Labels

Montag, 31. Dezember 2012

„Die Hand des Riesen“ von Otohiko Kaga

In „Die Hand des Riesen“ verflechtet Otohiko Kaga Japans Kapitulation, den Kyujo-Vorfall und den Putschversuch vom 26. Februar 1936 (2-26-Vorfall) mit der Beschreibung des Alltags in einer Militärakademie während der letzten Kriegsjahre und des Bombenhagels auf Tokio.

1943 tritt der 13-jährige Shoji auf Wunsch seiner Eltern in eine Kadettenschule in Mitteljapan ein. Eigentlich noch Kinder erleben seine Mitschüler und er den militärischen Drill und werden ganz auf den Heldentod als Soldat eingeschwört. Denn der gefallene Soldat wird zur Gottheit und als solche im Yasukuni-Schrein verehrt. Der Tenno gilt als Mensch gewordene Gottheit; sein Wille ist göttliche Gewalt. Die kaiserlichen Erlasse müssen von den jungen Kadetten auswendig gelernt werden, jeden Tag rezitiert werden und werden die ultimative Doktrin.

Shoji hat vor allem mit den physischen Anforderungen der Kadettenschule zu kämpfen. Er ist eher schwächlich und hat seine Schwierigkeiten, beim Sport mitzuhalten. Dennoch wird er zum Liebling zweier älterer Schüler – homoerotische Avancen machen ihm beide. Durch die älteren Schüler erfährt Shoji auch vom fehlgeschlagenen Putschversuch vom 26. Februar 1936, als knapp 1.500 Soldaten Tokio für drei Tage fast gänzlich unter ihre Kontrolle brachten, um die Regierungsclique auszuschalten und eine Art „Showa-Restauration“ einzuleiten. Da sie sich als Kämpfer des Tennos erachteten, verehren die älteren Schüler die Putschisten – insbesondere da einige der Rädelsführer aus derselben Kadettenschule entstammen.

Im Jahr 1945 befindet sich Shoji in der letzten Klasse der Kadettenschule. Zwischenzeitlich kann er die von ihm abgeforderten physischen Leistungen erbringen und muss als Vorbild für die jüngeren Klassen der Schule fungieren. Auch Shoji hat sich nun einen Liebling unter den Jüngeren ausgeguckt, der ihn sexuell und doch noch recht unschuldig anzieht. Sein Vater dokumentiert in Briefen an ihn die Zerstörung Tokios durch den Bombenhagel. Und sein Jugendfreund Kito berichtet Shoji, wie er durch bewusste Provokation seine Entlassung aus der Kadettenschule provozierte, um der beengenden Welt der Schule zu entkommen. Dennoch sieht auch Kito seinen Tod für den Tenno als unausweichlich.

Als am 15. August 1945 der Tenno die Kapitulation Japans über das Radio verkündet, stürzt die Kadettenschule ins emotionale Chaos. Es bilden sich zwei Fronten: Der Großteil der Lehrer und Schüler nehmen die Kapitulation als den göttlichen Willen des Tennos und somit als Befehl hin – zumindest als der erste Schock über die für sie unvorhersehbare Entwicklung verdaut ist; hatten sie doch bis vor kurzem daran geglaubt, ihr Leben im Kampf auf den Hauptinseln für den Tenno hingeben zu dürfen. Der kleinere Teil vermutet ein Komplott der Regierungsclique, die den Tenno zur Kapitulation gezwungen hat. In diesem Zusammenhang treten ehemalige Schüler der Kadettenschule aufs Parkett, die am Kyujo-Vorfall beteiligt waren, um die Kapitulation zu verhindern.

Shoji ist von den Geschehnissen völlig verwirrt. Er war davon ausgegangen, sein Leben für den Tenno zu opfern und kaum ein Alter von 20 Jahren zu überschreiten. Der Sinn seines Soldatenlebens hätte sich eben erst durch den eigenen Tod erfüllt. Durch Gerüchte erfährt er vom Selbstmord einiger führender Militärs und erwartet nun ebenfalls vom Tenno als oberstem Militärführer die Selbstentleibung. Auch unter den Schülern entfachen sich Diskussionen über den eigenen Selbstmord. Wird die ausgebrochene Orientierungslosigkeit noch weitere Opfer fordern?

„Die Hand des Riesen“ schildert die unaufhörliche Indoktrinierung der jugendlichen Kadetten mit den Prinzipien des Heldentods für Tenno und Vaterland, dass die für unsereins völlig abwegig erscheinende Selbstmorde der Militärs verständlicher werden. Als die Kapitulation ausgesprochen wird, wird der Irrweg eines „heiligen Kriegs“ vor allem für die Jugendlichen brutal offenbar. 

Nur schade, dass „Die Hand des Riesen“ kein Nachwort enthält. So bleibt offen, inwieweit sich Otohiko Kaga in den Schilderungen der beiden Putschversuche an die Fakten gehalten hat und wo seine Imagination beginnt.

Bibliographische Angaben:
Kaga, Otohiko: „Die Hand des Riesen“, DVA, Stuttgart, 1976, ISBN 3-421-01763-8

Sonntag, 30. Dezember 2012

Otohiko Kaga

Otohiko Kaga wurde 1929 in Tokio geboren. Er studierte in seiner Heimatstadt Psychologie und Kriminologie. Bevor er im Jahr 1957 für einen Studienaufenthalt nach Frankreich ging, arbeitete er zunächst in einem Krankenhaus und im Anschluss in einem Gefängnis. Nachdem er 1960 nach Japan zurückkehrte, betätigte er sich als Universitätsprofessor für Psychologie. Zudem schrieb er Romane über seine Zeit in Frankreich. Ab 1979 widmete er sich komplett dem Schreiben.

Otohiko Kaga wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet; unter anderem erhielt er 1973 den Tanizaki-Preis für „Die Hand des Riesen“. Otohiko Kaga setzt sich aktiv und auch literarisch für die Abschaffung der Todesstrafe ein.

Unter dem Einfluss seines Freundes Shusaku Endo konvertierte Otohiko Kaga 1987 zum katholischen Glauben.

Interessante Links:


Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

Samstag, 29. Dezember 2012

„Der Tor aus Tokio“ von Soseki Natsume

Der Ich-Erzähler in Soseki Natsumes Roman ist ein Botchan, ein Grünschnabel. Er stammt aus Tokio und rühmt sich einer unbekümmerten Ehrlichkeit, wie es sich für einen echten Edokko gehört. Darüber hinaus ist Botchan aber auch tollpatschig, einfach gestrickt, ungehobelt und neigt zu Übersprungshandlungen. Bereits als Kind eher das schwarze Schaf der Familie schließt vor allem die alte Bedienstete Kiyo den kleinen Tor aus Tokio in ihr Herz.

