. In den 90er Jahren wurde sie mit der Übersetzung von „Knabenjagd“ ins Englische auch international bekannt.

        Taeko Konos Werke zeichnen sich durch die Beschreibung des Abnormalen und Bizarren, das sich hinter einer Fassade von Alltäglichkeit versteckt, aus. Wie auch bei ihrem Vorbild Junichiro Tanizaki werden sadomasochistische Neigungen thematisiert. Insbesondere ihr Frühwerk wird als „böser Ästhetizismus" bezeichnet. Die Hauptakteure sind meist Frauen, manchmal Kinder.

        Lange Zeit litt Taeko Kono an Tuberkulose – und auch ihre Charaktere leiden oft an dieser Krankheit; ihre Rekonvaleszenz markiert meist einen Wendepunkt.

        Interessante Links:

        Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

          Freitag, 25. November 2011

          „Wanzentagebuch“ von Mokichi Saito

          „Wanzentagebuch – Die kleinen Leiden und Freuden eines japanischen Studenten in Europa zwischen den zwei großen Kriegen“ von Mokichi Saito enthält 56 Essays, die im Stil des Zuihitsu („dem Pinsel folgen“) verfasst sind. Der Autor, der Anfang der 20er Jahre zu Studienzwecken in Europa weilte, dokumentiert damit seinen Aufenthalt und präsentiert ein Stück Zeitgeschichte durch die Augen eines Fremden: Wie äußert sich der aufziehende Antisemitismus an der Universität von Wien? Wie erlebt der Japaner den Hitler-Putsch in München? Wie und wann dringen die Informationen über das große Kanto-Erdbeben bis in die bayerische Landeshauptstadt?

          Darüber hinaus darf der Leser an den Leiden des Studenten teilhaben: Wo in München lässt sich denn bloß ein wanzenfreies Zimmer auftun? In einer Inflation, in der 12 Billionen deutsche Mark für gerade mal ein englisches Pfund eingewechselt werden, schnappt ihm ein Dollar-Student die heiß ersehnte Fachliteratur vor der Nase weg. Was tun mit dem eingewechselten Geld, das morgen schon nichts mehr wert sein wird? Der Professor ist nicht zufrieden mit den Analysen des Studenten und eine Kurzgeschichte aus der Heimat treibt ihm daraufhin prompt die Tränen der Enttäuschung in die Augen.

          Mokichi Saito reist im Europa der 20er: Ausgerechnet in Ungarn erlebt er die Kaisertreue, die er von den Österreichern erwartet hätte. Er fährt in die Alpen, an den Bodensee, an Nietzsches Grab und geht auf die Suche nach der Donauquelle. In den Bergen fühlt er sich an seine Heimat in Yamagata erinnert. Schließlich begibt er sich auch auf die Spuren von Ogai Mori, der wie Mokichi Saito einst zum Medizinstudium nach Europa kam: Wo mag sich nur das Café Minerva befunden haben, das Ogai Mori in „Wellenschaum“ beschrieben hat? (Hier sei's verraten: Es war in der Akademiestr. 9 situiert.)

          Und natürlich macht Mokichi Saito seine kulturellen Erfahrungen: Die Europäer waschen sich mit einem Waschlappen statt ins Badehaus zu gehen. Im Bett tragen sie seltsame Nachthemden. Und sie küssen sich ganz unverblümt und innig mitten auf der Straße. In der katholischen Kirche wird er gescholten, dass er den Hut nicht abnimmt; in der Synagoge wiederum muss er eine Kopfbedeckung tragen. Gut, dass es in München die „Japantante“ gibt, in deren Wohnung alle japanischen Studenten willkommen sind, bei der sie sich über ihre Sorgen und Nöte auslassen können und Unterstützung finden!

          Insbesondere für Leser mit Interesse an Wiener und Münchner Geschichte ist „Wanzentagebuch“ ein kleiner Leckerbissen. Mit enormer Sorgfalt wurden vom Herder Verlag hunderte von Fußnoten zu den einzelnen Essays zusammengetragen; seien es thematisch passende Gedichte von Mokichi Saito, Biographien oder auch die heutige Beschaffenheit der beschriebenen Plätze. Einzig und allein bleibt die Neugierde, was der verheiratete Mokichi Saito auf Reisen mit seinen weiblichen, europäischen Begleiterinnen so angestellt hat – hier ist er Gentleman und schweigt primär.

          Donnerstag, 24. November 2011

          Mokichi Saito

          Mokichi Saito wurde 1882 in der Präfektur Yamagata geboren. Er studierte Medizin in Tokio und ging zwischen 1921 und 1924 zu Studien- und Weiterbildungszwecken an die Universitäten von Wien und München. Nach seiner Rückkehr war das Krankenhaus seines Schwieger- und gleichzeitig Adoptivvaters, das er übernehmen sollte, niedergebrannt. Unter großen Anstrengungen gelang ihm die Finanzierung eines Neubaus.

          Als Hausarzt des japanischen Autors Ryunosuke Akutagawa war es Mokichi Saito, der Ryunosuke Akutagawa mit der tödlichen Dosis Veronal für dessen Selbstmord versorgte.

