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Donnerstag, 31. Dezember 2015

„Das Grab der wilden Chrysantheme“ von Sachio Ito

„Das Grab der wilden Chrysantheme“ ist erstmalig im Jahr 2010 in der Übersetzung durch Koji Yamada erschienen. Die Übersetzerin Nobue Shimada, die in Freiburg lebt, hat dieses Jahr eine Neuübersetzung der Novelle vorgelegt: Der Ich-Erzähler Masao und seine zwei Jahre ältere Cousine Tamiko wachsen fast wie Geschwister auf. Doch je älter sie werden, desto verdächtiger wirkt die innige Verbindung der Heranwachsenden auf die Erwachsenengesellschaft. Erst durch die Unterstellung, die beiden seien ineinander verliebt, werden Masao und Tamiko sich ihrer Gefühle füreinander bewusst. War der Umgang bisher unschuldig und geschwisterlich, so wird nun jede Regung auf die Goldwaage gelegt. Sachte versuchen sie sich gegenseitig, ihre erste Liebe zu gestehen.

Doch allein des Altersunterschieds wegen entschließt sich Masaos Mutter, die beiden Jugendlichen zu trennen, bevor die unschickliche Affäre Wellen schlägt. Das Ende der Novelle ist tragisch…

Die Übersetzung von Koji Yamada wirkt wie eine grobe Rohübersetzung – Nobue Shimadas Version fehlt leider noch der letzte Schliff. Der Leser stolpert immer wieder über Fehlerchen oder ungelenke Ausdrücke.

Etwas eloquenter wirkt die Übersetzung des zweiten Textes, der im selben Buch abgedruckt ist: Nobue Shimada wagt sich hier an die Übersetzung von Junichiro Tanizakis „Geschichte von Shunkin“ (bereits erschienen im Volk & Welt Verlag als „Biographie der Frühlingsharfe“ im Band „Die Traumbrücke“ bzw. in „Die fünfstöckige Pagode“ vom Diederichs Verlag). Tanizaki zeichnet hier wieder einmal das Bild einer Femme Fatale und des Mannes, der dieser völlig ergeben ist. Es handelt sich um die blinde Musikerin Shunkin, die exzentrisch und sadistisch mit Sasuke, ihrem Diener, umspringt. Sasuke ist bald mehr als nur der Untergebene seiner Herrin, jedoch wird dies nur unter der Hand bekannt.

Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet vom Lebensweg der Shunkin im Osaka des 19. Jahrhunderts, die als junges Mädchen erblindet. Er zieht dazu eine Biographie zu Rate und bezieht sich auf Zeitzeugen. Shunkin gleicht einer klassisch-japanischen Schönheit mit extremem Hang zu Reinlichkeit und Pedanterie. Sasuke lernt Shunkin bereits als junges Mädchen kennen und weicht ihr fortan nicht mehr von der Seite. Shunkin zeichnet sich durch ihr Talent als Shamisen-Spielerin aus und auch Sasuke beginnt bald mit dem Musizieren. Obwohl Shunkin gar schwanger von Sasuke wird, lehnt die hochmütige Frau eine Hochzeit ab – sie sieht Sasuke nicht als ebenbürtig an. Dennoch leben die beiden bald in einer eheähnlichen Beziehung zusammen und geben Musikunterricht. Als Shunkin ein Unglück widerfährt, sieht sich Sasuke zu einem extremen Schritt gezwungen.

Aber auch in der Übersetzung von „Geschichte von Shunkin“ offenbaren sich einige Holprigkeiten. So stolpert man beim Lesen zum Beispiel über diese Unplausibilität:

„Sie schwitzte leicht und war gleichzeitig verfroren. Selbst im Sommer schwitzte sie kaum auf ihrer Haut […].“ (S. 112)

In der Version des Volk & Welt Verlags liest sich dieselbe Passage sinniger:

„Obwohl ihr leicht das Blut zu Kopfe stieg, war sie gegen Kälte sehr empfindlich. Selbst im Hochsommer kam sie nie in Schweiß […].“ (S. 162)

Nobue Shimada macht mit ihrer Übersetzung zwei Klassiker der japanischen Literatur (wieder) zugänglich. Jedoch ist es etwas schade, dass nicht ordentlich lektoriert wurde. Etwas irritierend wirkt zudem, dass die Übersetzerin den eigentlichen Autor Sachio Ito nicht auf dem Cover nennt. So wirkt es, als sei Nobue Shimada die Autorin von „Das Grab der wilden Chrysantheme“. Das Werk von Tanizaki findet weder auf dem Buchtitel noch im Klappentext Erwähnung. Auch findet sich derzeit im Internet kein Aufschluss über die zweite Novelle, die auf dem Cover angekündigt wird. Für Buchbesteller kommt Shunkin so wie Kai aus der Kiste.

Bibliographische Angaben:
Ito, Sachio: „Das Grab der wilden Chrysantheme“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Shimada, Nobue), Pro Business, Berlin 2015, ISBN 978-3-86460-284-9

Sonntag, 13. Dezember 2015

„Haibun“ von Basho

Ekkehard May erklärt dem Leser im Vorwort zu Bashos „Haibun“ zunächst, was dieses Haibun denn sein mag. So bezieht er sich auf Basho selbst. Ein Haibun ist ein

„neues literarisches Ausdrucksmittel, das frei und im positiven Sinne ‚fern allen Nutzens’ sich entfalten könnte.“ (S. 6)

Das „Fuzoku Monzen“ erschien 1706 als erste größere Anthologie, das ganze 21 Kategorien an Haibun enthält (über reimende Prosa über Vorworte hin zu Ermahnungen und Lobreden). Bei Basho selbst ist das Kigo, die Lobrede, besonders ausgeprägt. Dabei scheinen die Kigo des Bandes „Haibun“ manchmal die Vorform der Kiko (Reisetagebücher) des „Oku no hosomichi“ (deutsche Übersetzung „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“).

Und so nimmt auch „Haibun“ den Leser mit auf Bashos Reisen, die als Metapher des Lebensweges an sich stehen. Basho begibt sich auf den Spuren der Vergangenheit zu Uta-Makuras (Gedicht-Kopfkissen); also zu Orten, die bereits von anderen Dichtern poetisch beschrieben wurden. Vor Ort lässt Basho die bewegte Geschichte der Plätze Revue passieren.

Einerseits möchte er ein Leben als reisender Dichterbettler führen:

„So gebe ich doch wieder alles auf, verlasse meine Bleibe, binde mir einen Gürtel mit vielleicht hundert Lochmünzen um und vertraue mein Leben dem Wanderstab und einer Almosenschale an. Ich habe es geschafft – die Poesie hat mich schließlich zum Bettler mit nur einer Strohdecke auf dem Leib gemacht!“ (S. 328)

Doch schon bald darauf kehrt Basho zurück in eine Klause, die ihm seine Gönner errichten:

„Nichts in seinem Busen zu hegen ist etwas Kostbares, nichts zu vermögen, nichts zu verstehen ist das Höchste. Keine Wohnung zu haben, keine eigene Klause zu besitzen, kommt gleich danach. Jedoch – wie könnte ‚die kleine Taube mit ihren Flügeln’ die eiserne Willenskraft aufbringen, an nichts festzuhalten, auf nichts sich zu verlassen?“ (S. 331)

Jedem der 84 Haibun werden einige erklärende Seiten nachgestellt. Dazu kommen noch weitere 100 Seiten Anmerkungen, die ich jedoch nur partiell gelesen habe. Damit wirkt „Haibun“ eher wie eine Doktorarbeit. So werden nicht nur Jahreszeitenwörter erklärt, historische Gegebenheiten erläutert, sondern auch Texte aufgezeigt, auf die Basho Bezug nimmt. Diese kurze Zusammenfassung hier erscheint mehr als unzureichend ob der Fülle der Informationen, die der Band birgt.

Der Einstieg in „Haibun“ ist mir persönlich jedoch etwas schwer gefallen. Die ersten Haibun sind sehr kurz und haben mich dadurch leider nicht einfangen können. Erst ab Haibun Nr. 32, das Bashos „Wallfahrt zum Koya-Berge“ anschaulich schildert, war der Knoten geplatzt.

Bibliographische Angaben:
Basho: „Haibun“ (Übersetzung aus dem Japanischen: May, Ekkehard), Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2015, ISBN 978-3-87162-082-9

Dienstag, 1. Dezember 2015

Interview mit Marcus Sandmann/S.Sagenhaphter Verlag: „Wir haben viel vor"

Marcus Sandmann/S. Sagenhaphter Verlag
(Fotocredit: © Karsten Schröter)
Im Mai 2013 erschien mit Gishu Nakayamas „Atsumonozaki oder die geliehene Dankbarkeit“ erstmals ein japanischer Autor im S.Sagenhaphter Verlag. Japanische Literatur hat bei dem Verleger Marcus Sandmann nachgefragt, wie es zur Veröffentlichung der mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichneten Erzählung gekommen ist.

Charlotte Probst: Der S.Sagenhaphter Verlag hat vor zwei Jahren erstmals mit Gishu Nakayama einen japanischen Autor verlegt. Wie kam es denn dazu?

Marcus Sandmann: Mein Bruder hat Japanologie, auch Sinologie und Germanistik im Nebenfach studiert und lebt mit seiner Familie in Japan. Er kennt die ostasiatischen Ländern gut. 2010 trug ich mich mit dem Gedanken, einen Verlag zu gründen. Mein Bruder fand die Idee großartig und unterstützte mich in diesem Vorhaben, so dass wir am 12. April 2011 den S.Sagenhaphter Verlag zusammen gründeten. Natürlich in dem Bestreben hauptsächlich japanische Literatur zu veröffentlichen.

CP: Was hat Sie beide dazu bewogen, ausgerechnet die Erzählung „Atsumonozaki oder die geliehene Dankbarkeit“ von Gishu Nakayama zu übersetzen und herauszugeben?

MS: Der Zusatz „Die geliehene Dankbarkeit“ des deutschen Titels kam von mir als Argument, den deutschsprachigen Leser direkter mitzunehmen in seinem Interesse, die Erzählung zu lesen. Auch darüber haben mein Bruder und ich lange diskutiert. Man könnte über jeden Absatz lange Gespräche führen. So eine Übersetzung ist ja fast eine Neudichtung. Er überlegte, was er als Erstes veröffentlichen sollte. Die Erzählung ist nicht zu lang, enthält aber typische japanische Charaktere und daraus resultierende Probleme, die für uns Deutsche in dieser Form auch nachvollziehbar sind. Wie mein Bruder auf diese Erzählung stieß, sollte er lieber selber beantworten.

CP: Der Autor Gishu Nakayama ist in Deutschland weitestgehend unbekannt. Wie bekannt ist der Autor denn in Japan?

MS: Man kennt und liest ihn. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er unter anderem den Roman „Shoan“ -  ein mehrfach ausgezeichnetes Werk.

CP: Kann sich das deutsche Publikum auf weitere Veröffentlichungen von japanischer Literatur durch den S.Sagenhaphter Verlag freuen? 