Doch irgendwann ist die Zeit für Botchan gekommen – er soll auf eigenen Füßen stehen und wird hinaus in die Welt geschickt. In irgendein Kaff, an dessen Mittelschule er Mathematik unterrichten soll. Irgendwie hat der Jungspund aber noch nicht gerafft, auf welcher Seite er ab sofort steht; er gibt wie ein Schüler seinen neuen Kollegen Spitznamen: Dachs nennt er den Rektor, Rothemd den Konrektor. Der Zeichenlehrer erhält den Titel Clown und seinen direkten Vorgesetzten benennt er als Stachelschwein.

Die Schüler machen Botchan, der die Regeln auf dem Land nicht kennt und nicht ahnt, dass es für ihn ab sofort keine Anonymität mehr gibt, das Leben schwer. Da werden schon einmal Grashüpfer in seinem Bett deponiert. Doch auch mit dem lieben Kollegen ist’s ein Kreuz: Die aufgeblasenen Herren planen eine Intrige nach der anderen. Ob sie mit dem unbedarften Botchan ein einfaches Spiel haben werden?

Soseki Natsume, der selbst eine Weile auf dem Land unterrichtete, wusste sicher ein Lied über das Leben als Lehrer auf dem Lande zu singen. „Der Tor aus Tokio“ lebt vom flapsigen Ton des Ich-Erzählers und seinen unverblümten Schilderungen. Während seine Kollegen sich mit ihrem Wissen über ausländische Kunst oder Haikus schmücken, ist dies alles dem Botchan völlig schnuppe – was juckt ihn ein Haiku, das die Schönheit einer Blume preist, die sich um einen blöden Eimer rankt. Die Affektiertheit der Herrschaften geht ihm auf die Nerven und dies kann er leider kaum verbergen.

Soseki Natsumes Sarkasmus in „Der Tor aus Tokio“ ist ein Rundumschlag, trifft alle wichtigtuerischen, intriganten, opportunistischen, pseudo-moralischen, kleinmütigen und grobschlächtigen menschlichen Eigenschaften und hält der Gesellschaft damit den – weiß Gott – unangenehmen Spiegel vor.

Bibliographische Angaben:
Natsume, Soseki: „Der Tor aus Tokio“, Angkor Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-936018-71-4

Freitag, 28. Dezember 2012

„Das Haus mit den Sonnenblumen“ von Yumiko Kurahashi

Vor der Lektüre von „Das Haus mit den Sonnenblumen“ empfiehlt es sich, sich etwas in die griechischen Sagen einzulesen. Denn die Mythen rund um die Familie des Agamemnon nimmt die Autorin Yumiko Kurahashi als Grundlage für die zwei Antitragödien des Bandes. Doch Yumiko Kurahashi erzählt keineswegs nur nach, indem sie die Handlung in die Moderne überträgt, sondern überzeichnet, deutet auf ihre Weise und lässt den Akteuren teilweise ein neues, anderes Schicksal zukommen. Dennoch bleibt sie wesentlichen Elementen der griechischen Klassik verhaftet, wie Wolfgang E. Schlecht in seinem aufschlussreichen Nachwort bemerkt: Da wäre der Chor, der in verschiedenen Ausprägungen zum Einsatz kommt, und der Deus ex machina, der die überraschende Lösung von Konflikten herbeiführt. Hierzu gehört freilich auch generell die Themenstellung, die die großen, existentiellen Antagonismen umfasst: Freiheit versus Zwang, Individualität versus Kollektivität, Schuld versus Pflicht.

Sicherlich lässt sich „Das Haus mit den Sonnenblumen“ auch ohne Kenntnisse der griechischen Mythologie genießen. Dennoch erleichtert es einem die Lektüre, wenn man sich vorab schon etwas in die Verwandtschaftsbeziehungen eingelesen hat. Wir begegnen dem jungen Mann K (= Orest), der gerade aus einer Besserungsanstalt entlassen wurde. Er besucht das Grab seines verstorbenen Vaters (= Agamemnon), wo er auf L (= Elektra, oder auch nach Homer Laodike) trifft. L glaubt in K ihren Zwillingsbruder wieder zu erkennen und weiht ihn in ihre Pläne ein: Sie will ihre Mutter (= Klytaimnestra) und deren Geliebten (= Aigisthos) töten, haben diese doch den Vater, als er zusammen mit seiner Sekretärin (= Kassandra) von Geschäftsreise zurück kam, heimtückisch ermordet und sind einer gerechten Strafe entgangen. K wird wie durch einen Bann in die Handlung gezogen, vollführt seine Rolle wie ein Schauspieler und kann alsbald nicht mehr auseinander halten, was Maske und was sein wahres Gesicht ist. Das Schicksal nimmt seinen Lauf und K wird bald nicht nur von kleinen, schwabbeligen Teufeln (= Erinyen) verfolgt.

„Das Haus mit den Sonnenblumen“ gleicht einem Literaturexperiment und liest sich daher an manchen Stellen etwas sperrig. Dennoch macht es Spaß, Ks Schicksal zu verfolgen und den Stoff der griechischen Sagen mit einem neuen, manchmal überraschenden Twist wieder zu entdecken.

Ein bisschen schade nur, dass es von Yumiko Kurahashi ansonsten derzeit leider nur noch eine weitere Übersetzung mit „Die Reise nach Amanon“ gibt. „Das Haus mit den Sonnenblumen“ macht Lust auf mehr – insbesondere da K und L wiederkehrende Charaktere in Yumiko Kurahashis Werk sind.

Bibliographische Angaben:
Kurahashi, Yumiko: „Das Haus mit den Sonnenblumen“, Theseus-Verlag, Zürich/München 1991, ISBN 3-85936-051-5

Donnerstag, 27. Dezember 2012

„Wanderjahre“ von Koreya Senda

1975 veröffentlichte Koreya Senda in Japan seine „Geschichte des Shingeki – ganz anders betrachtet“. Kapitel 6 und 7 wurden ins Deutsche übersetzt und als „Wanderjahre“ publiziert. „Wanderjahre“ umfasst primär die Jahre 1927 bis 1932 und damit Koreya Sendas Zeit in Berlin, wo er sich mit linkem, proletarischem Theater befasste. Während in Japan die proletarische Bewegung bereits starker Überwachung ausgesetzt war, findet Koreya Senda in Deutschland noch günstigere Bedingungen für die politische Bewegung wieder. Doch zunächst findet die Frohnatur Senda in Berlin Gefallen an anderen Aktivitäten: Im Café Victoria, wo sich die den japanischen Gästen zugetanen Berliner Fräuleins aufhalten, wird so manche Reichsmark vertrunken – und Koreya Senda zieht sich gleich noch eine Geschlechtskrankheit zu, deren Heilung sein durch den Alkoholkonsum ohnehin strapaziertes Budget noch weiter belastet. Gut, dass ihm ein Statistenjob beim Film angetragen wird. In dem Streifen „Natur und Liebe“ soll er sich zuerst nur im Lendenschurz bekleidet zeigen – und schließlich verlangt der Regisseur gar, dass seine letzte Hülle zu fallen hat.