          Doch Mokichi Saito war auch Dichter und als solcher Anhänger von Sachio Ito und der Araragi-Schule. Sein komplettes Werk umfasst 56 Bände und knapp 18.000 Gedichte. 1951 erhielt er den japanischen Kulturorden. Zwei Jahre später starb Mockichi Saito.

          Sein zweiter Sohn ist der Autor Morio Kita.

          Interessante Links:

          Ins Deutsche übersetzte Essays und hier rezensiert:

          Samstag, 19. November 2011

          „Das Graskissen-Buch“ von Soseki Natsume

          „Das Graskissen-Buch“ von Soseki Natsume ist ein Künstlerroman in doppeltem Sinne. Einerseits ist der Ich-Erzähler Künstler, der viel über seine Auffassung von Kunst reflektiert. Andererseits ist auch der Stil von „Das Graskissen-Buch“ künstlerisch. Der Autor Soseki Natsume spricht gar von einem „Haiku-Roman“.

          Der Ich-Erzähler, ein Maler im westlichen Stil, begibt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufs Land, um seine Einstellung als Künstler zu verfeinern. Er versteht die Haltung, die ein Künstler anzunehmen hat, wie folgt:

          „Man könnte es vielleicht so ausdrücken, dass diejenigen als Künstler zu bezeichnen sind, die von der viereckigen Welt die eine Ecke, die ‚gesunder Menschenverstand’ genannt wird, abschleifen und in einer dreieckigen Welt leben.“ (S. 45)

          Wie ein Zen-Priester sieht er das geistige Ideal darin, den menschlichen Leidenschaften enthoben zu sein.

          In seiner Herberge trifft der Künstler auf Onami, die Tochter des Hausherrn. Diese entspricht einem sehr modernen Typ von Frau, gewissermaßen einer Femme Fatale. Onami fordert ihn heraus, provoziert und fasziniert ihn, der wohl doch noch nicht so ganz den menschlichen Leidenschaften enthoben zu sein scheint.

          Soseki Natsume widmet „Das Graskissen-Buch“ der Betrachtung des Schönen. Sei es ein Mandarinenhain, der Spiegelteich, den Schatten, die ein Baum wirft. Dabei werden theoretische Überlegungen zur Ästhetik, die einerseits typisch für das Fin de Siecle, andererseits klassisch asiatisch sind, eingeflochten. Zwar gibt es stellenweise amüsante Dialoge, doch „Das Graskissen-Buch“ ist primär ein ruhiges und theoretisches Buch und damit nichts für Leser, die eine kurzweilige Handlung erwarten.

          Montag, 14. November 2011

          Soseki Natsume

          Soseki Natsume (Jahrgang 1867) wurde in Tokio als Kinnosuke Natsume und sechstes Kind eines Ortsvorstehers geboren. Da ihn seine Eltern nicht selbst aufziehen wollten, ließen sie ihn im Alter von zwei Jahren von der kinderlosen Familie Shiobara adoptieren. Sieben Jahre später kehrte er in die Familie Natsume zurück, wo ihn insbesondere sein Vater sehr barsch behandelte.

          Von 1890 bis 1893 studierte Soseki Natsume in Tokio englische Literatur, um sich anschließend als Lehrer zu verdingen. 1901 bis 1903 studierte er in London weiter. Nach seiner Rückkehr nach Japan wurde er Universitätsdozent.

          Schon früh begeisterte sich Soseki Natsume für chinesische Literatur. Er wurde zudem von Shiki Masaoka in seiner Leidenschaft unterstützt und von ihm zum Verfassen von Haikus angeleitet. 1903 begann seine literarische Karriere mit dem Publizieren von Gedichten in Literaturmagazinen. Seinen Durchbruch hatte er jedoch mit dem satirischen Roman „Ich der Kater“.

          1916 starb Soseki Natsume an Magenbluten und hinterließ 14 Romane.

          Interessante Links:
          • Und hier geht es zum Haus, in dem Soseki Natsumes „Ich der Kater“ entstand

          Hier rezensiert:


          Weitere ins Deutsche übersetzte Romane:
          • Und dann 

          Sonntag, 13. November 2011

          „Sly“ von Banana Yoshimoto

          Als Kiyose und Hideo von Takashi erfahren, dass dieser HIV positiv ist, beschließen sie, einen HIV-Test zu machen. Kiyose war Takashis erste Freundin, Hideo eine von Takashis homosexuellen Beziehungen und daher besteht bei beiden die Gefahr einer Ansteckung. Ohne die Testergebnisse abgeholt zu haben, beschließen die drei, gemeinsame Erinnerungen zu schaffen, indem sie einen Urlaub in Ägypten verbringen.

          Im faszinierenden Land der Pharaonen besuchen sie, während sie in einer weiteren Japanerin auf Äqypten-Trip eine Reisegefährtin finden, unter anderem Luxor, das Tal der Könige und die Grabbeigaben des Tutenchamun.

          Die Autorin Banana Yoshimoto entleiht den Titel „Sly“ dem gleichnamigen Song von Massive Attack, den die Protagonisten hören, nachdem Takashi von seiner Infektion berichtet hatte. Der Song wird damit auch Motiv für die anstehende Reise.