MS: Wir haben viel vor, doch Geduld ist leider angesagt. Nun neigt sich das Jahr 2015 dem Ende zu und ich kann stolz verkünden, dass eine neue Übersetzung fertig ist! Sie muss nur noch gesetzt und gedruckt werden: „Schönes Dorf“ von Tatsuo Hori. Eine Art Tagebuch fast Stundenbuch, welches er während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in den Bergen verfasst. Es behandelt das Erlebnis des Verliebens. Außerdem haben wir mit unserem Graphiker, Handsetzer und -drucker Udo Haufe aus Dresden ein wunderschönes Kunstbuch gefertigt. 10 Haikus und andere Kurzgedichten wurden dafür neuübersetzt bzw. übertragen, was sehr schwer ist und ein wenig Neudichtung bedarf. Begleitet und umrahmt werden die Haikus mit Materialdrucken/Graphiken.

CP: Angenommen Geld und Zeit spielen keine Rolle: Welches Werk eines japanischen Autors würden sie gerne übersetzen und verlegen? Warum?

MS: Als Verleger hätte ich gern einige feine, ausgewählte Werke japanischer Autoren verschiedenster Gattungen im Angebot, um dem deutschsprachigen Leser die gesamte und fremdartige Literaturgeschichte Japans in sein Lesezimmer zu bringen. Wir arbeiten daran – Geduld.

CP: Vielen Dank für das Interview! Ich bin schon ganz gespannt auf Ihre Neuveröffentlichung von Tatsuo Hori!

Samstag, 14. November 2015

„Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ von Haruki Murakami

Der Band „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ vereint Haruki Murakami-Erzählungen aus dem gesamten Spektrum des Autors. Da sind zum Beispiel die fantastischen Erzählungen „TV-People“, „Das grüne Monster“ und „Der tanzende Zwerg“. Während in den ersten beiden Erzählungen die Realität der Protagonisten jäh durchbrochen wird, als ungewöhnliche Wesen in deren Alltag eintreten, spielt „Der tanzende Zwerg“ bereits in einer ganz anderen Realität. Das Motiv der „TV-People“ erinnert etwas an die „Little People“, denen der Leser im Haruki Murakami-Roman „1Q84“ begegnet.

Dann gibt es Erzählungen, die aus der Sicht eines männlichen Studenten geschrieben sind. In „Das Fenster“ und „Der letzte Rasen am Nachmittag“ machen die Ich-Erzähler über ihre Nebenjobs ungewöhnliche Frauenbekanntschaften. Während sich der Protagonist in „Das Fenster“ als Lehrer fürs Briefeschreiben verdingt und eine seiner älteren Schülerinnen eines Tags trifft, mäht der Student in „Der letzte Rasen am Nachmittag“ einen Sommer lang die Rasen seiner Kundschaft. An seinem letzten Arbeitstag kürzt er den Rasen einer etwas kuriosen Witwe.

Andere Erzählungen greifen dann wiederum das Leben von Schülern auf: In „Das Schweigen“ geht es um Mobbing an dem etwas zurückgezogenen Schüler Osawa. Aufgrund gekränkter Eitelkeit setzt ein anderer Schüler böse Gerüchte über ihn in die Welt. Fast droht der bald völlig isolierte Osawa an der Situation zu zerbrechen. In der Kurzgeschichte  „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ geht es in der Binnenhandlung um ein verliebtes Schülerpärchen. Jedoch würde ich den kurzen Text eher als die sensationellste Anmachidee schlechthin bezeichnen.

In „Lederhosen“ und „Familiensache“ geht es um Änderungen in den Familiensituationen. Während es in „Lederhosen“ um eine Trennung geht, findet in „Familiensache“ ein Paar zusammen – zum Ärger des Bruders der Verlobten.

Besonders gut sind die Stimmungen gelungen, die Haruki Murakami mit wenigen und kurzen Sätzen beschreibt. So fühlt der Leser die Sommerhitze beim Rasenmähen geradezu auf der Haut prickeln, erlebt die Wut des gemobbten Schülers hautnah und er kann sogar in die phantastische Welt von „Der tanzende Zwerg“ komplett eintauchen, in der Elefanten in einer Fabrik gefertigt werden, die Menschen Metacol trinken und ein tanzender Zwerg vom Körper eines Arbeiters Besitz ergreift.

Durch die vielfältigen, aber typischen Motive ist „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ sicherlich ein ideales Buch für Haruki Murakami-Einsteiger, die in den Stil des Autors erst mal nur hineinschnuppern möchten. Und für die Haruki Murakami-Fans reiht sich ein literarischer Leckerbissen an den anderen.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), Berlin Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-8333-0046-9

Sonntag, 8. November 2015

„Meijin“ von Yasunari Kawabata

Yasunari Kawabatas „Meijin“ basiert auf dem Go-Spiel, das Shusai Honinbo, der damalige Meister des Gos (= Meijin), gegen seinen jüngeren Kontrahenten Minoru Kitani im Jahr 1938 ausfocht. Yasunari Kawabata berichtete damals in der Zeitung Mainichi über die Partie, die sich über ein halbes Jahr hinziehen sollte. Bis in die 50er Jahre hinein überarbeitete der Autor seine Aufzeichnungen, um den teilweise fiktionalisierten Fortsetzungsroman „Meijin“ im Jahr 1951 zu veröffentlichen.

Als Ich-Erzähler und als sein Alter-Ego Uragami berichtet Yasunari Kawabata von der Go-Partie, in der das alte Japan in Form des „unbesiegbaren“ Meijins auf das moderne Japan, verkörpert durch den jungen Otake (aka Minoru Kitani), trifft. Für den Meijin bedeutet dieses Match eine große Umstellung, da die jüngere Spielergeneration mit härteren Bandagen und gewissen Tricks kämpft. Die Vorrechte des Meijin als des älteren Spielers werden beschnitten; er wird einer „moderne[n] Gleichmacherei“ (S. 48) unterworfen und verliert die Privilegien des Älteren. Eine neue Ära des Go-Spiels hat begonnen:

„Man führte das Gefecht lediglich, um zu gewinnen, und es gab keinen Spielraum, um an die Würde und Anmut des Go als Kunst zu erinnern.“ (S. 46)

Otake weiß das moderne Regelwerk geschickt für sich zu nutzen und der Meijin kommt mehr und mehr in Bedrängnis. Doch auch an Otakes Nerven wird gezehrt: Der Meijin erkrankt wiederholt und die Spiel zieht sich schließlich monatelang hin. Das Ende der Partie nimmt Kawabata vorweg: Von den Strapazen des Matchs wird sich der Meijin nicht mehr erholen – er wird kurze Zeit später sterben. Und so stirbt die letzte Generation der Go-Spieler aus, die Go als „Zerstreuung der Unsterblichen“ mit Würde spielten. Doch Yasunari Kawabata beklagt nicht nur das Ende eines Zeitalters, sondern vermutet, dass das Go durch den Generationswechsel eine Belebung erfahren wird.

Da das Ende der Partie dem Leser bereits im ersten Kapitel vermittelt wird, gibt es kaum Spannung in „Meijin“. Zwar benötigt man nicht unbedingt Kenntnis über die Go-Regeln, doch sicherlich können Go-Spieler mehr mit den Beschreibungen der Partien anfangen. Für alle anderen ist die Darstellung der recht unterschiedlichen Charaktere, die jeweils für eine andere Generation stehen, weit interessanter.

Yasunari Kawabata selbst scheint dem Generationswechsel ambivalent gegenüber zu stehen. Uragami beklagt zwar den Verlust an Würde und Tradition, scheint aber einzusehen, dass die Zeit des Meijin unwiederbringlich dahin ist. Dem Westen dagegen attestiert er, dass er nicht für den verfeinerten Geist des japanischen Gos gemacht ist.

Bibliographische Angaben:
Kawabata, Yasunari: „Meijin“ (Übersetzung aus dem Englischen: Heisel, Felix), Brett und Stein Verlag, Frankfurt/Main 2015, ISBN 978-3-940563-22-4

Mittwoch, 14. Oktober 2015

„Der Dieb“ von Fuminori Nakamura

Besitzt jemand Macht über Dein Schicksal – oder war es Dein Schicksal, dass der andere über Dich bestimmt? Der Spielraum, inwieweit sich das eigene Schicksal selbst bestimmen lässt, ist eines der Hauptmotive, die in Fuminori Nakamuras „Der Dieb“ thematisiert werden.

Fuminori Nakamuras Taschendieb treibt in Tokio sein Unwesen. Doch seine Opfer sind meist wohlhabend wirkende Männer, die Glück im Unglück haben: Der Dieb nimmt nur das Bargeld und wirft die Geldbörsen in Briefkästen, damit die Portemonnaies ihren Weg zurück zu den legitimen Besitzern finden. Für die Robin Hood-Attitüde des Diebs spricht zudem, dass er sich eines kleinen Jungen annimmt, der von dessen Mutter auf Diebeszüge durch Supermärkte geschickt wird. Zwar nicht gerade freiwillig zeigt der Dieb dem Buben den einen oder anderen Trick, wie dessen Stehlstrategien zu optimieren sind.

Doch ansonsten ist der Dieb ein einsamer Zeitgenosse. Die einzigen beiden Bezugspersonen (seine Geliebte Saeko und sein Kompagnon Ishikawa) sind verschwunden. Doch der Dieb hat auch erkannt, dass er Bindungen an die Gesellschaft ablehnt: Steht er vor der Wahl von Status Quo oder Veränderung, so wählt er stets die Veränderung. Nur eine Konstante scheint es im Leben des Diebes zu geben: die Vision eines Turmes, der sich allmächtig und absolut in der Ferne abzeichnet.

Der Alltag des Diebes wird jäh durchbrochen, als ihn die Vergangenheit wieder einholt. Der Yakuza Kizaki hatte ihn einst wegen eines Einbruchs angeheuert, der dem Dieb fünf Millonen Yen und der Politik einen gehörigen Schock eingebracht hat. Kizaki zwingt den Dieb, erneut für ihn tätig zu werden. Dem Dieb bleibt keine andere Wahl in der Topdog-Underdog-Situation, als für Kizaki drei Männer zu beklauen.

Fuminori Nakamura schreibt mit „Der Dieb“ einen Roman Noir, der aber erst in der zweiten Hälfte mit dem Wiedersehen mit dem sadistischen und machtbesessenen Yakuza Kizaki Fahrt aufnimmt. Kizaki will absolute Macht über seine Mitmenschen und insbesondere den Dieb erringen. So wirkt er wie der Turm in der Ferne, den der Dieb in seinen Visionen sieht – Kizaki überblickt wie der Turm das gesamte Leben des Diebs und strahlt allmächtige Stärke aus.