Doch schließlich wendet sich Koreya Senda doch dem Studium des Theaters zu, weswegen er nach Deutschland gekommen war. Mit den Aufführungen der Piscator-Bühne kann er sich weniger anfreunden. Koreya Senda macht unter anderem die Bekanntschaft von Lu Märten, Gustav von Wangenheim, Arthur Pieck und Maxim Vallentin und verschreibt sich daraufhin Agitproptruppen, tritt in die deutsche KP ein. Zudem engagiert sich der umtriebige Japaner für diverse internationale Theaterverbandsarbeit.

In Berlin lernt Koreya Senda auch seine erste Ehefrau Irmgard Kliem kennen, die ihn bei seiner Rückkehr nach Japan über Moskau im Jahr 1931 begleitet. Wie auch in den Erinnerungen der gemeinsamen Tochter Momoko Nakagawa, die sie in „Der japanische Vater“ niederschrieb, hinterlässt Irma auch in „Wanderjahre“ einen besonders starken Eindruck. Unverblümt, liebenswert und unbekümmert schreitet die politisch engagierte Frau auch in Japan zur Tat. Sie möbelt die heruntergekommene Bleibe auf, kümmert sich aufopfernd um den zeitweilig inhaftierten Koreya Senda und ist durch ihr offenes Wesen gleich allseits beliebt.

In Japan wird das Klima für politisches Theater immer schlechter: Schauspieler werden gar direkt von der Bühne wegverhaftet. Berufsschauspieler haben kein Auskommen mehr und müssen sogar soweit gehen und sich prostituieren, um Geld zum Überleben zu beschaffen. Interne Streitigkeiten tun ein Übriges, um die Situation noch weiter zu Erschweren.

Sicherlich ist „Wanderjahre“ primär für Leser interessant, die ein Faible für linkes Theater und die proletarische Bewegung haben. Insbesondere, wer sich für proletarische Literatur begeistert, trifft in „Wanderjahre“ auf alte Bekannte: In Moskau begegnet Koreya Senda der Schriftstellerin Yuriko Miyamoto, die dort heimlich die Bekanntschaft von KP-Politikern macht und sich schließlich der proletarischen Bewegung zuwendet. Einen Umzug kann sich Koreya Senda nur leisten, nachdem ihm ein Verlag für die Übersetzung von Sunao Tokunagas „Straße ohne Sonne“ einen Vorschuss gegeben hatte. Zusammen mit Trude Eschenbach übersetzt er wenig später Takiji Kobayashis „Der 15. März 1928“.

Doch Koreya Sendas Erzählstil macht einfach auch Spaß; die Frohnatur kam während des Klassenkampfes sichtlich auch auf seine Kosten. Sicherlich mag dies durch den zeitlichen Abstand von mehr als 40 Jahren von Niederschrift zu den Geschehnissen resultieren und für etwas Verklärung sorgen  – ein Aufenthalt im japanischen Gefängnis war bestimmt kein Zuckerschlecken.

Bibliographische Angaben:
Senda, Koreya: „Wanderjahre“, Henschelverlag, Berlin 1985

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Koreya Senda

Koreya Senda, mit bürgerlichem Namen Kunio Ito, geboren 1904, entstammte einer kosmopolitisch-künstlerischen Familie. Sein Vater studierte Architektur in den USA. Sein Bruder Michio besuchte die Dalcroze-Tanzschule in Dresden. Kisaku, ein weiterer Bruder, studierte an der Kunsthochschule von Tokio.

Nachdem Kunio Ito während der Übergriffe auf die koreanische Minderheit nach dem großen Kanto-Erdbeben für einen Koreaner gehalten und verprügelt wurde, nahm er aus Protest den Künstlernamen Koreya Senda (= Koreaner aus Sendagaya) an.

1924 begründete er das Tsukiji-Kammerspiel mit, das moderne Theaterstücke aufführte. Er trat in die 1925 gegründete Vereinigung für proletarische Kunst und Literatur Japans (Pro-Gei) ein und ging schließlich von 1927 bis 1931 nach Europa, um insbesondere in Berlin die proletarische Theaterbewegung zu studieren. Nach seiner Rückkehr nach Japan wurde er mehrfach aufgrund seines Engagements für die proletarische Bewegung verhaftet.

Nach dem Krieg tat er sich insbesondere durch seine Brecht-Übersetzungen und -Aufführungen hervor und wurde mit diversen Theaterpreisen ausgezeichnet. 1982 wurde ihm von der Berliner Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürde verliehen. Bis ins hohe Alter verschrieb sich Koreya Senda dem Theater – noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1994 probte er für die Aufführung der „Brüder Karamasow“.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Montag, 24. Dezember 2012

„Brückenbogen“ von Hisako Matsubara

Yumi ist eine Hibakusha, eine Überlebende der Atombombenexplosion über Hiroshima. Doch das soll bloß keiner wissen – denn im Nachkriegsjapan werden Hibakusha diskriminiert. Yumis Vater hatte rechtzeitig reagiert und Yumis Aufenthalt in Hiroshima geheim gehalten. Und so erscheint sie zumindest nach außen wie eine ganz normale Studentin, die jedoch in ständiger Angst vor dem Ausbruch von Leukämie lebt.

Yumi setzt alles daran, in den USA ein Stipendium zu erhalten. Ihr Engagement wird belohnt und sie darf für ein bis zwei Jahre an eine Universität in Pennsylvania. Als sie über San Francisco in die USA einreist, lernt sie den Theaterregisseur Julian kennen, der sich in die exotische und direkte Yumi verliebt. Obwohl Julian versucht, sie davon zu überzeugen, mit ihm in San Francisco zu bleiben, geht sie nach Pennsylvania, um Theaterwissenschaften zu studieren und selbst Kurse über japanisches Theater zu geben. An ihrer Universität ist sie sowohl bei ihren Kommilitonen als auch bei den Professoren in kürzester Zeit sehr beliebt. Doch leider trüben ihre japanischen Landsleute die Stimmung: In den japanischen Akademikerkreisen gelten starre Regeln und Hierarchien. Yumi soll sich in diese Strukturen fügen oder soll die Strafe für ihren Ungehorsam spüren lernen.