          Obwohl Banana Yoshimoto auch in „Sly“ das Herz der Ich-Erzählerin Kiyose zum Überschäumen positiver Gedanken bringt, bleiben die Personen diesmal seltsam blutleer. Und manche Gedankengänge bleiben schlichtweg nicht nachvollziehbar. So äußert Kiyose zum Beispiel dies, nachdem Takashi ihr gerade berichtet hat, dass er sich nun gesünder ernähren muss, um den Ausbruch von AIDS möglichst lange hinaus zu zögern:

          „Das liebliche Licht des Frühlings und ein Wasserspiegel, der es glitzernd zurückwirft. Nur in einer so ruhigen, wohlwollenden Welt kommen wir einander nah.“ (S. 34)

          Passt dies zu der vorhergehenden Situation?

          Zudem wird dem Reisebericht selbst sehr viel Platz eingeräumt, was zwischendurch regelrecht ermüdend sein kann. Schade, dass diese Seiten nicht eher dem Thema des bevorstehenden Todes Takashis gewidmet wurden.

          Insgesamt bleibt für mich die unnachahmliche Banana Yoshimoto-Stimmung, die den Leser verzaubert und in die Geschichte einsaugt, bei „Sly“ leider aus. Stattdessen stehen blumige Worte in ziemlich irritierendem Kontext, was sich im Lesefluss niederschlägt.

          Mittwoch, 9. November 2011

          „Warum ich Frauen trotzdem mag“ von „Beat“ Takeshi Kitano

          Schon „Die Welt hasst mich“ von „Beat“ Takeshi Kitano hat mich alles andere als vom Hocker gehauen. „Warum ich Frauen trotzdem mag“ lässt mich an manchen Stellen erneut den Kopf schütteln. Was soll ich mit der Information anfangen, dass Herr Kitano Frauen mit einer noch nie gehörten Weisheit belehren mag: Wenn frau abnehmen will, soll sie weniger essen und mehr Sport machen. Oder dann im Gegenzug ein Ammenmärchen: Onanie macht impotent.

          Die Kapitelüberschriften lauten so plakativ wie „Oh, ihr Frauen von heute, was seid ihr für verkommene Luder“, „Frauen die einem Angst einjagen“, „Häuser und Frauen sollte man besser mieten“ und irgendwie ergibt sich bei der Lektüre der Eindruck, der Autor verfällt in eine „Alles Bitches außer Mama“-Attitüde.

          Insgesamt bietet „Warum ich Frauen trotzdem mag“ hauptsächlich unbedeutendes Palaver: Man darf unter anderem festhalten, dass „Beat“ Takeshi Kitano dicke Frauen mag; rasierte Bikini-Zonen dagegen nicht. Dass er verheiratet ist und Fremdgehen erlaubt ist, solange er sich nicht dabei erwischen lässt. Dass er kein Haus kaufen will, da seinen Nachkommen nach der Erbschaftssteuer nichts davon bleiben würde. Gähn...

          Einzig und allein die letzten Seiten mögen für Kitano-Fans interessant sein, da hier auf die Rekonvaleszenz des Autors nach dessen schweren Motorradunfall eingegangen wird.

          Dienstag, 8. November 2011

          „Das Ballettmädchen“/„Die Tänzerin“ von Ogai Mori

          „Das Ballettmädchen“ (bzw. in anderer Übersetzung „Die Tänzerin“) ist Ogai Moris autobiographische Aufzeichnung seiner eigenen Liebesbeziehung zur Berlinerin Elise Wiegert: Der japanische Student Toyataro weilt zu Studienzwecken in Berlin. Er meidet die anderen japanischen Studenten, die einen Klüngel bilden. Vielmehr ist er offen für die europäische Kultur und saugt insbesondere Literatur regelrecht in sich auf.

          Eines Tages begegnet er Elis, einer blutjungen Tänzerin, der er aus einer finanziellen Notlage hilft. Die beiden nähern sich mehr und mehr an und sind bald ein Liebespaar. Doch ihnen ist kein langfristiges Glück vergönnt: Toyataros Beziehung zu Elis wird von einem missgünstigen japanischen Kommilitonen angeprangert. Daraufhin verliert Toyataro sein Stipendium und muss sich als Zeitungskorrespondent in Berlin durchschlagen.

          Als Toyataros Freund Aizawa nach Berlin kommt, drängt dieser den mittellosen Toyataro, mit ihm nach Japan zurückzukehren und die Beziehung zu der mittlerweile schwangeren Elis zu beenden, um die gesellschaftliche Ächtung aufzuheben. Elis verfällt dem Wahnsinn, als sie von Toyataros Verrat erfährt.

          Ogai Moris „Das Ballettmädchen“ markiert einen Meilenstein: Die Novelle ist das erste Werk eines japanischen Autors, das in der ersten Person verfasst ist. Damit ist Ogai Mori Japans erster Ich-Erzähler. Zudem zeugt „Das Ballettmädchen“ von einem epochalen gesellschaftlichen Umbruch: Die konfuzianische Machthörigkeit wird in Frage gestellt. Zwar beugt sich der Protagonist dem gesellschaftlichen Druck, doch ist er sich der Tragik seiner Handlungsweise durchaus bewusst.