Interessant an „Der Dieb“ ist, dass der Roman keinem Schema F folgt. Erst plätschert die Handlung dahin mit zugegebenermaßen auch einer spannenden, aber ansonsten eher ruhigen Rückblenden, da taucht in der zweiten Hälfte des Romans nochmals der große Unhold Kizaki auf und lässt den Dieb drei spannende Diebstähle begehen. Und erst das Ende…

Zudem verstört die Lektüre – jedoch auf eine nicht unangenehme Art. Da sind z.B. die düstere Stimmung, das Metaphorische des omnipotenten Turms und die (Macht-)philosophischen Ansichten des Yakuza Kizaki.

Mit guten 200 Seiten ist Fuminori Nakamuras „Der Dieb“ ein eher kurzes Leseabenteuer. Doch es scheint so, als sei der Diogenes Verlag bereits mitten in den Vorbereitungen für die Übersetzung von „Evil and the Mask“ – eine längere Exkursion ins Noir Genre à la Fuminori Nakamura kann also erwartet werden.

Bibliographische Angaben:
Nakamura, Fuminori: „Der Dieb“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Eggenberg, Thomas), Diogenes, Zürich 2015, ISBN 978-3-257-06945-7

Sonntag, 11. Oktober 2015

Fuminori Nakamura

Der Autor Fuminori Nakamura (übrigens ein Pseudonym) wurde 1977 in Tokai in der Präfektur Aichi geboren. Während seiner Zeit auf der Oberschule begeisterte er sich fürs Lesen und begann selbst mit dem Schreiben von Gedichten und Prosa.

Fuminori Nakamura studierte an der Fakultät für Soziologie an der Universität von Fukushima. Seine Abschlussarbeit aus dem Jahr 2000 widmete er der „Psychologie des Kriminellen“. Statt wie seine Kommilitonen eine gut bezahlte Akademikerlaufbahn einzuschlagen, begann Fuminori Nakamura mit dem Schreiben, während er sich mit diversen Jobs über Wasser hielt.

2002 gewann er mit seinem Debütroman „Der Revolver“ den Shincho-Literaturpreis für Nachwuchsautoren. 2004 folgte der Noma-Newcomer-Preis für „Abschirmung“. 2005 wurde „Kinder der Erde“ mit dem 133. Akutagawa-Preis ausgezeichnet. 2010 erhielt Fuminori Nakamura den Kenzaburo Oe-Preis für „Der Dieb“.

Fuminori Nakamuras Werke sind gesellschaftskritisch und lassen sich ins Noir-Genre einordnen. Der Autor nennt als literarische Vorbilder unter anderem die Autoren Dostojewski, Kafka, Camus, Kobo Abe, Kenzaburo Oe, Yukio Mishima und Osamu Dazai. Fuminori Nakamura lebt derzeit in Tokio.

Interessante Links:

Hier rezensiert:


Weitere ins Deutsche übersetzte Romane:

  • Die Flucht

Sonntag, 27. September 2015

„Das Königreich des Windes“ von Hiroyuki Itsuki

Der freie Journalist Taku ist ein passionierter Geher, sprich: Er geht nicht nur gern wandern, sondern benutzt grundsätzlich seine Beine gern zur Fortbewegung. Nicht, dass er deswegen die schnellen und luxuriösen Autos seines Bruder Shin’ichi verachten würde. Aber fasziniert ist Taku vor allem vom Gehen. Auf einer Wanderung, die er im Auftrag eines Verlags unternimmt, wird Taku Zeuge einer absonderlichen Prozession auf dem Berg Nijosan. Fast unsichtbar bewegen sich Pilger zwischen den beiden Gipfeln des Berges. Und eine Person scheint gar den Weg wie fliegend zu bewältigen. Obwohl Taku bei guter Konstitution ist, hat er keine Chance, mit dem rasanten Läufer Schritt zu halten.

Zurück in Tokio hört Taku das erste Mal vom Henro-Bund, dem überraschend viele seiner Bekannten angehören. So erfährt er auch, dass ihm seine Kollegen ein Treffen mit dem fliegenden Läufer verschaffen können, der sich zwischenzeitlich als die Tochter des Priors des Tenmu Jinshin-Ordens, der mit dem Henro-Bund eng verquickt ist, herausgestellt hat. Auf einer Gala für den Industriellen Ikarino überschlagen sich plötzlich die Ereignisse und nicht nur Taku wird von seiner Vergangenheit eingeholt.

Der überaus produktive Autor Hiroyuki Itsuki nahm sich zu Recherchezwecken viel Zeit, um mehr über japanische Nomadenvölker zu erfahren, die – ähnlich wie die Sinti und Roma in Europa – diskriminiert wurden. Ein weiteres interessantes Phänomen, das in „Das Königreich des Windes“ thematisiert wird, sind die Marathonmönche, die schier unglaubliche Strecken zurücklegen. Hiroyuki Itsuki kombiniert diese beiden Zutaten und schickt seinen Protagonisten Taku in ein Erweckungserlebnis.

Ein bisschen arg überzeichnet kommen einige der Charaktere in „Das Königreich des Windes“ zwar daher, aber dem Autor gelingt es sehr gut, den Leser in die Parallelgesellschaft des Henro-Bundes abtauchen zu lassen. Interessant ist auch das zeitliche Setting: Mitten  in der Bubble-Economy schreibt Hiroyuki Itsuki ein Buch, dessen Moral als Botschaft gegen Profitstreben und ökonomische Macht gelesen werden kann. Denn getreu dem Motto des Henro-Bundes

„keine Felder bestellen
nicht sesshaft werden
nirgendwo zugehörig sein
ein selbstloses Herz besitzen“ (S. 3)

sind dem Nomadenvolk andere Werte wichtig als der Yuppie-Gesellschaft der 80er Jahre.

Ein Augenmerk sei auch noch auf das Covermotiv gelenkt: Der Angkor-Verlag hat erneut eine Illustraion von Ray Rubeque gewählt, das hervorragend zur Beschreibung von Ai, der fliegenden Läuferin, passt.

Bibliographische Angaben:
Itsuki, Hiroyuki: „Das Königreich des Windes“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Kiefer-Ikeda, Isolde), Angkor Verlag, Frankfurt 2015, ISBN 978-3-936018-88-2

Samstag, 26. September 2015

Hiroyuki Itsuki

Auf der Website vom Ralphmag findet sich ein passendes Zitat zu Hiroyuki Itsuki – der Autor „is possibly […] a writing machine“.  Und in der Tat: Scrollt man sich durch die japanische Wikipedia-Seite des Autors, so glaubt man seinen Augen kaum: Da zählt man über 80 Romane, fast ebenso viele Essays, 35 Werke in Co-Autorenschaft und 60 Schlagertexte. Zudem scheint der umtriebige Autor dann auch noch z.B. „Die Möwe Jonathan“ ins Japanische übersetzt zu haben.

Geboren wurde Hiroyuki Itsuki im Jahr 1932 in der Präfektur Fukuoka. Kurz nach seiner Geburt ging die Familie nach Korea, wo sein Vater als Lehrer an einer japanischen Schule arbeitete. 1947 kehrte Hiroyuki Itsuki mit seinem Vater und seinen Geschwistern nach Japan zurück; die Mutter war in der frühen Nachkriegszeit in Korea verstorben. Zurück in Japan begann er sich für russische Autoren zu begeistern und selbst zu schreiben.

Hiroyuki Itsuki sichrieb sich 1952 für seinStudium der russischen Literatur an der Waseda-Universität ein, das er aufgrund fehlender finanzieller Mittel jedoch wieder abbrechen musste. Im Anschluss schlug er sich mit Jobs bei unterschiedlichen Verlagen, als Radiomitarbeiter und als Schlagertexter durch.

Nachdem Hiroyuki Itsuki durch Nordeuropa und die Sowjetunion gereist war, veröffentlichte er im Jahr 1966 seinen ersten Roman „Lebt wohl, Halbstarke von Moskau“. Sein zweiter Roman „Sieh das fahle Pferd“ wurde mit dem Naoki-Literaturpreis ausgezeichnet. Später erhielt er unter anderem den Eiji Yoshikawa-, den Kan Kikuchi- und den Mainichi-Preis.

Anfang der 80er legte er eine Schreibpause ein, um sich dem Studium des Buddhismus zu widmen. Insbesondere begeisterte er sich für Shinran, den Stifter der Schule des Jodo-Shinshu-Buddhismus. 2010 widmete Hiroyuki Itsuki Shinran einen gleichnamigen, biographischen Roman.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Samstag, 5. September 2015

Interview mit Jürgen Schütz vom Septime Verlag: "Die Japaner sind reich an neuen Ideen und kompromisslos"

Der im Jahr 2008 gegründete Septime Verlag veröffentlicht derzeit immer mehr Werke japanischer Autoren; zuletzt Ryu Murakamis „Coin Locker Babys“. Dieses Jahr wird der Verlag Shusaku Endos „Schweigen“ neu auflegen. Der Verlagsinhaber Jürgen Schütz gibt hier im Interview Einblick in vergangene und kommende Projekte. Soviel gleich vorab: Wir dürfen uns auf weitere (Neu-)Veröffentlichungen vom Septime Verlag freuen!

Charlotte Probst: Lieber Herr Schütz, an Ryu Murakami haben Sie anscheinend einen Narren gefressen, oder? Wie kommt’s?

Jürgen Schütz: Der Autor faszinierte mich schon bevor ich den Septime Verlag 2008 ins Leben rief. Werke gibt es genug von ihm und der Bedarf war da, so dachten wir, es wäre ganz clever mit dem bereits verfilmten Roman „Audition“ (deutscher Titel: „Das Casting“) zu starten. Während der Arbeit an der Publikation sicherten wir uns dann die Rechte an zwei weiteren Titeln Ryu Murakamis.

CP: Für die Übersetzung von Ryu Murakamis „Coin Locker Babys“ haben Sie Ursula Gräfe engagiert. Wieso fiel Ihre Wahl auf die Haruki Murakami-Übersetzerin?

JS: Das ist keine besondere Kunst, zudem hat Ursula Gräfe mehr übersetzt als Haruki Murakami (z.B. auch schon mal Ryu in der Vergangenheit). Leopold Federmair, der „Das Casting“ übersetzte, hatte zur damaligen Zeit keinen Termin frei für die Übersetzung und somit fiel die Wahl ohne lange nachdenken zu müssen auf Frau Gräfe. Sie stimmte sehr bald zu, worüber wir sehr froh sind. Die Zusammenarbeit mit ihr ist ausgesprochen gut.


CP: Im Herbst legt der Septime Verlag Shusaku Endos „Schweigen“ neu auf. Kannten Sie den Autor schon, bevor Martin Scorsese bekannt gab, den Roman zu verfilmen?

JS: Ja, ich kannte das Buch schon vorher. Als wir von der Verfilmung erfuhren, waren wir sofort hellhörig und begeistert und bemühten uns um die Rechte. War nicht einfach.

CP: Ruth Linhart hat ihre Erstübersetzung für die Neuauflage von „Schweigen“ nochmals überarbeitet. Wie unterscheidet sich denn die neue Übersetzung von der alten?