In „Brückenbogen“ lässt Hisako Matsubara viele gesellschaftskritische Themen anklingen: Die Diskriminierung der Hibakusha; die rigide Informationspolitik der Amerikaner, die in Japan keine Berichterstattung über die Folgen des Atombombenwurfs erlauben und somit den wildesten Gerüchten Vorschub leisten; die Internierung japanischstämmiger Amerikaner während des zweiten Weltkriegs in den USA; die Falschheit der weißen Christen, die Nächstenliebe predigen, aber ihre afroamerikanischen Mitbürger diskriminieren; die so genannten Elitejapaner, die duckmäuserisch agieren, sobald sie ihre Karrierechancen in Gefahr sehen…

Doch leider klingen viele der Themen eben nur an. Zum großen Teil wirkt „Brückenbogen“ eher wie ein leicht lesbarer Teenie-Roman über eine Austauschschülerin. Ständig lernt sie neue Leute kennen und ist schwupsdiwups überall total beliebt. Aus der Fülle des sich ständig erweiternden Personenkreises resultiert, dass die Charaktere (außer Yumi selbst) kaum Tiefe gewinnen. Auch bleibt relativ offen, warum sich Yumi in Julian verliebt.

Bibliographische Angaben:
Matsubara, Hisako: „Brückenbogen“, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1989, ISBN 3-404-11376-4

Freitag, 21. Dezember 2012

„Von Stroh und Seide“ von Junichi Saga

Wie in „Der Yakuza“ kommen auch in „Von Stroh und Seide“ reale Personen zu Wort, deren Lebensgeschichten der Arzt Junichi Saga aufgezeichnet hat. Darunter ist auch Eiji Ijichi, „Der Yakuza“, der in einem Kapitel davon erzählt, wie es dazu kam, dass er sich von einem Glied seines kleinen Fingers trennen musste – freilich, eine Frau war der Grund… Aber auch mehr als 50 weitere Menschen erzählen in kurzen Kapiteln von ca. vier Seiten Umfang von ihrem Leben in den (primär) 20er und 30er Jahren rund um den Ort Tsuchiura. Damit gibt Junichi Saga Einblick in ein Japan vergangener Zeiten. Doch „Von Stroh und Seide“ romantisiert die alten Zeiten keinesfalls. Primär zeigt das Werk auf, wie hart das Leben damals war: Kinderarbeit war notwendig, um einer Familie das Überleben zu ermöglichen. Satt zu werden, galt als Luxus. Ebenso Kleidung zum Wechseln. Selbst mit schwerster körperlicher Arbeit war kaum Geld zu verdienen. Und je nach wirtschaftlicher Lage wurden Neugeborene „ausgelichtet“ – direkt nach der Geburt getötet, da ein weiterer Esser das Überleben der ganzen Familie in Frage stellen hätte können.

Doch „Von Stroh und Seide“ ist auch kein trauriger Tatsachenbericht – die Lebensfreude und Schelmigkeit der Menschen blitzt immer wieder durch: Die armen Schuldner verstecken sich am letzten Jahrestag vor dem Geldeintreibern, da an Neujahr ihre Schulden traditionsgemäß verfallen sein werden. Zwei alte Geishas schwärmen von der Schneidigkeit der damaligen Marine-Offiziere. Zwei schon seit Kindheit befreundete Herren unterhalten sich über ihre Streiche – unter anderem wie sie mit Zyankali „gefischt“ haben. Und der Pfandleiher unterstützt klammheimlich verschuldete Familien, die sich bei Nacht und Nebel davonmachen wollen, indem er ihnen einen guten Preis für ihre wenigen (geliehenen) Sachwerte macht.

„Von Stroh und Seide“ gibt einen authentischen Einblick in den Alltag der Menschen, indem sie selbst zu Wort kommen. Und genauso wie die Erzähler merkt der Leser, wie gut es den Menschen zwischenzeitlich geht – auch wenn dies mit städtischer Anonymität und dem Verlust der Naturbezogenheit einher geht.

Wer sich für japanischen Alltag früherer Zeiten interessiert, für den wird „Von Stroh und Seide“ sicherlich ein Fest sein: Die Friseurin erklärt, in welchem Alter die Haare der Mädchen wie frisiert wurden und was die Frisur symbolisierte. Die Hebamme erzählt von ärmlichen Hausgeburten. Der Tatami-Macher gibt Einblick in die traditionelle Herstellung von Tatamis. Und der Färber spricht davon, was es mit dem Spruch „Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle Färbersleute“ auf sich hat.

Bibliographische Angaben:
Saga, Junichi: „Von Stroh und Seide“, Edition Peperkorn, Göttingen 1994, ISBN 3-929181-03-7

Donnerstag, 13. Dezember 2012

„Therapiestation“ von Kenzaburo Oe

Darf man von der Lektüre eines Werks eines Nobelpreisträgers vehement abraten? Gilt dies als Sakrileg? Kenzaburo Oes Roman „Therapiestation“ hätte den Stoff für einen spannenden Science Fiction-Roman hergeben können: Irgendwann im beginnenden 21. Jahrhundert ist die Lage auf der Erde äußerst prekär geworden. Atomkriege und Reaktorunfälle haben die Welt verstrahlt; Aids grassiert flächendeckend. Eine ominöse Starship-Gesellschaft fasst den Plan, wenige Auserwählte, weltweit nur eine Million an der Zahl, auf einen entfernten Planeten zu evakuieren. Freilich werden nur körperlich und geistig besonders fitte Menschen für dieses Projekt ausgewählt. Um den Flug ins All zu realisieren, werden die Rohstoffe der Erde ein letztes Mal gnadenlos ausgebeutet. Die Auserwählten lassen die Versager in desolaten Verhältnissen zurück: Es fehlt in jedem Fachbereich an Spezialisten, da diese als Auserwählte die Erde verlassen haben. Rohstoffe und Nahrungsmittel sind extrem knapp. Im Chaos können vor allem Verbrecher profitieren.

Der Roman setzt zehn Jahre nach dem Aufbruch der Auserwählten ein. Die Ich-Erzählerin Ritsuko lebt bei einer entfernten Verwandten, die sie Großmutter nennt, und schnappt auf, dass die Auserwählten angeblich zurückkommen. Tatsächlich landen die Raumschiffe der Heimkehrer auf der Erde. So kehrt auch Saku, der Enkel der Großmutter, zurück und kommt die beiden Damen besuchen. Diese wundern sich nicht schlecht: Saku scheint die vergangenen zehn Jahre nicht gealtert zu sein. Er wirkt sogar verjüngt.

Die Elite der Auserwählten reißt gleich nach der Rückkehr die Macht an sich und diktiert Gesetze, die es den Auserwählten beispielsweise verbieten, sich mit den Versagern einzulassen. Doch Ritsuko und Saku verlieben sich ineinander und gehen auf Konfrontationskurs mit dem System.

So weit, so interessant. Wenn sich in den Roman nicht diverse Störfaktoren einnisten würden. Ritsuko, die kurz nach dem Aufbruch der Auserwählten als Sexsklavin einer Gangsterbande missbraucht wurde und erst nach einer Odyssee zu ihrer Großmutter zurückkehren konnte, wirkt so naiv, dass Erfahrung und Verhalten der Figur weit auseinanderklaffen. Man sollte sich denken, die Dame könnte patent sein, stattdessen ist sie primär passiv.