          Montag, 7. November 2011

          Ogai Mori

          Ogai Mori
          (Creative Commons Lizenz)
          Ogai Mori wurde 1862 als Rinatro Mori als erster Sohn des Arztes Shizuo Mori in Westjapan geboren. Der Familientradition folgend sollte auch Ogai Medizin studieren. Im Jahr 1872 ging der Vater mit dem Sohn nach Tokio, um die bestmögliche Ausbildung für Ogai Mori zu garantieren. Da die Regierung deutsche Medizin zum bindenden Standard erklärt hatte, lernte Ogai Mori deutsch. 1877 begann er schließlich mit seinem Medizinstudium, das er vier Jahre später abschloss.

          1883 trat er als Militärarzt in die Armee ein. Von 1884 bis 1888 studierte er im Auftrag des Militärs in Deutschland, unter anderem bei Robert Koch und Max von Pettenkofer. Darüber hinaus interessierte er sich insbesondere für europäische Literatur.

          Seine unglückliche Liebe zu der Berlinerin Elise Wiegert beschrieb Ogai Mori in „Das Ballettmädchen“: Da ihm als Militärangehöriger eine Beziehung zu einer Ausländerin verboten war, kehrte er nach Japan zurück und wurde in eine arrangierte Ehe gedrängt, die nur ein Jahr andauerte. Später arrangierte seine Mutter eine weitere Ehe, die dann halten sollte.

          Bis ins Jahr 1916 verdingte sich Ogai Mori weiter als Militärarzt. Neben dem Verfassen eigener literarischer Werke widmete er sich auch der Übersetzung von europäischer Literatur ins Japanische. So geht beispielsweise die erste Faust-Übersetzung auf Ogai Moris Konto.

          1922 starb Ogai Mori, dem erst kurz zuvor Nierenschrumpfung und Tuberkulose attestiert worden waren. Angeblich sollen seine letzte Worte „Oh, wie ettäuschend!“ gelautet haben. Testamentarisch verfügte er, dass ihm keine militärischen Ehren bei der Beerdigung zuteil kommen sollten.

          Aus seinen Ehen gingen die zwei Söhne Otto und Louis und die zwei Töchter Marie und Anne hervor. Letztere beiden folgten dem Vorbild des Vaters und wurden Schriftstellerinnen, während Otto den Arztberuf ergriff.

          Interessante Links:
          • Noch mehr Bilder der Gedenkstätte und Infos zu Ogai Mori gibt es hier
                     
          Hier rezensiert:
          • Das Geleitschiff (in „Japanische Meister der Erzählung“/auch erschienen als: Takasebune)

          Weitere ins Deutsche übersetzte Werke:
          • Deutschlandtagebuch

          Sonntag, 6. November 2011

          „Der wunderbare Träumer“ von Shusaku Endo

          Takamori und Tomoe sind ganz aufgeregt: Gaston Bonaparte, ein Nachfahre Napoleons und Takamoris französischer Brieffreund aus Kindheitstagen, hat seinen Besuch in Japan angekündigt. Doch die beiden Erwachsenen, die unverheiratet noch bei der verwitweten Mutter leben, werden schwer enttäuscht. Gaston wirkt alles andere als ein reicher, gebildeter Adeliger. Sein Gesicht ähnelt dem eines Pferdes, er ist völlig überproportioniert, mittellos und einfältig mit einer Tendenz zur Dummheit. Gastons Arglosigkeit bringt Takamori und Tomoe sogar in eine Bredouille, die in einer Schlägerei endet.

          Als Gaston weiterzieht, schlittert er von der einen in die andere unangenehme Situation, bis ihn der Profikiller Endo entführt und in seine Rachepläne an den Verrätern an seinem Bruder einbindet. Währenddessen wandeln sich Takamoris und Tomoes Gefühle für Gaston: Was sie für Dummheit hielten, ist vielmehr Gastons unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen.

          „Der wunderbare Träumer“ von Shusaku Endo beginnt komödiantisch, wird spannend und tragisch und endet märchenhaft. Auch wenn der wunderbare Träumer Gaston einfältig wirkt und das Leben der Menschen, die seinen Weg kreuzen, erst einmal etwas durcheinander bringt, so gehen diese doch positiv verändert aus der Begegnung wieder hervor.

          Selbstverständlich finden sich auch in „Der wunderbare Träumer“ typische Shusaku Endo-Elemente wider: Der Profikiller, der denselben Namen wie der Autor trägt, ist genauso wie dieser lungenkrank. Kriegsverbrechen werden aufgezeigt. Und das Konzept der christlichen Nächstenliebe, das selbst Feinde einschließt.