JS: Im Buch wird es zu dem Thema auch eine Anmerkung der Übersetzerin geben. Die Übersetzung wurde von Frau Linhart komplett überarbeitet. Mit den Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, ist die Übersetzung viel exakter am Original als in den 70er Jahren. Weiters ist der Text schnörkelloser und auch das entspricht mehr der Sprache Endos. Die portugiesischen Namen der Protagonisten werden nun in korrekter Schreibweise dargestellt. Ein von Shusaku Endo verfasster Anhang zum Roman fehlte in allen bisherigen Ausgaben und ist nun ebenfalls im Buch dabei. Wir nahmen dieses Buch nicht auf die leichte Schulter und machten es perfekt.

CP: Wie ist es Ihnen denn gelungen, dass Martin Scorsese höchstpersönlich ein Vorwort für „Schweigen“ verfasst hat?

JS: Das Nachwort hat Martin Scorsese bereits für die 2007 erschienene englische Ausgabe verfasst. Es ist ja schon lange sein Traumprojekt, „Schweigen“ zu verfilmen. Wie kümmerten uns nur noch darum, die Abdruckrechte zu erhalten.

CP: Werden Sie sich den Film im Kino ansehen? Sicherlich wird’s auf der Leinwand nicht zimperlich zugehen, wenn es zu Christenfolterungen kommt.

JS: Ich kann es gar nicht erwarten. Regisseur und Schauspieler versprechen einen guten Film. Die Romanvorlage verspricht zudem, dass über den Film noch sehr viel gesprochen werden wird.

CP: Gibt es denn schon neue Pläne, was die Übersetzung und Veröffentlichung weiterer japanischer Werke betrifft?

JS: Ja, die gibt es. Es erscheint ein dritter Roman von Ryu Murakami (englischer Titel: „From the Fatherland, with Love“) und zwei weitere Romane von Shusaku Endo („Skandal“ und „Samurai“) – weitere Projekte gibt es zwar, allerdings möchte ich nichts über Bücher sagen, deren Verträge noch nicht unterschrieben sind. Eventuell kommt auch eine Anthologie mit ganz interessanten japanischen AutorInnen.

CP: Ohne eine gesunde Portion Idealismus würden sicherlich keine japanischen Autoren in Kleinverlagen verlegt werden. Was begeistert Sie denn an der japanischen Literatur?

JS: Die Japaner sind reich an neuen Ideen und kompromisslos –  das ist mein Eindruck – egal ob in der Literatur oder im Film.

CP: Angenommen Geld und Zeit spielen keine Rolle: Welches Werk eines japanischen Autors würden Sie gerne übersetzen und verlegen? Warum?

JS: Wie gesagt, es gibt einige Pläne, aber die geben wir erst bekannt, wenn es soweit ist.

CP: Verraten Sie mir noch, was Ihr absolutes Lieblingsbuch ist?

JS: „Ich bin die Walker Brüder“ von Jan Kjaerstad. (Ich liebe alle Bücher des Norwegers.)

CP: Und welches ist Ihr liebstes Buch von einem japanischen Autor?


JS: Selbstverständlich „Schweigen“ von Shusaku Endo. – Oder „Immer das neueste Buch aus dem Septime Verlag ;-)“. Neben „Schweigen“ kann ich aber z.B. auch „Die Frau in den Dünen“ von Kobo Abe hervorheben.

CP: Vielen Dank für die vielen Antworten! Ich drücke fest die Daumen für weitere, erfolgreiche Veröffentlichungen von japanischen Autoren!

Montag, 31. August 2015

„Der Herr der kleinen Vögel“ von Yoko Ogawa

Stille – das ist ein Wort, das besonders oft in Yoko Ogawas „Der Herr der kleinen Vögel“ vorkommt. Der Mann, der der Herr der kleinen Vögel genannt wird, stirbt gleich zu Beginn des Buches. In einer Rückblende wird sein stilles, zurückgezogenes Leben aufgezeigt.

Der Herr der kleinen Vögel wächst mit einem älteren Bruder auf. Dieser ist von Vögeln fasziniert und liebt insbesondere die Voliere, die in einem Kindergarten steht. Eines Tages beginnt der ältere Bruder in seiner eigenen Sprache zu sprechen. Nur der Herr der kleinen Vögel kann diese Sprache verstehen und so zwischen dem Bruder und der Welt da draußen vermitteln. Nach dem Tod der Eltern kümmert sich der Herr der kleinen Vögel um seinen Bruder. Das Leben der beiden ist bescheiden und ganz von täglichen Ritualen beherrscht. Selbst kleine Reisen sind mit dem älteren Bruder nicht möglich. So begnügen sich die Geschwister damit, Ausflüge zu planen, die sie nie antreten werden.

Nach dem Tod des Bruders widmet sich der Herr der kleinen Vögel ganz der Pflege der Voliere. Diese Tätigkeit wird neben seiner Arbeit zu seinem Lebensinhalt. Ein erstes Mal in seinem Leben verliebt sich der Herr der kleinen Vögel sogar – doch leider unglücklich in eine sehr viel jüngere Bibliothekarin. Als ein kleines Mädchen missbraucht wird, gerät der Herr der Vögel unschuldig unter Verdacht. Und das japanische Wort „Kotori“, das bisher als „Herr der kleinen Vögel“ gelesen wurde, erhält mit „Kinderfänger“ eine neue Lesart.

Mit „Der Herr der kleinen Vögel“ behandelt Yoko Ogawa das Thema Autismus gepaart mit den lieblichen Stimmen von Vögeln. Bereits in „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ hatte sie Alzheimer auf die Schönheit der Mathematik treffen lassen. So setzt „Der Herr der kleinen Vögel“ auf ein schon bekanntes Rezept der Autorin.

Doch „Der Herr der kleinen Vögel“ zeigt auch auf, dass Menschen, die einmal einen Stempel aufgedrückt bekommen haben, ihn nicht mehr loswerden – und dadurch vielleicht den letzten Halt im Leben verlieren. Denn gerade Routinen geben Halt und auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Durch die Thematik wirkt der Roman schwerer und ernster als so manche andere Yoko Ogawa-Romane. Einen herausstechenden Höhepunkt sollte der Leser von „Der Herr der kleinen Vögel“ ebenfalls nicht erwarten. Der Roman ist eben ein besonders stiller…

Bibliographische Angaben:
Ogawa, Yoko: „Der Herr der kleinen Vögel“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), Liebeskind, München 2015, ISBN 978-3-95438-050-3

Sonntag, 30. August 2015

„Der Geist der Prosa“ von Kazuo Hirotsu

Asa-Bettina Wuthenow reichte 2006 ihre Dissertation zum Thema „Widerstand im Geist der ‚Prosa’ – Der Schriftsteller Hirotsu Kazuo zur Zeit des Fünfzehnjährigen Kriegs (1931-1945)“ ein. Seit letztem Jahr ist „Der Geist der Prosa“ mit acht Texten des Autors in deutscher Übersetzung durch Asa-Bettina Wuthenow auch für Nicht-Japanologen zugänglich. Die Faszination der Übersetzerin für den Autor resultiert aus dem geistigen Widerstand, den Kazuo Hirotsu dem Regime während der Kriegszeit erfolgreich entgegen setzte. Während andere Autoren auf den Propagandazug aufsprangen und wiederum andere lieber verstummten, gelang es Kazuo Hirotsu, seine kritischen Werke zu publizieren. Freilich musste er den einen oder anderen Kniff anwenden, damit seine Texte nicht an der Zensur scheiterten. Z.B. verwendete er Begriffe, die in der Propaganda alltäglich waren, setzte sie jedoch in einen völlig anderen Zusammenhang. Oder er schrieb über Menschen, die unbeirrt ihren Weg gehen, um aufzuzeigen, dass man seine eigenen Ideale nicht verraten sollte.

Die Texte umfassen Vorträge, Essays und Erzählungen. In dem Vortrag „Über den Geist der Prosa“ offenbart Kazuo Hirotsu seine Definition des Geistes der Prosa:

„Den Mut nicht zu verlieren, was auch immer geschehen mag, sondern beharrlich und unnachgiebig, ohne voreilig in Pessimismus oder Optimismus zu verfallen, konsequent sein Leben zu leben – das das ist für mich der Geist der Prosa.“ (S. 17)

Die Zähne zusammenbeißen, konsequent bleiben und den Mut nicht zu verlieren: Diese Eigenschaften haben die Charaktere der Erzählungen „Aus dem Leben einfacher Leute“ und „Jugendtage“ und der in einem Essay porträtierte Autor Shusei Tokuda.

„Aus dem Leben einfacher Leute“ geht es um Onui, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Land nach Tokio kommt. Ihren nichtsnutzigen Mann hat sie auf dem Land in Tadotsu zurück gelassen. Wider alle Erwartungen macht die unansehnliche Onui in Tokio ein kleines Vermögen, obwohl sie mit kaum Startkapital in die Hauptstadt kam. Denn dank ihrer Beharrlichkeit und ihres Durchhaltewillens meistert sie die Probleme, die sich ihr in den Weg stellen. Kimiko, Onuis Quasi-Schwiegertochter, ist eine weitere starke Frau, die sich nicht beirren lässt und so ebenfalls dem „Geist der Prosa“ entspricht.

„Jugendtage“ kommt vordergründig als Geschichte einer Jugendliebe daher: Der Ich-Erzähler Tsuneo Kojima trifft in einem Zug seinen ehemaligen Mitschüler und Nachbarn Sugino wieder. Tsuneo vernimmt entsetzt, dass Suginos liebreizende Schwester Chizuko kurz nach ihrer Hochzeit gestorben ist. Diese Nachricht lässt Kojima die vergangenen Jahre Revue passieren: Wie die Kojimas Nachbarn der Suginos wurden und Tsuneo Chizuko heranwachsen sah. Als Chizuko zur jungen Frau heranreift, regt sich in Tsuneo ein Gefühl, das über die Vertrautheit zu einer Nachbarstochter hinausgeht.

Zunächst erschien die Erzählung unter dem Titel „Reue“. Jahre nach der Erstveröffentlichung überarbeitete Kazuo Hirotsu die tragische Liebesgeschichte, indem er die Figur von Tsuneos Vater prominenter herausarbeitete. Vorbild für diese Figur war Kazuo Hirotsus Vater: Der Schriftsteller Ryuro Hirotsu war Anhänger der Literaturgruppierung Kenyusha gewesen. Nachdem der Naturalismus seinen Siegeszug in Japan antrat, war die Zeit der Kenyusha-Autoren vorbei. Doch statt aus ökonomischen Zwängen heraus seinen Stil zu ändern, blieb sich Ryuro Hirotsu treu. So auch die Figur des Vaters von Tsuneo: Bevor er einträgliche, aber abgedroschene Liebesgeschichten schreibt, schreibt er lieber gar nicht. Und so lebt er ganz im „Geist der Prosa“.