Da Saku ihr den Grund seiner Verjüngung wegen der Auflagen der Starship-Gesellschaft nicht nennen darf, unterhalten sie sich verklausuliert darüber, nämlich über Gedichte von Yeats, was im Nachhinein, erfährt man als Leser schließlich den von Saku verschwiegenen Grund, recht gestelzt und pseudo-elitär wirkt.

Kurz darauf folgt eine der wohl schlechtesten Sex-Szenen, die man sich so vorstellen kann:

„Unsere Körper prallten zusammen, als er sich auf das Sofa fallen ließ; und wie Kinder, die ein Weinen vortäuschen, riefen wir beide ‚ah! ah!’ während des Geschlechtsverkehrs. Trotzdem hatte ich immerhin soviel Ruhe bewahrt, unbedingt darauf zu bestehen, dass sich Sakuchan das Kondom überzog, das ich in die Brusttasche meiner Bluse gesteckt hatte. Sakuchan war wirklich jung, und – ich fürchte, ich wiederhole mich – frisch und perky wie ein knospender Pflanzenstängel, wie eine Knöterichknospe sozusagen, stieß ‚ah! ah!’-Laute aus und war gleich fertig.“ (S. 89f.)

Von dem seltsamen Liebespaar einmal abgesehen, ist auch vieles in der weiteren Handlung recht unplausibel: Warum können die Rückkehrer, die nur eine Million Menschen umfassen, in allen Ländern weltweit nach 10 Jahren mal so eben die Macht an sich reißen und die Verlierer komplett unterdrücken? Sollte da nicht eher eine Revolution ausbrechen? Warum wird der spannendste Teil, als von Abtrünnigen eine Rakete gekapert wird, wie als kleine Nebensache abgetan? Da wurde ja mehr über Yeats diskutiert. Und ohne zuviel zu verraten: Wieso ist das Ende des Romans gar so lapidar und lässt den Leser irgendwie im Regen stehen?

Was mag wohl Kenzaburo Oes Hauptanliegen gewesen sein? Als Atomkraftgegner einen apokalyptischen Roman über die Auswirkungen und die Gefahr von radioaktiver Strahlung zu schreiben? Darauf hinzuweisen, dass unsere Rohstoffe begrenzt sind und die Erde so einzigartig ist, dass wir sie wie unseren Augapfel hüten sollten? Dass eine selbsternannte Elite niemals über anderen Menschen steht? Dass man sich in das Erbgut der Menschen nicht einmischen sollte? Oder doch? Der Autor wirft diverse ernste Themen in einen Topf, rührt um, nimmt aber nur einen Löffel davon und zitiert ansonsten Yeats, lässt ein naives Mädchen palavern und schreibt unfreiwillig komische Sexszenen.

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Therapiestation“, Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-18418-7

Montag, 10. Dezember 2012

„Mein Körper weiß alles“ von Banana Yoshimoto

Banana Yoshimotos Erzählband „Mein Körper weiß alles“ ist für mich eher eine Liebe auf den zweiten Blick: Direkt nach der Veröffentlichung habe ich das Buch verschlungen und war wenig beeindruckt. Bei der zweiten Lektüre für die Rezension habe ich mir Zeit gelassen und fand die Erzählungen weitaus bezaubernder. Freilich sind immer noch Erzählungen darunter, mit denen ich nicht so richtig warm werde. Doch nun ist auch bei „Mein Körper weiß alles“ der Banana Yoshimoto-Funke übergesprungen, der beim erstmaligen Lesen kein bisschen geglimmt hat. Man lernt halt nie aus: Für Banana Yoshimotos Erzählungen muss man sich wohl einfach mehr Zeit nehmen.

Besonders herzlich empfand ich „Der grüne Daumen“: Durch den Tod der Großmutter überdenkt die Ich-Erzählerin, die in einer Bar arbeitet, ihre Lebensziele. Sie merkt, sie hat den grünen Daumen der Großmutter geerbt und setzt sich zum Ziel, einen Blumenladen zu eröffnen. Die Pflanzen werden es ihr danken.

Oder auch „Papas Spezialität“: In einer Berghütte möchte sich die Ich-Erzählerin regenerieren. Nachdem ihr Freund eine Kollegin geschwängert hat, kündigt sie und versucht sich abseits der Urbanität über ihre Gefühle klar zu werden.

„Mumie“ ist dagegen eine eher untypische Banana Yoshimoto-Erzählung. Hätte man mir weisgemacht, sie stamme aus der Feder von Yoko Ogawa, so hätte ich das sicherlich geglaubt: Denn es geht ein bisschen gruslig zu, wenn die Ich-Erzählerin von einem knochigen Archäologie-Studenten abgeschleppt wird. Er will sie weder gehen noch mit ihren Eltern telefonieren lassen. Stattdessen haben die beiden tagelang Sex, die Ich-Erzählerin gibt sich ihm völlig hin. Schließlich zeigt der Student ihr seine selbst mumifizierte Katze – als er im Anschluss auf ihren Bauch blickt, schwant ihr, dass er mit dem Gedanken spielt, auch sie zu mumifizieren.

Zehn weitere Banana Yoshimoto-Erzählungen enthält „Mein Körper weiß alles“, von denen für mich „Blumen und Sturm“ die schwächste war. Nicht immer gehen einem die Protagonisten der wenige Seiten umfassenden Erzählungen gleich so zu Herzen wie in Banana Yoshimotos Romanen. Doch die Autorin bedient thematisch alle Erwartungen der Leser: Der Umgang mit dem Tod geliebter Menschen, Trennungen, tragische Liebesgeschichten mit verheirateten Männern, unkonventionelle Familienkonstellationen und Erinnerungen sind die bekannten Banana Yoshimoto-Zutaten, die auch in „Mein Körper weiß alles“ zum Zuge kommen.

Bibliographische Angaben:
Yoshimoto, Banana: „Mein Körper weiß alles“, Diogenes, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-06751-4

Sonntag, 9. Dezember 2012

„Gold Rush“ von Miri Yu

Koganecho – die Stadt des Goldes – ist Yokohamas runtergekommenes Rotlichtviertel: Huren, Yakuza und Glückspieler tummeln sich dort. Und auch der Junge namens Kazuki streicht seit Jahren im Viertel umher. Sein Vater Hidetomo betreibt in Koganecho eine Pachinko-Halle, weswegen der Stadtteil zu Kazukis Heimat wird. Dort treibt er sich mit dem Yakuza Kanamoto rum und kehrt im Imbiss „Goldener Pavillon“ ein, deren Betreiber er Opa Sada und Oma Shige nennt. Doch Kazuki ist nicht mehr der kleine Junge, den die Prostituierten gerne auf den Schoß nahmen und schaukelten. Mit 14 Jahren ist er mehr als unzugänglich, nimmt Drogen, schwänzt die Schule und spielt sich in der Spielhalle seines Vaters als Chef auf. Wenn seine Angst und Wut aufeinanderprallen, entlädt sich Kazukis Gewaltpotenzial: So erschlägt er eines Tages mit dem Golfschläger einen der beiden Dobermänner seines Vaters, verletzt den anderen so schwer, dass er eingeschläfert werden muss.