          Donnerstag, 3. November 2011

          „Die Känguruhhefte“ von Kobo Abe

          Kobo Abes „Die Känguruhhefte“ wirkt wie ein schlechter Drogentrip: Der Protagonist merkt, dass ihm statt Haaren Kresse aus den Beinen sprießt. Der von ihm konsultierte Dermatologe erbricht sich bei diesem Anblick und schnallt den Ich-Erzähler erst mal auf ein Bett, Vollnarkose und Katheder inklusive. Die Entlassung des Patienten erfolgt unkonventionell: Auf das Bett geschnürt wird er auf die Straße geschickt. Das Bett reagiert auf den Willen des Protagonisten und lässt sich dadurch lenken. Doch leider bleibt es in einer Baustelleneinfahrt hängen. Der von den Baustellenarbeitern gerufene Abschleppdienst verfrachtet Bett und Insasse kurzerhand in einen Bergwerksstollen. Von hier aus geht der apokalyptisch anmutende Trip weiter: Es kommt zum Kampf mit einem Tintenfischweibchen, einer schmervoller Katheder-Entfernung, einem Ausflug in die Kinderhölle, einer schweren Gehirnerschütterung durch die Begegnung mit dem „Killer“, einer gemeinschaftlich eingefädelten Euthanasie und zu vielem mehr. Eine absurde Situation folgt der nächsten auf dem Fuße.

          Sind die Geschehnisse Realität oder nur Hirngespinst? Auch der Protagonist ist sich permanent unsicher, ob er träumt oder wacht. Kennzeichnend sind vor allem die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein in jeder bizarren, alptraumhaften Szene. Eine gesellschaftskritische Lesart sieht in „Die Känguruhhefte“ die Machtlosigkeit des Individuums versinnbildlicht.

          Von der sprichwörtlichen japanischen Höflichkeit ist nichts zu erkennen: Da will sich der Protagonist mit seiner Geister-Mutter keilen, bekommt selbst im Krankenhaus vom Bettnachbarn mehrfach eine übergezündet, weil er in der Bewusstlosigkeit einfach keine Ruhe geben will und beschimpft wird sich natürlich ohnehin vom Feinsten.

          „Die Känguruhhefte“ ist Kobo Abes letzter großer Roman, den er 1991 abschloss. Freunde des Absurden und Bizarren kommen hier sicherlich auf ihre Kosten. Doch am liebsten würde man aus dem Alptraum, der "Die Känguruhhefte" heißt, auch ganz schnell wieder aufwachen.

          Dienstag, 1. November 2011

          „Abendkranich“ von Hisako Matsubara

          Hisako Matsubaras semiautobiographischer Roman „Abendkranich“ setzt am Vortag der japanischen Kapitulation ein. Die Seidenweber von Kyoto wundern sich, dass sie sich am nächsten Tag versammeln sollen, da der Tenno eine Ansprache über das Radio halten wird.

          Die Kapitulation lässt die Weber ratlos zurück: Waren sie nicht bis vor kurzem dazu aufgerufen, mit Bambusspeeren bis zum letzten Mann zu kämpfen? Die Weberin, deren Sohn als Kamikaze gestorben ist, verfällt gar dem Wahnsinn.

          Der zweite Handlungsstrang wird von der Familie des Guji, des obersten Shintopriesters, gezeichnet. Saya, des Gujis älteste Tochter, erlebt die Veränderungen, die nach der japanischen Stunde Null eintreten, hautnah mit: In der Schule wird nicht mehr Gehorsam gegenüber dem Staat und den Eltern gepredigt, sondern der Freiheitsgedanken hochgehalten. Koreaner unterliegen nicht mehr offenem Spott, da sie bei der amerikanischen Besatzungsmacht als endlich befreites Volk gelten, an dem die begangene Diskriminierung wieder gut zu machen ist. Das Christentum wird als prioritäre Religion propagiert, da es die Religion des siegreichen Westens ist.

          Doch auch die Weber machen ihre Erfahrungen und müssen sich neuen Herausforderungen und Fragen stellen: Was ist Kaugummi nur für Teufelszeug – verklebt die Tatami und lässt sich einfach nicht mehr entfernen! Soll die eigene Tochter für die Besatzungsmacht, die ehemaligen Feinde, arbeiten? Und wenn Christus Jude war, warum haben die Nazis, die doch Christen sind, Juden vergast?

          „Abendkranich“ begleitet die Weber und die Familie des Guji nicht nur über die ersten Monate nach der Kapitulation, sondern gibt auch Einblick in die japanische Kultur: Die Eheprobleme, die der Guji mit seiner Frau hat, die sich die starren Regeln der Samurai-Kultur einverleibt hat. Das unterwürfige Verhalten, das von den Mädchen erwartet wird, während sich die Jungen wie kleine Prinzen verhalten dürfen. Die Glaubensauffassung, die hinter Shinto steckt. Und die Voraussagen des I-Ging. Das alles und noch viel mehr versteckt sich hinter dem amüsant-tragischen Roman „Abendkranich“, der Zeit- und Kulturgeschichte Japans einfühlsam in eine herzerwärmende Geschichte gießt.