In seinem Essay über den Autor Shusei Tokuda beschreibt Kazuo Hirotsu die Eigenschaften seines Kollegen, die ebenfalls ganz dem „Geist der Prosa“ entsprechen: Shusei Tokuda ging beharrlich seinen schriftstellerischen Weg und wurde sicherlich oftmals verlacht. Doch dank seiner Konsequenz gelangen ihm bewundernswerte Werke.

Dank der vielen Anmerkungen durch die Übersetzerin wird dem Leser die Raffinesse von Kazuo Hirotsu erst klar. Denn so manche Anspielung, die vordergründig gar keine Kritik enthält, wird erst durch die Fußnote deutlich. Dadurch ziehen einen selbst die Essays in den Bann.

Wer nun noch mehr über Kazuo Hirotsu und die Texte in „Der Geist der Prosa“ erfahren will, der findet eine ausführliche Analyse in Asa-Bettina Wuthenows Dissertation, die hier abgerufen werden kann.

Bibliographische Angaben:
Hirotsu, Kazuo: „Der Geist der Prosa“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Wuthenow, Asa-Bettina), Iudicium, München 2014, ISBN 978-3-86205-288-2

Donnerstag, 20. August 2015

Kazuo Hirotsu

Kazuo Hirotsu (geboren 1891 in Tokio) war der zweite Sohn des Schriftstellers Ryuro Hirotsu, der der Literaturgruppe Kenyusha angehörte. Da die Kenyusha-Autoren von den Naturalisten verdrängt wurden, wurden die Einkünfte des Vaters immer geringer, bis die Familie unter sehr ärmlichen Bedingungen leben musste. Als Kazuo Hirotsu an der Waseda englische Literatur studierte, verdiente er sich mit Übersetzungen ein Zubrot.

1907 begeisterte sich Kazuo Hirotsu für Hakucho Masamunes Erzählung „Gespensterbild“ so sehr, dass in ihm der Wunsch reifte, selbst zu schreiben. Er publizierte daraufhin in verschiedenen Zeitungen Erzählungen, für die er auch Preise gewann.

Während seiner Studienjahre interessierte er sich für den Naturalismus und für die russischen Autoren Cechov und Arcybasev. Mit seinen Kommilitonen gründete er eine Literaturzeitschrift.

1913 schloss Kazuo Hirotsu sein Studium ab und arbeitete im Anschluss als freier Übersetzer und für eine Zeitung bzw. eine Zeitschrift. Im Jahr 1917 gelang ihm der literarische Durchbruch mit der Veröffentlichung der Erzählung „Das neurotische Zeitalter“. Bekannt war er jedoch vor allem als Literaturkritiker. Während des zweiten Weltkriegs stand Kazuo Hirotsu unter Beobachtung, da er sich Regime-kritisch äußerte.

In den 50er Jahren setzte er sich massiv für die zu Unrecht Verurteilten des Matsukawa-Zwischenfalls ein.

1968 starb Kazuo Hirotsu an Nierenversagen.

Interessante Links:


Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Mittwoch, 19. August 2015

„Blumen im Schnee“ von Akira Yoshimura

Ryosaku ist im 19. Jahrhundert Arzt in der Stadt Fukui, die jedes Jahr aufs Neue von einer verheerenden Pockenepidemie heimgesucht wird. Ryosaku leidet sehr unter seiner eigenen Hilflosigkeit – er ist Arzt und kann doch nicht das Geringste gegen die fatale Krankheit ausrichten. Die verängstigten Menschen greifen nach jedem Strohhalm, der sich ihnen bietet. Sie nehmen sogar getrocknete Kuhfladen zu sich, nachdem das Gerücht aufgekommen ist, dies würde gegen die Pocken helfen.

Ryosaku hat wie so gut wie alle japanischen Ärzte chinesische Medizin studiert. Japan hat sich gegenüber dem Westen abgeschottet und nur langsam tröpfeln die Erkenntnisse der westlichen Medizin ins Land. Die Grundhaltung der japanischen Ärzte ist jedoch skeptisch gegenüber den neuen ärztlichen Herangehensweisen – so auch Ryosaku. Doch als er zufällig den Arzt Ryogen kennenlernt, beginnt er sich für die sogenannte „Holland-Medizin“ zu interessieren und geht gar nach Kyoto, um bei dem Arzt Teisai die westliche Heilkunde zu erlernen.

Irgendwann kommt Ryosaku zu Ohren, dass außerhalb von Japan eine Impfmethode gegen die Pocken existiert, indem man die Impflinge mit den harmlosen Kuhpocken infiziert. Er ist außer sich vor Begeisterung und beschließt, von seinem aufgeschlossenen Fürsten die Bewilligung zum Import der Kuhpockenerreger zu erwirken. Doch ob die Petition überhaupt den Fürsten erreichen wird, wenn unverständige Bürokraten sie ihm vielleicht vorenthalten? Und mag die abergläubische Bevölkerung die westliche Methode überhaupt akzeptieren oder gar Reißaus nehmen, wenn der Arzt das Wort Pocken nur in den Mund nimmt?

Akira Yoshimura beschreibt mit „Blumen im Schnee“ die große Mühsal und das unermüdliche Engagement des Arztes Ryosaku Kasahara, seine Mitmenschen vor den Pocken zu schützen. Gegen alle Widrigkeiten – sei es die Bürokratie, das Winterwetter, persönliche Angriffe verbaler und physischer Natur – kämpfte er, um sein Ziel zu erreichen. Jedoch berührt der Kurzroman aus dem Genre der dokumentarischen Literatur leider nur wenig. Zwar wird ein wahrlich tapferer, leidensfähiger Mann beschrieben, doch die Handlung wird mit zu vielen Fakten angereichert, die zwar sicherlich historisch korrekt sind, aber auch hie und da langweilen. Vielleicht ist das aber auch die grundsätzliche Schwäche der dokumentarischen Literatur, die sich im Spannungsbereich Fakten und Fiktion (und damit Spannung und Emotion) bewegt und daher nicht beide Aspekte voll bedienen kann.

„Blumen im Schnee“ ist mit einem interessanten Nachwort von Gerhard Bierwirth versehen. Hier erfährt der Leser, falls es sich ihm nicht ohnehin erschlossen hat, dass der Titel des Werks nicht wörtlich zu verstehen ist. Die „Blumen“ zeigen sich in Form von Rötungen auf der (schnee)weißen Haut der Impflinge, wenn die Kuhpockenerreger angeschlagen haben. Darüber hinaus werden Akira Yoshimuras Intentionen verdeutlicht:

„Yoshimura [.] hat sich mit der vielleicht noch schwierigeren Aufgabe als Aufklärer begnügt. Als ein Aufklärer, der weder selbst agitiert noch unverbindlich informiert, sondern als ein Aufklärer, der mit der Überzeugungskraft der Fakten sowohl in Gestalt seiner historischen Romane bzw. Erzählungen als auch in seiner dokumentarischen Literatur gegen verkrustete Strukturen und Denkweisen die Vernunft und ein möglichst un-ideologisches Geschichtsbewusstsein mobilisieren wollte.“ (S. 119)

Bibliographische Angaben:
Yoshimura, Akira: „Blumen im Schnee“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierwirth, Gerhard & Moriwaki, Arno), Iudicium, München 2015, ISBN 978-3-86205-429-9

Sonntag, 16. August 2015

„Eigenwetter“ von Nanae Aoyama

Mit „Eigenwetter“ gewann Nanae Aoyama den 136. Akutagawa-Literaturpreis. Jury-Mitglied Ryu Murakami lobte insbesondere Nanae Aoyamas Talent für Dialoge. Und tatsächlich: Die Mischung aus Beschreibung und wörtlicher Rede erscheint genau richtig, wenn die Autorin die Ich-Erzählerin Chizu aus einem Jahr ihres Lebens berichten lässt. Chizu ist 20, als ihre Mutter arbeitsbedingt nach China gehen will. Die Mutter sorgt dafür, dass Chizu bei einer weitläufigen Verwandten, der 71-jährigen Ginko, in Tokio unterkommt. Chizu weiß nicht so recht wohin mit sich. Studieren mag sie nicht, irgendwas will sie arbeiten – aber Hauptsache, sie kann in Tokio wohnen. Chizu fühlt sich einsam, verlassen und irgendwie leer. Ihrer Mitbewohnerin Ginko begegnet sie mit Sarkasmus. Doch Ginko ist alt und weise genug, um sämtliche Sticheleien einfach an sich abprallen zu lassen.

Die Kapitel des Romans, dessen Erzählzeit ein gutes Jahr umfasst, sind in die vier Jahreszeiten eingeteilt. In „Frühling“ wird Chizus Leben auf den Kopf gestellt: Ihre Mutter lässt sie allein in Japan zurück, ihre neue Heimat wird Tokio. Ihre Beziehung zu ihrem Freund zerbricht. Im Sommer wartet eine neue Liebe auf Chizu. Der Herbstwind weht Chizu leider scharf ins Gesicht und erst im Winter, der eigentlich kalten Jahreszeit, wird es Chizu wieder etwas wärmer ums Herz.

Nanae Aoyama beschreibt mit „Eigenwetter“ die Generation der Freeter, die entweder keine Vollzeitstelle finden kann oder sich gar nicht erst auf eine traditionelle Bürokarriere einlassen will. Die Protagonistin Chizu selbst steht bald vor der beruflichen Entscheidung, weiterhin zu jobben oder eine Festanstellung anzunehmen. Vielleicht kann man die Botschaft von „Eigenwetter“ dann auch so deuten: In Zeiten, in denen der tradierte Familienzusammenhalt erodiert, bietet zumindest ein fester beruflicher Rahmen Sicherheit. Chizu hat manchmal regelrechte Panikzustände, was ihre Zukunft angeht:

„Ob die Panik dann verginge?
Es würde mir nie gelingen, so etwas wie ein ‚vernünftiges’ Leben zu führen, hatte ich das Gefühl.“ (S. 119)

Ein weiteres Motiv ist der Generationenkonflikt. Im Fall von Chizu und ihrer Mutter sieht der aber nicht so aus, wie man denken könnte:

„Schon in der Pubertät hatte ich die Jugendlichkeit und das Vertraulich-Tun meiner Mutter gehasst. Nicht das Nicht-Verstanden-Werden hatte mich gestört, sondern das Verstanden-Werden.“ (S. 77)

So stößt Chizu ihre Mutter immer wieder weg und fühlt sich gleichzeitig von ihr im Stich gelassen.

Bei „Eigenwetter“ habe ich ein kleines Nachwort vermisst. Insbesondere hätte mich interessiert, wie dieser doch recht eigenwillige Titel des Kurzromans auszulegen ist. Die jahreszeitlichen Bezüge der einzelnen Kapitel nehmen natürlich auch die jeweiligen Witterungsbedingungen auf und ohnehin stehen diese in einer ganz typischen japanischen Erzähltradition. Das Wetter beeinflusst Chizu natürlich auch in ihrer Lebens- und Denkweise. Daher spiegelt sie die reale Witterung mit einem eigenen (Seelen-)Wetter. Aber vielleicht ist diese Deutungsweise auch zu weit hergeholt?

„Eigenwetter“ wirkt wie das dunkle Spiegelbild eines Banana Yoshimoto-Romans. Die Zutaten wie z.B. das generationenübergreifende Zusammenleben, der Neubeginn, das Verlassenwerden, die Selbstfindungsversuche von jungen Erwachsenen sind sehr ähnlich. Doch Nanae Aoyamas Protagonistin Chizu ist sarkastisch, zynisch, verletzend und erlebt allzu viele Rückschläge. Damit ist „Eigenwetter“ ein ziemliches Kontrastprogramm zu den Banana Yoshimoto-Werken. Und trotzdem hat die Lektüre Spaß gemacht – vielleicht eben gerade, weil die süßliche Banana Yoshimoto-Komponente wegfällt.

Bibliographische Angaben:
Aoyama, Nanae: „Eigenwetter“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Busson, Katja), Cass, Löhne 2014, ISBN 978-3-944751-05-4

Samstag, 15. August 2015

Nanae Aoyama

Die Autorin Nanae Aoyama wurde 1983 in Kumagaya, in der Präfektur Saitama geboren. In ihrer Geburtsstadt ging sie zur Schule. Auf der Oberschule begeisterte Nanae Aoyama sich für „Bonjour Tristesse“ von Francoise Sagan. Ihr Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft nahm sie in Tsubaka, in der Präfektur Ibaraki auf. Noch als Studentin erhielt sie den Bungei-Literaturpreis für ihren ersten Kurzroman „Fensterlichter“. Ihr nächster Kurzroman „Eigenwetter“ wurde mit dem 136. Akutagawa-Preis ausgezeichnet. 2009 gewann sie den Kawabata-Preis für „Fragmente“.

Im Jahr 2010 hängte Nanae Aoyama ihren Job bei einem Reisebüro an den Nagel und wurde Vollzeitschriftstellerin. Ein Jahr später veröffentlichte sie mit „Mein Freund“ ihren ersten langen Roman.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen/Romane und hier rezensiert:

Mittwoch, 5. August 2015

„Ich der Kater“ von Soseki Natsume

„Für den Menschen ist nur eine einzige Definition denkbar: Menschen sind Wesen, die wahre Meister im Erfinden überflüssiger Dinge sind, unter denen sie dann leiden.“ (S. 472)

So lautet die Einsicht des namenlosen Katers in Soseki Natsumes „Ich der Kater“. In elf Kapiteln lässt der Autor den Kater über das Leben in dem Haushalt des Professor Schneutz, dem Alter-Egos Sosekis, berichten. Da bekommt Schneutz ebenso sein Fett weg wie seine Kinder, seine Ehefrau als auch seine kauzigen Kumpane und die geldigen Nachbarn.

Das Werk wirkt wie ein Experiment mit verschiedenen Stilen: Da bricht der Kater z.B. auf, um Beobachtungen im Badehaus anzustellen oder die verfeindeten Nachbarn auszuspähen. Dann wieder werden Dialoge, die auch schnell mal in ausschweifende Monologe übergehen, präsentiert. Dann wiederum gibt es Gedichte, Briefe, Zitate…

Doch immer bleibt der Kater den Menschen um mindestens eine Nasenlänge voraus. Denn er kennt durch sein umtriebiges Wesen weit mehr Hintergründe zu den Geschehnissen und reflektiert vom felinen Standpunkt aus die menschlichen Eigenschaften, die so manches Problem verursachen. So zieht der Kater beispielsweise Professor Schneutzens Gelehrsamkeit ins Lächerliche:

„Nun geben sich Menschen aber nicht damit zufrieden, etwas nicht zu verstehen, und deshalb exekutieren sie unverständliche Texte mittels einer Exegese, was ihnen erlaubt zumindest eine wissende Miene aufzusetzen. Schon immer bereitete es große Freude, unverständliche Dinge zu verehren und zu denken, man hätte sie verstanden.“ (S. 424 f.)

Ohnehin gelingt es Soseki, allerlei humorvolle Kommentare einzuflechten, sogar über den Autor selbst:

„Unlängst hat ein Freund von mir, ein gewisser Soseki, eine Kurzgeschichte mit dem Titel Ichiya geschrieben, der Text ist aber derart nebulös, dass niemand in ihm einen Zusammenhang erkennen kann, und als ich ihn jüngst traf, fragte ich ihn ausführlich nach dem eigentlichen Sinn der Kurzgeschichte, er wies mich jedoch kalt mit der Bemerkung ab, er selbst hätte auch nicht die leiseste Ahnung.“ (S. 290)

Doch damit nicht genug: Auch gesellschaftlich besonders gravierende Veränderungen wie die Modernisierung werden thematisiert:

„Die Zivilisation des Abendlandes mag von Tatendrang und Fortschrittlichkeit durchdrungen sein, letztlich aber bringt sie nur Menschen hervor, die ihrer Lebtag unzufrieden sind.“ (S. 399)

Insbesondere die schrulligen, überzeichneten Charaktere des „Clubs der Müßiggänger“, wie der Kater Schneutzens Kumpane, die in dessen Haus ein und aus gehen, bezeichnet, sorgen beim Lesen für einiges Amüsement. Gerade Wirrhaus, der für seine hanebüchenen Lügengeschichten bekannt ist, sorgt für Trubel.

Dank des Nachworts von Otto Putz werden einige Wortspiele, die in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben werden können, illustriert. So werden die beiden ersten Sätze des Werks „Wagahei wa neko de aru. Namae wa mada nai.“ mit „Gestatten, ich bin ein Kater! Unbenamst bislang.“ übersetzt. Doch für das pompöse Personalpronomen wagahei, das bei Adeligen in Gebrauch war, findet im Deutschen kein Äquivalent – und es passt auch so gar nicht zu einem tapsigen Kater, der es noch nicht einmal zu einem Namen gebracht hat.

Über 600 Seiten zählt Soseki Natsumes „Ich der Kater“. Ich kann nur empfehlen, die Kapitel nicht allzu sehr zu verschlingen. In Einzeldosen lässt sich der Humor sicherlich besser genießen, insbesondere da keine stringent komponierte Handlung vorhanden ist und die Einzelkapitel gut für sich alleine stehen können.

Bibliographische Angaben:
Natsume, Soeseki: „Ich der Kater“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Putz, Otto), Insel, Frankfurt am Main & Leipzig 2001, ISBN 3-458-34467-5

Dienstag, 4. August 2015

„Coin Locker Babys“ von Ryu Murakami

Hashis und Kikus Start ins Leben ist mehr als hart – ein Wunder, dass die beiden Protagonisten aus Ryu Murakamis „Coin Locker Babys“ überhaupt überleben. Denn ihre Mütter deponieren sie jeweils mehr tot als lebendig in Schließfächern, um den missliebigen Nachwuchs loszuwerden. Unglaubliches Glück und Überlebenswille bescheren Hashi und Kiku eine zweite Geburt – statt aus einer Gebärmutter aus einem brütendheißen Schließfach.

Im katholischen Kinderheim treffen Hashi und Kiku aufeinander und werden beste Freunde, später sogar Brüder als sie von derselben Familie adoptiert werden. Doch an Normalität ist bei dem Geburtstrauma nicht zu denken. Die Mutter ein Schließfach, der Papa der Herr im Himmel – noch während ihrer Zeit im Waisenhaus werden Hashi und Kiku durch Hypnose therapiert. Als sie schließlich adoptiert werden und auf eine abgelegene Insel ziehen, scheint ein idyllisches Familienleben zum Greifen nach – wenn da nicht eine erneute Hypnose alte Wunden aufreißen würde…

Allzu viel mehr sollte man glatt nicht von der Handlung von Ryu Murakamis „Coin Locker Babys“ verraten. Das Werk, das vielleicht ganz gut als Coming-of-Age-Endzeitroman beschrieben werden könnte, zeichnet sich durch mehrere Höhepunkte aus. Gerade als man denkt, jetzt sollte sich die Geschichte dem Ende nähern, holt Ryu Murakami neu aus, bringt neue Charaktere, neue Ziele und neue Probleme ins Spiel. Das ist zwar ein bisschen irritierend, tut dem Lesevergnügen allerdings keinen Abbruch, wenn man sich darauf einlässt, sich wieder in komplett neues Setting einzufühlen. Recht atmosphärisch lassen sich die Beschreibungen der Szenerien an ohne dabei zu langweilen.

Der Klappentext zu „Coin Locker Babys“ führt allerdings ein bisschen in die Irre: Hashi und Kiku verlassen zwar tatsächlich die heimatliche Insel und streben nach Tokio. Doch keineswegs deshalb, weil sie ihre Mütter aufspüren und töten möchten. Der sanfte, verletzliche Hashi möchte die Welt der Töne erforschen und Sänger werden. Daher geht er in die Hauptstadt, um hier die erstrebte Karriere einzuschlagen. Der maskuline Kiku kommt ihn schließlich suchen. Im Giftghetto, wo sich Verbrecher, Taugenichtse und Wahnsinnige versammeln, treffen die beiden wieder aufeinander, um aber schließlich auf die je eigene Weise ihre Bestimmung zu finden.

Einzig und allein: Ich bin mit dem recht spröden Charakter des Kiku nicht so recht warm geworden. Mag er noch so sehr aussehen, wie ein junger Gott, wenn er weißgekleidet und braungebrannt auf einem Motorrad dahindüst. Hashi dagegen wirkt selbst im Wahn noch irgendwie liebenswert.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Ryu: „Coin Locker Babys“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Septime, Wien 2015, ISBN 978-3-902711-35-9

Freitag, 5. Juni 2015

„Böse Absichten“ von Keigo Higashino

Naja… so richtig vom Hocker gerissen hat mich Keigo Higashinos „Böse Absichten“ nicht. Der Krimiautor versteht es sicherlich, verzwickte Fälle spannend aufzuziehen. Doch im Fall von „Böse Absichten“ scheint er ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Da werden unzählbare Indizien, Beweise und Motive analysiert und dann scheint doch wieder alles völlig anders zu sein. Und zwar so konstruiert anders, dass man dem ganzen Fall nur erhebliche Realitätsferne und dem Motiv des Täters das Niveau eines Kindes unterstellen kann.

Aber worum geht es? Kurz vor seiner Abreise nach Kanada wird der erfolgreiche Autor Hidaka tot in seinem Haus aufgefunden. Alles scheint auf einen Mord im Affekt hinzudeutetn – Hidaka wurde mit dem Briefbeschwerer bewusstlos geschlagen und dann mit dem Telefonkabel erwürgt. Doch alle Verdächtigen haben perfekte Alibis. Da wäre Miyako Fujio, die im Streit mit Hidaka über die Handlung eines seiner Werke lag. Da wäre Hidakas frisch vermählte Ehefrau, die den Toten zusammen mit Nonoguchi, der mit Hidaka seit der Schulzeit befreundet war, aufgefunden hat. Nonoguchi wiederum kann ebenfalls beweisen, dass er zur Tatzeit nicht vor Ort war.

Oder ist Hidaka vielleicht doch schon früher verstorben? Um alle Hintergründe aufzudecken, werden auch Hidakas erste Ehe, der tragische Tod seiner ersten Ehefrau als auch Hidakas Kindheit durchleuchtet.

Aus den Aufzeichnungen von Nonoguchi und des ermittelnden Kommissars Kaga entspinnt sich ein Mordfall, dessen Motive in den Abgründen der menschlichen Seele nisten. Doch um diese Abgründe für den Leser nachvollziehbar zu machen, hätte der Autor gut daran getan, die Charaktere ausführlicher darzustellen. Ich will Keigo Higashinos „Böse Absichten“ gar nicht absprechen, dass der Roman spannend und sehr eingängig geschrieben ist. Doch hinter „Verdächtige Geliebte“ und „Heilige Mörderin“ bleibt der Krimi für mich weit zurück.

Gefallen hat mir aber das Cover-Design umso mehr: unverkennbar ein Kirschblütenzweig. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die rote Farbe nicht nur von den Blüten herrührt – es sind Blutstropfen auf den Kirschblütenzweig gefallen. Ein sehr gelungenes Cover für einen Japan-Krimi!

Bibliographische Angaben:
Higashino, Keigo: „Böse Absichten“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Klett-Cota, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-608-98027-1

Donnerstag, 4. Juni 2015

„Wenn der Wind singt & Pinball 1973“ von Haruki Murakami

Endlich sind sie ins Deutsche übersetzt – die ersten beiden Kurzromane von Haruki Murakami. In „Wenn der Wind singt“ und „Pinball 1973“ wird die Vorgeschichte des Ich-Erzählers und seines Kumpans Ratte erzählt, die Haruki Murakami-Leser bereits aus „Wilde Schafsjagd“ und „Tanz mitdem Schafsmann“ kennen.

In dem Vorwort gibt der Autor höchstpersönlich einen interessanten Einblick in die Entstehungsgeschichte der Kurzromane und er weiß von einer Art Erweckungserlebnis zu berichten: Keinesfalls war es der langgehegte Plan Haruki Murakamis, Autor zu werden. Zunächst betrieb er in den 70er Jahren recht erfolgreich zwei Jazz-Kneipen. Mitten während eines Baseballspiels im Jingu-Stadion jedoch kam ihm eine Erleuchtung – warum nicht einen Roman schreiben? Doch sicherlich ist aller Anfang schwer: Die erste Version seines ersten Romans enttäuschte ihn. Mittels einer Krücke fand Haruki Murakami zu seinem Stil: Zunächst verfasste er den Text in einfachem Englisch – komplett ohne die stilistischen Verkünstelungen, zu denen man in der Muttersprache sicherlich neigt. In der Rückübersetzung ins Japanische entstand ein einfacher, aber umso prägnanterer Text. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum der Haruki Murakami-Stil als sehr untypisch für japanische Autoren gilt.

Haruki Murakami nennt die beiden Erstlinge „Wenn der Wind singt“ und „Pinball 1973“ seine Küchentischromane, da sie in seiner spärlichen Freizeit am Küchentisch entstanden. Wäre „Wenn der Wind singt“ nicht für einen Nachwuchspreis nominiert worden – vielleicht hätte Haruki Murakami, wie er selbst angibt, keine weiteren Romane geschrieben. So kann man der Zeitschrift Gunzo nur in Dankbarkeit verbunden sein, dass damals Haruki Murakami mit dem Preis ausgezeichnet wurde. Sonst wären die vielen großartigen Werke des Autors eventuell nie entstanden.

Interessant an den beiden Erstlingen ist, dass sie sich bereits wie typsische Haruki Murakami-Werke lesen und viele typische Elemente enthalten. So bezieht sich der namenlose Ich-Erzähler gern auf einen Autor (in „Wenn der Wind singt“ ist es Derek Hartfield), er hat komplizierte Frauengeschichten am Hals, das Gefühl, ein niemand zu sein, ist sowohl bei ihm als auch seinem Freund Ratte kennzeichnend, Dreh- und Angelpunkt ist eine Bar, hinzu kommen Schächte, Brunnen, Grenzgänge, Ein- und Ausgänge…

Über „Wenn der Wind singt“ sagt der Ich-Erzähler


„Meine Geschichte beginnt am 08. August1970 und endet achtzehn Tage später, am 26. August desselben Jahrs.“ (S. 28)


Doch in zahlreichen Rückblenden wird der Bericht über einige Tage während der Sommerferien des studentischen Ich-Erzählers, der aus Tokio zurück in seine Heimatstadt am Meer gekommen ist, angereichert: Wie er Ratte kennengelernt hat, welche Frauengeschichten er in der Vergangenheit erlebt hat und wie seine Kindheit aussah. Und natürlich wird über den Sinn des Lebens und die Gesellschaft palavert.

In „Pinball 1973“ wird’s bereits etwas phantastischer: So findet sich der Ich-Erzähler – nun bereits Gründer eines Übersetzungsbüros nach abgeschlossenem Studium – unvermittelt in der Gesellschaft eines weiblichen Zwillingspärchens, das sich bei ihm einquartiert hat, wieder. Einziges Unterscheidungsmerkmal der beiden Damen scheint ein unterschiedlich nummeriertes Sweatshirt zu sein. So nennt er sie getreu den Nummern 208 und 209.

Währenddessen macht Ratte in der alten Heimat eine schwere Zeit durch:


„Für Ratte schien der Fluss der Zeit an irgendeiner Stelle durchtrennt worden zu sein. Warum das geschehen war, wusste er nicht. Er konnte nicht einmal die Schnittstelle finden.“ (S. 157)


Insbesondere seit er sein Studium geschmissen hat, liegt seine Gefühlswelt im Argen. Auch eine Frauengeschichte macht ihm zu schaffen.

Der Ich-Erzähler wiederum bekommt wie aus dem Nichts einen Anstoß: Als er in Begleitung der Zwillinge auf einem nahegelegenen Golfplatz herumstromert, kommt ihm seine Leidenschaft fürs Flippern wieder in den Sinn. Doch nicht irgendein Flipper hat ihm angetan: Sowohl in seiner alten Heimatstadt (genauer: in Jays Bar) hat er auf dem Modell Spaceship zusammen mit seinem Freund Ratte Stunden um Stunden geflippert – und auf demselben Modell in einer Spielhölle in Tokio ebenfalls ausgiebig dem Flippern gefrönt. Seine Suche nach dem Modell Spaceship beginnt, denn dummerweise hat Jay seinen Flipper ausgemustert und die Spielhölle wurde geschlossen.

Dabei sieht der Ich-Erzäler das Flippern jedoch durchaus nicht in einem positiven Licht:


„Zwischen Hitlers Vormarsch und dem des Flipperautomaten gibt es Parallelen. Beide stiegen durch gewisse Umwälzungen wie Schaum aus dem Bodensatz ihrer Epoche an die Oberfläche und verdankten ihre mythische Aura eher der Geschwindigkeit ihres Aufstiegs als besonderen Fähigkeiten. Drei Faktoren beschleunigten diese Entwicklung: Technologie, Kapital und, nicht zu vergessen, die primitivsten Instinkte des Menschen.“ (S. 147)


So ist der Flipper vielleicht auch als Sinnbild der Desillusionierung der revoltierenden Studenten der ausgehenden 60er Jahre/beginnenden 70er Jahre zu verstehen? Oder auch als eine Analogie zum Wind in „Wenn der Wind singt“: Genauso wenig wie der Mensch weiß, in welche Richtung ihn der Wind des Schicksals weht, genauso wenig weiß es die Kugel, die über das Spielfeld des Flippers rollt.

Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Wenn der Wind singt & Pinball 1973“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2015, ISBN 978-3-8321-9782-7

Montag, 6. April 2015

„Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“ von Junichiro Tanizaki

Sexuelle Obsessionen sind ein typisches Junichiro Tanizaki-Thema – so auch in „Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“: Der 12-jährige Hoshimaru, der später als Daimyo Terukatsu bekannt werden soll, erhält während der Belagerung der Burg von Ojikayama eine besonders pikante sexuelle Prägung. Hoshimaru weilt als Geisel auf der Burg des Tsukuma-Clans, als der Feldherr Danjo die Festung angreift. Die Feinde setzen den Tsukumas arg zu; es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Burg fällt. Hoshimarus Aufpasser muss in den Kriegswirren seine erzieherischen Aufgaben schleifen lassen. Und so entfleucht Hoshimaru des Nächtens ins Zeughaus, wo einige adlige Damen einer sonderbaren Tätigkeit nachgehen: Sie säubern und frisieren die abgeschlagenen Köpfe von feindlichen Soldaten, die am nächsten Tag inspiziert werden sollen.

Für Hoshimaru wird dies zu einem sexuellen Erweckungserlebnis: Er beobachtet ein junges Mädchen dabei, wie sie mit sadistischem Lächeln die Schädel frisiert. Insbesondere als sie einen Kopf ohne Nase herrichtet, ist Hoshimaru dem Blick des Mädchens und dem Kopf-Fetisch verfallen. Als Krönung seiner sexuellen Wünsche imaginiert er, wie sein eigener abgeschlagener Kopf von ihr bearbeitet wird.

Mehrere Nächte beobachtet er die Damen beim Umgang mit den Köpfen. Doch ein Kopf ohne Nase soll nicht mehr dabei sein. Hoshimaru verfällt daher auf einen tollkühnen Plan: Er will selbst dafür Sorge tragen, dass ein nasenloser Kopf als Kriegstrophäe den Frauen vorgelegt wird.

So schleicht er sich eines Nachts aus der Burg von Ojikayama direkt ins lax bewachte Feindeslager, wo man dem Sieg schon sicher ist. Wie es der Teufel will, liegt ausgerechnet der Oberbefehlshaber Danjo friedlich schlummernd als ein perfektes Opfer in seinem Zelt. Zudem hat der Adelige, der auf Hoshimaru eher wie ein Schwächling als ein wagemutiger Feldherr wirkt, eine besonders elegante Nase im Gesicht stehen. Hoshimaru wird ihm nicht nur das Leben, sondern auch die Nase nehmen.

Im Zuge der Verwirrungen, die der plötzliche Tod des Oberbefehlshabers auslöst, werden die Angriffe auf die Burg von Ojikayama abgebrochen. Nur Hoshimaru kann auf Seiten der Belagerten erahnen, weswegen die Truppen abziehen. Doch soll Jahre später die Verheiratung des neuen Burgherren von Ojikayama mit Danjos Tochter Kikyo Ereignisse heraufbeschwören, die wiederum mit verlorenen Nasen und Kawachinosukes (wie Hoshimaru nach der Mannbarkeits-Zeremonie heißt) Kopffetisch zu tun haben.

Junichiro Tanizaki gibt seinem Kurzroman „Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“ durch fiktive Quellenangaben einen pseudo-realen Anstrich. Durch den ironischen Ton wird den durchaus blutigen Handlungen der Ernst genommen. Trotzdem ist das Werk nichts für allzu schwache Nerven. Denn „Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“ ist der Tanizaki-Roman mit der Schilderung der sicherlich abnormsten sexuellen Neigung. Durch die Ansiedlung im Samurai-Milieu enthält er aber auch Spannungselemente, die anderen Tanizaki-Werken fehlen.

Bibliographische Angaben:
Tanizaki, Junichiro: „Die geheime Geschichte des Fürsten von Musashi“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bohaczek, Josef), Insel, Frankfurt/Leipzig 1994, ISBN 3-458-16646-7

Montag, 30. März 2015

„Das Band der Kamelie“ von Tadashi Karato

Wie gelangte eine japanische Kamelie Ende des 18. Jahrhunderts in die Gärten des Pillnitzer Schlosses? Dieser Frage geht Tadashi Karato mit seiner Novelle „Das Band der Kamelie“ nach, die auf wahren Begebenheiten beruht.

Der Leser begleitet den schwedischen Arzt und Botaniker Carl Peter Thunberg auf dem großen Abenteuer seines Lebens: Er wird von seinem Mentor Carl von Linné in die große Welt entsandt, um auf Expeditionen botanisches Material zu sammeln und zu erkunden. Zunächst soll seine Reise jedoch nur über Amsterdam nach Paris gehen. Doch schon bald wird klar: Thunberg wird nach Südafrika gehen und über Batavia nach Japan reisen. Seine Angebetete Birgitta ist über diese Wendung weniger glücklich.

In Japan verbringt Thunberg langweilige Tage auf der isolierten Insel Dejima. Der befreundete Professor Burman hat Thunberg einen Brief mitgegeben, der erst in Japan geöffnet werden soll. Zu Thunbergs Überraschung enthält das Schreiben die große Bitte Burmans, für vier europäische Adelshäuser Kamelien nach Europa schicken zu lassen. Insbesondere für die Bemalung von Porzellan ist die originale Pflanze als Motivvorlage sehr wertvoll. Als sich Thunberg in einer Baumschule nach geeigneten Kamelien umsieht, begegnet ihm die Gärtnertochter Hana, die für ihn die Schönheit der Kamelienblüte verkörpert.

An sich sind die Zutaten von Tadashi Karatos „Das Band der Kamelie“ sehr vielversprechend. Doch leider scheint es, als ob der Autor eher Geschichte festschreiben will, als Geschichten zu erzählen. Und so verliert er sich in diversen historischen Details wie z.B. den ersten erfolgreichen Versuchen der Porzellanherstellung in Europa und der Belagerung Wiens durch die Türken, als dass er Charaktere mit Emotionen zeichnet. So bleibt dem Leser der Protagonist Thunberg fremd. Seine innere Zerrissenheit zwischen Birgitta und Hana wird beispielsweise glatt gar nicht angesprochen. Auf Hana wird ohnehin so gut wie gar nicht eingegangen. Und dabei muss sie mit dem großen Stigma gelebt haben, sich mit einem Gaijin eingelassen zu haben. Die Handlung wird primär faktengetrieben vorangebracht und so kann die Novelle kaum mitreißen.

Auch hätte der Königshausen & Neumann-Verlag sicherlich auch ein Gutes daran getan, die Übersetzung intensiv zu lektorieren. Von fehlenden Anführungszeichen ganz zu Schweigen, erfolgen unverständliche Tempussprünge und manche Sätze wirken wie eine erste Grobübersetzung. Warum schreibt man z.B.

„Ich fand bewundernd, welche Güte sie ausstrahlte“ (S. 21)

statt „Ich bewunderte die Güte, die sie ausstrahlte“. Oder in einem anderen Fall steht dies geschrieben:

„Seine Rede war lang, aber Thunberg konnte raison d’être (die wichtige Funktion und Rolle des Gouvernements) von Kapstadt gut verstehen.“ (S. 82)

Wenn man seinen Lesern nicht zutraut, den Begriff „raison d’être“ zu verstehen – warum verwendet man ihn denn dann und setzt eine Erläuterung in Klammern dazu? Weil ein französischer Begriff gar so schick ist?

Nach der Lektüre kann man auch über den Klappentext, der da heißt

„Thunberg jedoch hatte einen geheimen Auftrag von Johannes Burman, seinem Professor aus Amsterdam zu erfüllen: nämlich vier Kamelien nach Europa zu bringen. Besonders der japanische Großmeister im Dolmetschen, Kosaku Yoshio, half ihm, diese Mission zu erfüllen.“

nur schmunzeln. Denn was tut Thunberg? [Achtung: Spoilergefahr – zumindest für die Leser, die sich nun noch ein kleines bisschen Spannung von „Das Band der Kamelie“ erwarten.] Er geht halt mal eben in eine Baumschule und kauft vier Kamelien. Punkt.

Vielleicht ist „Das Band der Kamelie“ für das japanische Publikum interessanter, weil durch die zahlreichen Exkurse viele Daten aus der europäischen Geschichte mit eingeflochten werden. Mich hat das Werk aber leider kaum begeistert.

Wer aber nun Lust hat, einen Blick auf Thunbergs Kamelie zu werfen, die nach über zwei Jahrhunderten immer noch im Pillnitzer Schlossgarten steht, der möge diesem Link folgen.

Bibliographische Angaben:
Karato, Tadashi: „Das Band der Kamelie“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Broswitz, Ellen), Königshausen & Neumann, Würzburg 2015, ISBN 978-3-8260-5695-6

Sonntag, 29. März 2015

Tadashi Karato

Eine kleine Vorbemerkung: Da ich mir einige Daten zu Tadashi Karato mit Google Translate aus dem Japanischen übersetzen habe lassen, muss ich mir zur Biographie des Autors Irrtümer leider vorbehalten.

Tadashi Karato wurde 1949 in Tokio geboren. Durch ein Sankei-Stipendium kam er im Jahr 1971 nach Deutschland. Nach einem Deutsch-Kurs am Goethe-Institut in Schwäbisch Hall ging er nach Stuttgart, um dort Architektur zu studieren. Tadashi Karato führte sein Studium schließlich an der Waseda-Universität fort.

Er arbeitete 35 Jahre bis zu seiner Pensionierung in dem japanischen Baukonzern Shimizu und wurde aus beruflichen Gründen oftmals auf Baustellen ins (europäische) Ausland geschickt.

1977 heiratete Tadashi Karato die Schrobenhauserin Susanne Kirchner, mit der er drei Kinder hat und in Tokio lebt. Zusammen führt das Ehepaar das Café Kranz in Tokio.

Tadashi Karato hat in Japan drei Bücher veröffentlicht und „Tsushima“ von Frank Thiess ins Japanische übersetzt.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Novellen und hier rezensiert:

Samstag, 28. März 2015

„Kagero Nikki – Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980“ von Michitsuna no Haha Fujiwara

Michitsuna no Haha Fujiwara (aka Kagero) gibt mit dem „Kagero Niki“ einen Einblick in ihr Leben als Nebenfrau des Politikers Kaneie Fujiwara, das primär von Warten geprägt ist. Sie ist permanent in Angst, von ihrem Mann fallen gelassen zu werden. Dieser provoziert sie, belügt sie, versetzt sie und verletzt sie. Als Leser kommt man nicht umhin, gedanklich aus Kaneie eine Kanaille zu machen. Da die Tage der Edelfrau recht eintönig verlaufen, spiegelt sich die Langeweile auch im Text wieder.

Die ersten beiden Teile ihrer Aufzeichnungen erfolgen in einer Rückschau; der dritte Teil erscheint mehr wie ein Tagebuch. Sie beginnen im Jahr 954, als Kaneie mit Gedichten um Kagero wirbt. Doch kaum wird Kaneie von seiner Angebeteten erhört, scheint sein Interesse an ihr bereits wieder zu schwinden. Er hält sich primär bei einer anderen Nebenfrau auf, die er aber auch alsbald wieder fallen lässt. So konkurriert Kagero nicht nur mit Tokohime, Kaneies Hauptfrau, sondern mit diversen weiteren Nebenfrauen. Sie wartet stets darauf, dass er sie doch bitte besuchen komme, doch meist hält er sie mit allerlei Ausreden hin. So verhungert sie an seinem ausgestreckten Arm. Vor Verzweiflung spielt sie mit dem Gedanken, buddhistische Nonne zu werden und sich vom Diesseits abzuwenden. Doch schließlich ändert sie ihre Prioritäten: Sie widmet sich mehr ihrem leiblichen Sohn und ihrer adoptierten Tochter. Als sie in ein anderes Haus zieht, ohne Kaneie Bescheid zu sagen, kommt es schlussendlich zum Bruch zwischen dem Ehepaar. Die Aufzeichnungen enden schließlich im Jahr 974.

Da Kagero die Beschreibung ihres Alltags aus dem Selbstverständnis der Zeit heraus vornimmt, wird nicht detailliert auf die Bräuche und Gepflogenheiten eingegangen. Diese sind ja für ihre Zeitgenossen selbstverständlich. Der heutige Leser ist auf die Anmerkungen und das Nachwort angewiesen. Erstaunlich war für mich, wie intensiv der Alltag durch Weissagungen geprägt war. Dann und dann hat man enthaltsam zu leben, dann und dann hat man diese oder jene Himmelsrichtung zu meiden. Für einen Mann wie Kaneie, der mit mehreren Frauen jonglieren muss, sind das freilich hervorragende Ausreden, um sich nicht blicken lassen zu müssen.

Gleich zu Beginn legt Kagero ihre Motivationen für ihre Aufzeichnungen dar: Sie ist eine Frau, die in den Tag hinein lebt. Sie liest

„in alten Geschichten, wie sie unter den Leuten verbreitet waren, Geschichten von hergebrachten Lügen, die man gewissenlos so hingeschrieben hatte.“ (S. 7)

Ihr Anspruch ist es, ein realistisches Bild des Lebens als Nebenfrau eines treulosen Adligen zu zeichnen. So kritisiert sie die sozialen Umstände – und das „Kagero Nikki“ mag so als erstes emanzipatorisches Werk Japans gelten.

Aus dem Nachwort erfährt man, dass Kageros Originaltagebuch wohl während den Großen Wirren verloren gegangen ist. Doch da mehrere Abschriften existierten, konnte es im 17. Jahrhundert rekonstruiert werden.

Da Kagero zunächst vor allem für ihre Gedichte Berühmtheit erlangt hatte, soll hier zumindest eines, das sie an Kaneie sandte, zitiert werden:

„Du wolltest lösen
in nichts wie Morgentau dich?
Leichtsinnige ich,
der wandelbarsten Seele,
der flüchtigsten zu vertraun!“
(S. 12)

Hätte sie zu Beginn ihrer Affäre mit Kaneie doch nur auf ihr Gefühl gehört…

Bibliographische Angaben:
Fujiwara, Mitchitsuna no Haha: „Kagero Nikki – Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980“ (Übersetzung aus dem Altjapanischen: Tsukakoshi, Satoshi), Ullstein, Frankfurt/Berlin/Wien 1981, ISBN 3-548-30115-0