Kazukis Familienverhältnisse sind alles andere als harmonisch: Seine Mutter hat die Familie verlassen. Kazukis älterer Bruder Koki ist geistig behindert und benötigt permanente Pflege. Seine ältere Schwester Miho treibt sich wie Kazuki in der Stadt herum; schläft für Geld mit älteren Männern, um der eigenen Leere zu entkommen. Hidetomo schlägt seine provokante Tochter vor den Söhnen, die unfähig sind, einzuschreiten. Hidetomo betrachtet Kazuki als seinen Erben und verrät ihm das Versteck für das an der Steuer vorbei gehortete Gold.

Als Hidetomo Kazuki droht, ihn in die Obhut eines strengen Lehrers zu geben, sieht Kazuki rot. Wut und Angst prallen aufeinander und er tötet den despotischen Vater mit einem  Samurai-Schwert, verscharrt den Leichnam im Keller. Endlich ist der Störenfried beseitigt, der ein harmonisches Familienleben unmöglich machte. Kazuki träumt von einer liebevollen Familie – doch ob sich dies vor dem Hintergrund des Mordes realisieren lässt?

Die Autorin Miri Yu wurde von dem Fall des Schülers Sakakibara so aufgewühlt, dass sie mit „Gold Rush“ eventuelle Gemeinsamkeiten mit Gewalttätern ausloten wollte. Sakakibara ermordete 14-jährig eine 10-jährige Schülerin und einen 11-jährigen geistig behinderten Jungen in Kobe. Seine Morde bezeichnete er als Spiel. In den Ermittlungsakten wurde Sakakibara als Junge A geführt. Miri Yu nimmt dies auf und spricht über Kazuki meist von „dem Jungen“.

Doch auch eigene Erlebnisse der Autorin fließen in „Gold Rush“ mit ein: Ihr Vater arbeitete ebenfalls in einer Pachinko-Halle in Koganecho, sie selbst verbrachte als Jugendliche ihre Freizeit in diesem Rotlichtviertel. Familiäre Gewalt erlebte sie zur Genüge. Daher machte sie ähnliche Erfahrungen wie Kazukis Familie: Wenn die Kommunikation scheitert, dann bleibt als letztes Mittel die Gewalt.

„Gold Rush“ ist sicherlich keine Belletristik im wörtlichen Sinn: Denn schön ist die Auseinandersetzung mit einem minderjährigen Mörder, der in Rage gebracht zu Gewaltexzessen neigt, sicherlich nicht. Doch legt die Autorin den Finger in die Wunde: Wenn der Vater Probleme mit Gewalt löst und dem Sohn vorlebt, dass dies Macht verschafft, scheint der Junge ein zu guter Schüler zu sein, wenn er schließlich den Vater tötet. Der Junge bleibt dennoch ein Kind – wünscht er sich doch nichts anderes als familiäre Geborgenheit.

Bibliographische Angaben:
Yu, Miri: „Gold Rush“, be.bra Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86124-911-5

Samstag, 8. Dezember 2012

Miri Yu

Die japanisch-koreanische Autorin Miri Yu wurde 1968 in der Präfektur Ibaraki geboren. Japanisch ist ihre Muttersprache; jedoch hat sie die südkoreanische Staatsangehörigkeit. Miri Yu wuchs in Yokohama auf, wo ihr Vater im Rotlichtviertel Koganecho in einer Pachinko-Halle arbeitete. Da ihr Vater oft Geld verspielte, arbeitete ihre Mutter als Hostess, um das Familieneinkommen aufzubessern.

Aufgrund ihrer koreanischen Abstammung als auch der Zugehörigkeit einer sozial schwachen Schicht erlebte Miri Yu Diskriminierung im Kindergarten und in der Schule. Mehrfach versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Mit dem Ende der Pflichtschulzeit wurde sie der Schule verwiesen.

Als jüngstes Mitglied wurde sie in die Schauspieltruppe Tokyo Kid Brothers aufgenommen, wo sie als Schauspielerin und Regieassistentin fungierte. Schließlich schrieb sie Theaterstücke und Prosa. In den 90er Jahren gewann sie unter anderem den Noma-  und den Akutagawa-Literaturpreis. Ihre Memoiren wurden verfilmt.

Seit 2001 lebt Miri Yu in Kamakura.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Mittwoch, 5. Dezember 2012

„Schwarzer Regen“ von Masuji Ibuse

„Als sich der Qualm wieder verzog, sahen wir, dass das Hindernis eine Leiche war, mit einem toten Baby im Arm. Von da an ging ich immer voran und gab auf alle dunklen Gegenstände, die auf dem Weg lagen, sorgsam Acht. Dennoch stolperten wir noch so manches Mal über Tote und fielen vornüber, wobei wir mit den Händen in den heißen Asphalt einsanken. Einmal blieb ich mit dem Schuh an einer halbverbrannten Leiche hängen, deren Fuß- und Schenkelknochen verstreut herumlagen.“ (S. 111)

Die Hölle auf Erden hat einen Namen, der Hiroshima lautet. Als am 06. August 1945 die Atombombe über der Stadt abgeworfen wird, werden die Bewohner der Stadt mitten in die Apokalypse katapultiert. Der Autor Masuji Ibuse, der zu diesem Zeitpunkt zwar in einem Dorf in der Präfektur Hiroshima lebte, aber erst Stunden später vom Ausmaß der Katastrophe erfuhr, veröffentlichte 1965 die ersten Kapitel seines Werks „Schwarzer Regen“, das Siegfried Schaarschmidt im Nachwort als „dokumentarischen Roman“ bezeichnet. Wo bleibt denn noch Platz für Fiktion, wenn die grausigsten Ereignisse ohnehin schon Realität geworden sind?