          Montag, 31. Oktober 2011

          Hisako Matsubara

          Hisako Matsubara wurde 1935 als Tochter des obersten Shinto-Priesters von Kyoto geboren. Nach dem Abitur schlug sie eine akademische Laufbahn ein: Sie studierte an der International Christian University in Tokio Vergleichende Religions- und Literaturwissenschaft und erwarb den Bachelor of Arts. Anschließend ging sie in die USA an die Pennsylvania State University, wo sie mit dem Master of Arts abschloss. Nach Studienaufenthalten in Zürich, Marburg und Göttingen promovierte sie 1970 in Philosophie an der Ruhr Universität Bochum mit ihrer Arbeit „Diesseitigkeit und Transzendenz“.

          Sie ließ sich in Köln nieder und verdingte sich als Journalistin und Übersetzerin. Die Beschäftigung mit Heinrich Heine weckte Hisako Matsubaras Interesse an der deutschen Literatur. 1969 übersetzte sie die japanische Sage „Die Geschichte vom Bambussammler und dem Mädchen Kaguya“ ins Deutsche, ihre Schwester Naoko Matsubara erstellte die Illustrationen für das Buch. Ihre wöchentliche Kolumne für Die Zeit wurde als „Blick aus Mandelaugen“ als Buch publiziert. In den 70er und 80er Jahren veröffentlichte sie mehrere Romane, die sie auf Deutsch geschrieben hatte.

          Hisako Mitsubara ging Mitte der 80er Jahre zurück in die USA und lebt derzeit in Los Altos.

          Interessante Links:

          Hier rezensiert:

          Auf Deutsch verfasste/ins Deutsche übersetzte Werke:
          • Die Geschichte vom Bambussammler und dem Mädchen Kaguya - Taketori Monogatari
          • Raumschiff Japan. Realität und Provokation

          Sonntag, 30. Oktober 2011

          „Die Brandung“ von Yukio Mishima

          „Die Brandung“ von Yukio Mishima gilt als Adaption der antiken, griechischen Liebesgeschichte von „Daphnis und Chloe“, die unter Schäfern aufwachsen. Yukio Mishimas Protagonisten sind Shinji und Hatsue, ein Fischer und eine Taucherin. Damit verlegt Mishima die Handlung ins japanische Fischermilieu.

          Als Hatsue, die fern ihres Elternhauses aufgewachsen ist, auf ihre kleine Heimatinsel zurückkehrt, verliebt sich der junge, arme Fischer Shinji auf den ersten Blick in die schöne und uneigennützige Hatsue. Auch Hatsue fühlt sich von dem ehrlichen, bodenständigen und sympathischen Shinji angezogen.

          Doch auch Yasuo, Sohn reicher Eltern, hat sein Auge auf Hatsue geworfen und wähnt sich schon als deren zukünftiger Ehemann. Als Chiyoko, die wiederum in Shinji unglücklich verliebt ist, Yasuo davon berichtet, Shinji und Hatsue gemeinsam gesehen zu haben, bringt Yasuo das Gerücht unter die Leute, Shinji hätte Hatsue die Unschuld geraubt. Hatsues Vater ist daraufhin außer sich und lässt seine Tochter nicht mehr aus dem Haus.

          Die beiden Konkurrenten Shinji und Yasuo werden auserkoren, auf einem Frachtschiff Dienst zu tun und sich hier zu beweisen.

          Wie auch bei „Daphnis und Chloe“ kommt auch bei „Die Brandung“ der Schilderung der Natur und des naturverbundenen Arbeitens eine große Rolle zu. Das harte Dasein als Fischer wird als Bestimmung und nicht als Last empfunden. Dasselbe gilt für die Taucherinnen: Die körperliche Arbeit vereint die Frauen zu einer Gemeinschaft und gibt ihnen eine Aufgabe auch außerhalb des familiären Haushalts.

          „Die Brandung“ spielt nach dem Koreakrieg in den 50er Jahren. Auf der Heimatinsel von Shinji und Hatsue sind die alten patriarchalischen Strukturen noch gefestigt und moderne Bequemlichkeiten wie ein Kinobesuch führen auf Schulausflügen in die Großstadt zu Verwunderung und Begeisterung. Zudem ist eine große Verbundenheit zu den Göttern spürbar: Die Götter werden schon dafür sorgen, dass Shinji und Hatsue ein Happy End vergönnt ist.

          Freitag, 28. Oktober 2011

          „1Q84“ von Haruki Murakami

          Die Fitnesstrainerin Aomame geht einem gefährlichen Zweitjob nach: Sie ist Profi-Killerin und gerade auf dem Weg, einen Mann ins Jenseits zu befördern, als sie unversehens vom Jahr 1984 ins Jahr 1Q84 transportiert wird. Die Welt in dieser anderen Realitätsebene ähnelt der gewohnten sehr stark – doch am Himmel stehen zwei Monde und die illustre Sekte der Vorreiter treibt ihr Unwesen. Aomame wird beauftragt, dem gefährlichen und gut abgeschirmten Sektenführer das Leben zu nehmen.

          Der zweite Erzählstrang wird aus der Sicht von Tengo erzählt, der den Auftrag erhält, als Ghostwriter den Erstlingsroman von Fukaeri zu überarbeiten. Fukaeri ist aus der Gemeinschaft der Vorreiter ausgebrochen und schreibt mit „Die Puppe aus Luft“ einen fantastischen Roman über zwergenhafte Gestalten namens „Little People“. Die Veröffentlichung des Romans wird wirtschaftlich zu einem großen Erfolg, doch reagieren die Vorreiter äußerst empfindlich. Sie setzen Ushikawa, einen unangenehmen Privatdetektiv auf Tengo an. Der Verleger der „Puppe aus Luft“ verschwindet spurlos und Fukaeri hält sich versteckt.