Shigematsu Shizuma nimmt die anstehende Verheiratung seiner Nichte Yasuko Anfang der 50er Jahre zum Anlass, seine Tagebucheinträge vom 06. August bis zum 15. August 1945 ins Reine zu schreiben. Shigematsu erlebt den Atombombenabwurf am Bahnhof. Glücklicherweise wird er nur leicht verletzt: Die eine Hälfte seines Gesichts wird seltsam angesengt – er kann die Haut in komisch verfärbten Fusseln abziehen. Er macht sich auf, seine Ehefrau Shigeko und seine Nichte Yasuko zu suchen. Kilometerweise schlägt er sich durch die zerstörte Stadt und muss sich ein Bild der grausamen Zerstörung machen. Wie der Großteil der Überlebenden versuchen auch die drei außerhalb der Stadt eine Bleibe zu finden. Auf dem Weg hören sie von ihren Leidensgenossen deren Erlebnisse während und nach dem Abwurf: Schüler wurden an ihren Schulpulten zu Asche pulverisiert, Soldaten durch die Druckwelle gegen Gebäude geschleudert. Doch fast noch schlimmer erwischt es die, die durch die Strahlung elendig zu Grunde gehen müssen. Das sind neben den Einwohnern auch Hilfstrupps, die aus dem Umland nach Hiroshima kommen. Schließlich stapeln sich die Leichen in der Stadt, die in der hochsommerlichen Hitze schnell verwesen. Die Krematorien sind komplett überlastet; die Leichen müssen in Erdlöchern verbrannt werden. Die Überlebenden kämpfen zudem gegen die Militärbürokratie: Nur die militärische Ausgabestelle darf über das Kohlenlager verfügen. Doch wohin soll man sich wenden, wenn die Ausgabestelle komplett zerstört ist und alle Mitarbeiter gestorben sind?

Zurück in der Rahmenhandlung in den 50ern weist ein potenzieller Heiratskandidat Yasuko zurück: Mit einer Überlebenden der Atombombenkatastrophe, mit einer Hibakusha, möchte er sich nicht einlassen. Obwohl es Yasuko bis dato relativ gut ging, beginnt schließlich doch die Strahlenkrankheit auszubrechen. Die hübsche junge Frau leidet unter großen Schmerzen, bekommt eiternde Furunkel, die Zähne fallen aus.

Dadurch dass „Schwarzer Regen“ die Geschichten unterschiedlicher Personen einfängt, entsteht ein apokalyptisches Panoptikum des Atombombenabwurfs, das einem an so manchen Stellen den Atem stocken lässt. Es wäre schön, wie bei anderen krassen Romanen alles mit einem „ist ja nur ein Buch“ abtun zu können. Doch „Schwarzer Regen“ beruht auf Tatsachen, die in Realität noch viel entsetzlicher gewesen sein mögen.

Bibliographische Angaben:
Ibuse, Masuji: „Schwarzer Regen“, Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-596-25846-4

Dienstag, 4. Dezember 2012

Masuji Ibuse

Masuji Ibuse (geboren 1898 in der Präfektur Hiroshima) wollte ursprünglich Maler werden. Bereits in der Mittelschule malte er passioniert. Jedoch wurde er von Kansetsu Hashimoto als Schüler abgelehnt. Daher begann er an der Waseda-Universität französische Literatur zu studieren. Sein Studium schloss er jedoch nie ab.

Anfang der 20er Jahre veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk, das von westlichen Einflüssen geprägt war, aber nicht viel Aufmerksamkeit erntete. Daraufhin wandte er sich einem japanischerem Schreibstil, insbesondere der Ich-Erzählung, zu.

Im zweiten Weltkrieg wurde er mit einer Propaganda-Einheit nach Thailand und Singapur geschickt. Das Ende des Krieges erlebte er in seiner Heimat, der Präfektur Hiroshima. Auch wenn er selbst die Schrecken des Atombombenwurfs nicht direkt erfahren hatte, sollte er 1966 mit „Schwarzer Regen“ den Geschehnissen ein literarisches Denkmal setzen. Für den Roman erhielt er den Noma-Literaturpreis und den japanischen Kulturorden.

Masuji Ibuse fungierte als Mentor von Osamu Dazai.

1993 starb Masuji Ibuse im stolzen Alter von 95 Jahren

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen/Kurzgeschichten/Romane und hier rezensiert:

Montag, 3. Dezember 2012

„Das Leben eines Narren“ von Ryunosuke Akutagawa

Puh, das ist schon ein komisches Gefühl, wenn man einen Abschiedsbrief eines Selbstmörders und dessen kurz vor dem Tod selbstverfasste Lebensgeschichte liest. Insbesondere wenn es sich dabei um niemand anderen als Ryunosuke Akutagawa handelt. Der Autor, der sich im Alter von 35 Jahren das Leben nahm, schrieb wenige Wochen vor seinem Tod durch eine Überdosis Veronal „Das Leben eines Narren“. 51 Kapitel(chen), die zum Teil nur wenige Zeilen umfassen, beleuchten einzelne Lebensstationen und zeichnen ein trostloses Bild: Ryunosuke Akutagawa verzweifelt (unter anderem) an seiner wirtschaftlichen Verantwortung, die er den vielen Familienmitgliedern gegenüber hat:

„Er hatte die Absicht gehabt, ein wildes Leben zu führen, gleichgültig gegenüber dem Zeitpunkt seines Todes. Und nahm dennoch unverändert in allem Rücksicht auf seine Adoptiveltern und seine Tante. Dieser Einstellung hatte er die helle und die dunkle Seite seines Lebens zu verdanken.“ (S. 47)

Auf seiner dunklen Seite ist er ein Misanthrop, der anderen Menschen gar den Tod wünscht:

„Das Haus seiner älteren Schwester und das Haus seines Stiefbruders waren niedergebrannt. Und den Mann seiner Schwester hatte man wegen Meineids zu einer Bewährungsstrafe verurteilt…
’Sollen doch ruhig alle sterben!’“ (S. 42)

Und:

„’Töte! Töte! …’
Wieder und wieder erklang dieses Wort wieder in seinem Kopf.“ (S. 39)

Er fühlt sich unzulänglich. Die Gesellschaft verachtet er und fürchtet sie gleichzeitig. Der Selbsthass schlägt sich in physischen Leiden nieder. Er glaubt, verrückt zu werden, leidet unter Schlaflosigkeit. Nur Schlafmittel erlauben ihm, wenige Stunden am Tag klar denken zu können. Den Selbstmord erachtet er bereits als die einzige Erlösung, die ihn befreien kann.

Kurz flackern auch einige für ihn wichtige Menschen in „Das Leben eines Narren“ auf: Die konträre Lebenseinstellung eines Junichiro Tanizaki, der Tod seines Förderers Soseki Natsume, die für Akutagawa verstörende Begegnung mit der Dichterin Mineko Matsumura… Und freilich beschäftigt er sich mit Literatur, mit der Kunst.

In knappen Sätzen beschreibt Akutagawa seine Gefühlslage und wird damit seinem desolaten Zustand sicherlich am besten gerecht. Eine unglaubliche Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung schwingen mit.