          Knapp 1.600 Seiten umfassen die drei Bücher von „1Q84“, die in zwei Bänden veröffentlicht sind. Im dritten Buch erhält Ushikawa einen eigenen, dritten Erzählstrang. Ushikawa, der als Figur bereits in Haruki Murakamis Roman „Mister Aufziehvogel“ einen Auftritt hatte, verfolgt Aomame und heftet sich deshalb an Tengos Fersen, da er die äußerst private, romantische Verbindung der beiden aufdeckt.

          Gemessen an der hohen Seitenzahl geschieht in „1Q84“ nicht allzu viel. Was in den ersten beiden Büchern nicht viel ausmacht, da jeder Exkurs interessant und typisch Murakami ist. Etwas zäh beginnt jedoch das dritte Buch mit einer Rekapitulation der vergangenen Geschehnisse und den vorerst redundanten Informationen, die Ushikawa in Erfahrung bringt. Zudem besteht das dritte Buch vor allem aus Warten: Tengo wartet am Krankenbett seines komatösen Vaters auf eine Änderung des Zustands des Patienten. Aomame wartet darauf, Tengo endlich wieder zu sehen. Und Ushikawa wartet in seinem Versteck, dass ihm Aomame in die Falle geht. Natürlich gibt es auch genügend spannende Momente, doch insgesamt zieht sich das dritte Buch doch sehr.

          Und auch auf die Gefahr hin, für spitzfindig erklärt zu werden: Der sonst so genaue Haruki Murakami, der im dritten Buch sogar so weit geht, die Wirkungsweise eines Schwangerschaftstests zu erklären, begeht den Recherchefehler, die unbefleckte Empfängnis als Schwangerschaft ohne Geschlechtsverkehr zu halten. Unbefleckt ist die Empfängnis nicht aus Keuschheit, sondern weil die werdende Mutter selbst ohne Erbsünde geboren ist.

          Leider empfand ich das Ende von „1Q84“ ein bisschen zu lapidar, was trotz der rührenden Liebesgeschichte zwischen Aomame und Tengo ein etwas schales Licht auf das 1.600-seitige Werk wirft. Zudem noch eine kleine Unterstellung: Das Thema rund um die „Little People“ und die Sekte der Vorreiter erinnert doch etwas arg an „Wilde Schafsjagd“. Eine mystische Macht nimmt Besitz von einem Menschen, um eine schlagkräftige Geheimorganisation aufzubauen. Mein Lieblings-Murakami „Kafka am Strand“ wird jedenfalls von „1Q84“ nicht abgelöst...

          Samstag, 22. Oktober 2011

          „Japanische Freuden“ von Akiyuki Nosaka

          Japan in den 60ern: Subuyan macht Karriere als Pornograph. Begonnen hat er mit dem Verkauf von einzelnen Fotografien. Nun nimmt er mit seinem Kumpan Banteki heimlich Tonaufnahmen von kopulierenden Paaren auf. Und bald steigt er ins Filmgeschäft ein; zuerst als Händler, dann als Produzent. Der umtriebige Subuyan betätigt sich nebenzu noch als Zuhälter, Lehrer im U-Bahn-Grabschen und als Organisator von Orgien. Dummerweise ist gerade ihm ein ganz unsexuelles Schicksal beschieden: Nachdem er sich in seine minderjährige Stieftochter verliebt hat, scheint er impotent geworden zu sein. Ob da eine Sexpuppe – die neueste Erfindung aus den USA – Abhilfe schaffen kann? Und als hätte er nicht schon genug Probleme, kommt ihm dann auch noch die Polizei auf die Schliche…

          Auf seinem Weg durchs Pornogeschäft vergrößert sich Subuyans Gefolgschaft: Hack, erfolgloser Schriftsteller altmodischer erotischer Literatur, wird als Drehbuchschreiber engagiert. Paul, der als Laiendarsteller in Pornos seines Ex-Chefs mitgewirkt hat, reißt zusammen mit Kabo Frauen für Subuyans Orgien auf. Und irgendwie haben sie alle ihre sexuelle Störung: Hack schreibt in Erinnerung an seine frigide Mutter und holt sich dabei einen runter. Kabo kann mit Frauen nichts anfangen, sobald sie kein unschuldiges Gesicht mehr ziehen. Und Banteki will mit seinen Pornofilmen Kunst machen.

          „Japanische Freuden“ von Akiyuki Nosaka ist nicht nur in punkto Sex unkonventionell – insbesondere wenn man bedenkt, dass der Roman bereits in den 60er Jahren veröffentlicht wurde und sicherlich große Aufmerksamkeit erregte. Auch mit dem Tod wird durchaus pietätlos umgegangen: Als Subuyans Frau stirbt, wird zur Totenwache ein Pornofilm gezeigt – was wäre für die Frau eines Pornographens denn passender? Und der arme Hack, der bei der Selbstbefriedigung einen Herzinfarkt hatte, wird in Ermangelung eines Sarges in eine Teekiste gesteckt, auf deren Deckel zum Andenken an den leidenschaftlichen Mah-Jongg-Spieler Hack die ganze Nacht durchgespielt wird.

          Japanische Freuden“ ist ein kleines, literarisches Feuerwerk an Facettenreichtum: Es ist bitterböse (eine kleine Vergewaltigung ist gut für jede Orgie), bizarr (Inzest mit zurückgebliebenen Angehörigen), Slapstick (armer, impotenter Subuyan) und zu Herzen gehend (Subuyans liebevolles Verhalten seiner im Sterben liegenden Frau gegenüber).

          Freitag, 21. Oktober 2011

          Akiyuki Nosaka

          Der Autor, Sänger, Dichter und Politiker Akiyuki Nosaka wurde 1930 in Kamakura geboren. Der Tod begleitete seine Kindheit und Jugend: Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Daher wurden er und seine Geschwister von einer Familie in Kobe adoptiert. Eine seiner Schwestern starb krankheitsbedingt. Seine Adoptiveltern wurden bei einem Bombenangriff 1945 getötet. Nicht viel später starb seine zweite Schwester an Unterernährung. Zwei Jahre trieb sich Akiyuki Nosaka herum und landete schließlich in der Besserungsanstalt.

          Erst nach dem Tod seiner Adoptiveltern erfuhr er von seiner Adoption. Glücklicherweise überlebte sein leiblicher Vater den Krieg und machte politische Karriere. Dieser Umstand erlaubte Akiyuki Nosaka, ein Studium zu beginnen, das er aber bald aufgab. Er widmete sich daraufhin verschiedenen Gelegenheitsjobs (vom Hundewäscher bis hin zur bezahlten Blutspende).

          1963 gelang ihm der literarische Durchbruch mit „Japanische Freuden“. Seine semi-autobiographische Erzählung „Das Grab der Leuchtkäfer“ über den Hungertod seiner jüngeren Schwester erhielt zusammen mit „Algen in Amerika“ im Jahr 1968 den Naoki-Literaturpreis und wurde 1988 als Anime verfilmt.

          In den 70er Jahre startete Akiyuki Nosaka zudem eine politische Karriere. 2003 erlitt er einen Schlaganfall, schrieb aber weiter seine Kolumne für die Mainichi Shimbun. Im Dezember 2015 starb Akiyuki Nosaka im Alter von 85 Jahren in einem Krankenhaus in Tokio an Herzversagen.

          Sein literarisches Werk gilt als provokativ und schwer zu übersetzen.

          Interessante Links:
          • Interviewauszüge mit Akiyuki Nosaka aus Animerica über „Das Grab der Leuchtkäfer“ gibt es hier und hier

          Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert: 

          Sonntag, 16. Oktober 2011

          „Die vierte Zwischeneiszeit“ von Kobo Abe

          Kobo Abes „Die vierte Zwischeneiszeit“ beginnt als futuristischer Kriminalroman: Professor Katsumi hat eine Maschine konstruiert, die Daten aggregiert und aufgrund der Datenlage die Zukunft voraussagen kann. Doch schnell kommen er und seine Maschine, die „Moskwa 1“, in Verruf: Treffen die Voraussagen nur aufgrund einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu? Und überhaupt: Die politischen Folgen der Voraussagen sind zu gravierend. Daher wird Katsumi nahe gelegt, er solle sich doch künftig auf Voraussagethemen ohne politischen Bezug begrenzen.

          Damit beginnt Katsumis Suche nach einem Probanden, dem er die rein private Zukunft voraussagen will. Zusammen mit seinem Assistenten Tamomogi findet er in einem Café einen geeigneten Durchschnittsmenschen. Die beiden beschatten den ausgewählten Herrn und werden unvermutet Zeugen des Mordes an ihm. Da der Mordverdacht auch auf sie fallen kann, setzten die beiden Wissenschaftler die Voraussagemaschine auf den Fall an, um den Mörder zu fassen. Doch was zunächst als Mord aus Beziehungsmotiven aussieht, offenbart ein Komplott um abgetriebene und angekaufte menschliche Föten. Als Katsumis schwangere Ehefrau unter Drogen gesetzt wird und ohne Einverständnis bei ihr eine Abtreibung vorgenommen wird, gewinnt die Verschwörung auch persönliche Relevanz für Katsumi.

          Kobo Abes Science Fiction ist ein apokalyptischer Endzeitroman vom Ende der vierten Zwischeneiszeit. Die „Moskwa 1“ erscheint zwar eher wie ein mehr als veraltetes Rechenmonster, das man heutzutage nur belächeln kann, doch die Verschwörung rund um die gekauften Föten ist spannend und überraschend eingefädelt.

          Wie auch in „Das Gesicht des Anderen“ legt der Autor jedoch sehr viel Wert auf die Erläuterung des wissenschaftlichen Hintergrundwissens, was für den einen oder anderen Leser bestimmt ermüdend wirkt.