Das Manuskript von „Das Leben eines Narren“ war für Masao Kume, einem engen Freund Akutagawas, ebenso bestimmt, wie der Abschiedsbrief „Notiz für einen Freund“, der ebenfalls in der Ausgabe des Suhrkamp Verlags abgedruckt ist. Abgeklärt beschreibt Akutagawa hier, wie er seit zwei Jahren über den Selbstmord reflektiert hat. Wie er nach der besten und möglichst schmerzfreien Möglichkeit gesucht hat, sich das Leben zu nehmen. Welchen Ort er für seinen Tod wählen sollte. Ob er wie andere Selbstmörder ein „Sprungbrett“ (vielleicht eine Frau, die sich ebenfalls das Leben nehmen möchte) benötigt. Und ob es ihm wohl gelingen würde, seinen Selbstmord so geschickt zu inszenieren, dass man einen natürlichen Tod annehmen könnte. Mit dem Leben hat er abgeschlossen:

„Ich habe mehr als andere gesehen, leidenschaftlicher als andere geliebt und mehr als andere begriffen. Inmitten all des Kummers erfüllt allein dies mich mehr oder minder mit Befriedigung.“ (S. 76)

Das dünne Büchlein ist schwer zu verdauen. Akutagawa steht vor der Wahl, dem Wahnsinn zu verfallen oder Selbstmord zu begehen. Ist der Selbstmord die finale Niederlage oder die ersehnte Befreiung? Wie nahe liegen Genie und Wahnsinn beieinander?

Bibliographische Angaben:
Akutagawa, Ryunosuke: „Das Leben eines Narren“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-22254-6

Sonntag, 2. Dezember 2012

„Blut in der Morgenröte“ herausgegeben von Janwillem van de Wetering

„Blut in der Morgenröte“, der dritte und letzte Teil der japanischen Kriminalstories, die Janwillem van de Wetering herausgegeben hat, zeichnet sich wie der erste Teil „Drachen und tote Gesichter“ dadurch aus, dass man die Krimis in dem Band suchen muss. Insbesondere da das Buchcover mit „Thriller“ gekennzeichnet ist, weckt es leider falsche Erwartungen: Der Großteil der neun Erzählungen japanischer Autoren fällt nicht in dieses Genre.

„Der Drache“ soll in Ryunosuke Akutagawas Erzählung demnächst aus einem See in den Himmel auffahren. Doch dieser Mythos, der bei den Bewohnern des Städtchens am See umgeht, geht auf einen sich verselbständigenden Scherz des langnasigen Mönchs Hanazo zurück.

Der Student Fukiya ist clever – aber arm. Um seinen Kontostand aufzubessern, heckt er einen Mord an der reichen Witwe aus, bei der sein Kommilitone Saito wohnt. Als beide verdächtigt werden, die Witwe getötet zu haben, wendet Kogoro Akechi, Japans Sherlock Holmes, eine List an: „Der psychologische Test“ soll in Edogawa Rampos Erzählung den wahren Täter überführen.

„Der Mord im Pfandleihhaus“ ist eine verzwickte Sache. Der Geschäftsführer Tsunemoto wird eines Morgens tot aufgefunden: Er ist im Tresorraum eingeschlossen worden und erstickt. Zwei wertvolle Diamantringe sind entwendet worden. Der Verdacht fällt auf die beiden Angestellten und die Inhaberin des Pfandleihhauses. Zusammen mit ihrem Verehrer löst die weibliche Angestellte Naomi den Fall in Shizuko Natsukis Kriminalgeschichte.

In „Das Rasiermesser“ zeichnet Naoya Shiga das Bild eines Barbiers, dessen Nerven im Fieberwahn mit ihm durchgehen.

„Böse Kameraden“ hat Shotaro Yasuokas Protagonist und Ich-Erzähler: Der Teenager macht die Bekanntschaft des schmuddeligen, koreanisch-stämmigen Komahiko. Komahiko wird zum Helden des Ich-Erzählers und dessen besten Freund Kurata. Denn Komahiko ist ein kleiner Rebell: Er prellt die Zeche, kennt sich im Rotlichtviertel bestens aus und ist dabei auch noch intellektuell bewandert. Die Coming-of-age-Erzählung, die während des zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs kurz vor Japans Angriff auf Pearl Harbour spielt, gleicht einem Tanz auf dem Drahtseil, der eine verrückt gewordene Welt spiegelt. Der Ich-Erzähler rebelliert gegen das Althergebrachte, will sich von seiner kleinbürgerlichen Familie abnabeln – und übt schließlich Verrat. Für mich ist Shotaro Yasuokas Erzählung das Highlight in „Blut in der Morgenröte“. Der Stoff hätte zum Roman gereicht.

In „Metro à gogo“ erzählt Kyotaro Nishimura von einer lächelnden Leiche, die erstochen in einem Kanal aufgefunden wird. In Rückblenden wird die Vergangenheit beleuchtet – und warum die Leiche im Tod so glücklich gewesen sein mag.

Junichiro Tanizakis „Aguri“ behandelt ein typisches Tanizaki-Thema: Ein alternder, von Krankheit gezeichneter Mann verausgabt sich, um seiner jungen Geliebten Anguri diverse Gefälligkeiten zu erweisen.

Mit Ogai Mori darf sich der Leser auf „Blutrache“ begeben: Die Erzählung, die auf einem Vorfall aus dem Jahr 1835 zurückgeht, ist zwar eher fad, zeichnet aber ein detailliertes Bild der legalisierten Blutrache.

„Rittlings auf der Leiche“ von Akinari Ueda findet sich auch in „Unter dem Regenmond“ als „Die blaue Kapuze“: Ein Zen-Meister macht es sich zur Aufgabe, einem wahnsinnigen Mönch, der auf der Suche nach essbarem Menschenfleisch ist, Einhalt zu gebieten.

Bibliographische Angaben:
van de Wetering, Janwillem (Hrsg.): „Blut in der Morgenröte“, Rowohlt, Reinbek 1994, ISBN 3-499-43075-4

Samstag, 1. Dezember 2012

Shotaro Yasuoka

Als Sohn eines Veterinärs der kaiserlichen Armee wurde Shotaro Yasuoka 1920 geboren. Bedingt durch den Beruf des Vaters zog die Familie oftmals um und Shotaro Yasuoka entwickelte eine Abneigung gegen die Schule. Mehrfach fiel er durch die Aufnahmeprüfungen bis er schließlich auf der Keio Universität angenommen wurde. Da er kränklich war, wurde er erst gegen Ende des Weltkriegs eingezogen. In China erkrankte er jedoch ernsthaft an Tuberkulose und hätte beinahe den Rücktransport nach Japan nicht überlebt.

Nach dem Krieg begann er, während er mit einer spinalen Entzündung bettlägerig war, zu schreiben und wurde 1953 mit dem Akutagawa-Literaturpreis ausgezeichnet. Zweimal erhielt er den Noma-Literaturpreis. Zudem gewann er den Yomiuri- und den Kawabata-Preis. 2001 wurde er für sein Lebenswerk mit dem Kulturorden ausgezeichnet. Seine autobiographisch angehauchten Werke behandeln meist die Lebenswelt von Versagern und Underdogs. Oftmals wurde er als "Stoiker"  bezeichnet.

Leider sind bisher keine Romane des Autors ins Deutsche übersetzt worden; es liegen bis dato nur Erzählungen in verschiedenen Sammelbänden vor.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert: