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Donnerstag, 29. September 2011

„Vor meinen Augen… eine Wildnis…“ von Shuji Terayama

Tokio in den 60er Jahren: Kenji Niki, genannt Schere, und Shinji Shinjuku heuern im Boxclub des Einäugigen an. Die Motivationen dafür könnten nicht unterschiedlicher sein: Schere ist verzweifelt auf der Suche nach Heilung seines Sprachfehlers. Er stottert, schämt sich und kann so keine Beziehung zu den Menschen aufbauen. Dummerweise bekommt er auch noch ein Buch in die Hände, das die Behauptung aufstellt, dass 99% aller Menschen stottern – warum muss sich das restliche eine Prozent denn unbedingt um Schere tummeln?!? Der großspurige Shinji will ein Held und Siegertyp sei und fährt mit seiner Boxerkarriere im Gegensatz zu Schere recht gut.

Währenddessen ist Scheres einsamer Vater verzweifelt auf der Suche nach Gesprächspartnern. Dadurch wird das Selbstmord-Forschungsteam der Waseda-Universität auf ihn aufmerksam. Das Team findet einfach keinen Selbstmörder, der als Proband für die neu konstruierte Selbstmordmaschine herhalten kann. Wenn Scheres Vater nicht Selbstmord begehen will, so will das Forschungsteam ihn dazu bringen.

Und dann gibt es noch den impotenten Taichi Miyaki, der bei lebenden Frauen versagt und nur im Kino in Gegenwart von fiktiven Leinwandcharakteren onanieren kann – und dabei ausgerechnet von Shinji Shinjuku beobachtet wird.

Die Suche nach wahrer Kommunikation ist den meisten Akteuren gemein: Schere sieht die Stadt als Wildnis, in der man keinen echten Gesprächspartner finden kann. Mit Scheres Vater will ohnehin niemand reden. Und Taichi Miyaki kommt zu der Erkenntnis, dass Sprache die Menschen nicht verbinden kann. Auch der zivilisierte Sex ist dazu nicht in der Lage. Nur Gewalt ist nicht-entfremdete Kommunikation. Daher beginnt er, seine Frau zu schlagen – und sieht endlich wieder Leben in deren Augen.

Allein Shinji ist ein Fortschrittsgläubiger: Er will immer Erster, immer ein Sieger sein. Denn nur die Sieger sind schön und heroisch.

Shuji Terayama nimmt mit „Vor meinen Augen… eine Wildnis…“ aber auch die normierte, erschlaffte Gesellschaft aufs Korn: Die Gehaltsempfänger sehen ihr träges Arbeitsleben als ein Provisorium, um Geld zu verdienen, und merken dabei nicht, dass das Provisorium zu ihrem eigentlichen Leben wird. Sex wird routiniert. Kleidung konfektioniert. Tanz einstudiert.

Shuji Terayama nutzt als Stilmittel die Collage: Schlagertexte, Gedichte, Dialekt und Sportjargon fügt er zusammen,

„weil ich glaube, dass in der ‚anderen Welt’, die ich wie durch eine Zaunlücke vom Gemeinplatz zusammengehäufter, alltäglicher Ereignisse aus gesehen habe, der Rückweg zu einem Ort verborgen ist, den wir gemeinsam besitzen, dessen Spur zur Kommunikation führt.“ (Nachwort, S. 240)

Mittwoch, 28. September 2011

Shuji Terayama

Der Dichter, Regisseur, Dramaturg und Drehbuchautor Shuji Terayama wurde 1935 in Hirosaki geboren. Er wuchs als Einzelkind auf. Sein Vater verstarb 1945 in Indonesien, was seine Mutter dazu veranlasste, an einer amerikanischen Militärbasis zu arbeiten. Shuji wuchs deswegen bei seinem Onkel auf, der in ihm die Begeisterung für das Medium Film weckte. Im Alter von 18 Jahren machte er mit seinen Tanka und Haiku auf sich aufmerksam und gewann den Newcomer-Preis der Zeitschrift Tanka Kenkyu. Er begann mit seinem Studium der japanischen Literatur an der Waseda-Universität, was er jedoch krankheitsbedingt abbrechen musste. Während seiner dreijährigen Rekonvaleszenz entdeckte er die surrealistischen Werke von Antonin Artaud and Lautréamont kennen und schätzen. Daraufhin arbeitete er in den Kneipen von Shinjuku und gelangte zu der Überzeugung, dass man mehr vom Boxen und von Pferderennen über das Leben lernen könne als durch institutionalisierte Bildungseinrichtungen.

Anfang der 60er Jahre begann er, erste Filme zu drehen. 1967 gründete er das experimentelle Avantgarde-Theater Tenjo Sajiki, mit dem er auf Theaterfestivals weltweit Erfolge feierte. 1976 verdingte sich Shuji Terayama als Jury-Mitglied der Berlinale. 1983 starb er an Leberzirrhose. Sein Werk umfasst fast 200 literarische Werke und mehr als 20 Filme, die oftmals autobiographische Elemente aufweisen: Außenseitertum, Einsamkeit, Revolte und ein gestörtes Verhältnis zu den Eltern.

Interessante Links:


    Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

    Dienstag, 27. September 2011

    „Stolz der Toten“ von Kenzaburo Oe

    In Kenzaburo Oes Erzählung „Stolz der Toten“ nehmen ein Student und eine Studentin einen ungewöhnlichen Aushilfsjob an: Die Leichen, die in der medizinischen Fakultät zu Studienzwecken in Alkoholbecken konserviert werden, sollen in ein neues Becken umgesetzt werden. Der Student und Ich-Erzähler gruselt sich zunächst beim Anblick der toten, lehmbraunen Körper, die im Becken treiben. Zusammen mit dem Verwalter schafft der Student Leiche für Leiche auf eine Bahre, um sie zum neuen Becken zu transportieren. Die Studentin versieht sie dort mit einem neuen Registrierungskärtchen. Der Student beginnt die Stimmen der Toten zu vernehmen, die sich mit ihm unter anderem über seine Generation unterhalten. Kaum beginnt die Mittagspause so hat der Student Schwierigkeiten, in die Welt der Lebenden und deren Kommunikation zurückzukehren.

    Gegen Abend offenbart sich die Sinnlosigkeit der geleisteten Arbeit: Durch einen Fehler in der Verwaltung wurden die Toten in das neue Becken umgesetzt – doch eigentlich hätten sie direkt ins Krematorium geschickt werden sollen.

    Kenzaburo Oe zeigt mit „Stolz der Toten“ die Gegenständlichkeit des Todes, die Mühen der Kommunikation und die Unterschiede zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration auf. Das Thema selbst ist zwar mehr als unappetitlich, doch nicht schaurig.

    Montag, 26. September 2011

    „Abendschatten – Liebesbekenntnisse eines japanischen Malers“ von Chiyo Uno

    Der Maler Yuasa, der eine Weile im Ausland gelebt hat, kehrt zurück in das Japan der 20er Jahre, zurück zu seiner Frau und seinem Sohn, von denen er sich entfremdet hat. Die Scheidung ist nur noch eine Frage der Zeit, doch bis es soweit ist, leben die drei gemeinsam, wenngleich in unterschiedlichen Stockwerken eines Hauses.

    Nacheinander treten nun drei junge Frauen ins Yuasas Leben: Takao, ein sehr eigensinniges, sprödes Mädchen aus reichem Elternhaus, hat sich in den Kopf gesetzt, Yuasa zu ehelichen. Durch die kaltherzige Takao lernt Yuasa die elfengleiche Tsuyuko kennen, der er völlig verfällt. Doch da Tsuyukos Eltern eine Verbindung der beiden strikt ablehnen, wird Tsuyuko erst aufs Land und dann ins Ausland geschickt. Schließlich lernt Yuasa die kränkliche Tomoko kennen. Besonders lieb gewinnt er deren Elternhaus, das das Gefühl von Heimat vermittelt. Auf Drängen von Tomokos Eltern heiratet Yuasa Tomoko, deren Lebenserwartung krankheitsbedingt nicht sonderlich hoch zu sein scheint. Nur wenige Monate nach der Eheschließung kehrt Tsuyuko zurück. In Yuasa flammt die alte Leidenschaft wieder auf – woraufhin Tomoko spurlos verschwindet.

    „Abendschatten – Liebesbekenntnisse eines japanischen Malers“ liest sich ein bisschen wie ein schlechter Groschenroman: Der Protagonist ist sich seinen Gefühlen nie sicher, weiß nicht konsequent zu handeln und schlittert von einer Beziehung in die andere. Interessant macht den Roman erst das Nachwort, das die gesellschaftlich-historischen Hintergründe beleuchtet. Chiyo Uno beschreibt mit „Abendschatten – Liebesbekenntnisse eines japanischen Malers“ die Liebesaffären des real-existierenden Malers Togo Seiji, der [Achtung: Spoiler!] nach einem missglückten Liebesdoppelselbstmord aus den Klatschspalten der Zeitungen nicht wegzudenken war. Chiyo Unos Versuch, den Maler zu interviewen und so neues Material für ein Buch zu generieren, endete damit, dass die beiden auf dem Futon, auf dem die beiden Selbstmörder ihr Blut hinterlassen hatten, eine gemeinsame Nacht verbrachten. Lesern von „Die Geschichte einer gewissen Frau“ ist Togo Seiji bereits gegen Ende dieses Romans über den Weg gelaufen. Hier gibt es noch mehr Infos zum Maler Togo Seiji.

    Mit „Abendschatten – Liebesbekenntnisse eines japanischen Malers“ beschreibt Chiyo Uno einen schwächlichen Männertyp, der in den 20er Jahren jedoch sehr gut bei den Frauen angekommen zu sein scheint. Die weiblichen Akteure im Roman sind dahingegen dabei, sich zu emanzipieren und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

    Sonntag, 25. September 2011

    „Tanze, Schneck, tanz“ von Minako Oba

    Mit „Tanze, Schneck, tanz“ erzählt Minako Oba Geschichten aus ihrem Familien- und Verwandtenkreis. Wie oft bei japanischen Büchern wurden die einzelnen Kapitel von „Tanze, Schneck, tanz“ zuerst als singuläre Folgen in einer Zeitschrift abgedruckt, bevor schließlich das Buch daraus entstand.

    So erzählt Minako Oba von ihren Großmüttern, die bereits einem modernerem Frauentyp entsprachen. Von ihrer Mutter, die optisch einem „modern girl“ glich. Von den Großvätern und ihrem Vater, die ihren eigenen unkonventionellen Lebensstil pflegten. Von den Launen ihrer Tanten. Von dem Schicksal ihrer mittellosen Mitschülerinnen. Von ihrem Treffen mit Yasunari Kawabata.

    In diesen persönlichen Erzählungen ist auch die japanische Geschichte eingebettet: Der Weltkrieg, die Modernisierung, das harte Leben der Pachtbauern. Doch alle Entwicklungen und Geschehnisse spiegeln sich nur im Mikrokosmos der Familie wider ohne einen großen geschichtlichen Erklärungszusammenhang zu liefern. Minako Oba erzählt dabei aus ihrer eigenen Perspektive auch über Ereignisse vor ihrer Geburt, auf die sie sich nur durch das Hörensagen bezieht.

    „Tanze, Schneck, tanz“ ist damit ein sehr anschauliches Stück japanische Familiengeschichte mit lustigen Anekdoten über die Schrulligkeit der Verwandtschaft: Der Großvater beispielsweise kehrte von Ausritten ganz gerne erst dann zu Fuß zurück, wenn er den Gegenwert des Pferdes in einer Kneipe versoffen hatte.

    Dennoch ist das Lesen etwas anstrengend: Minako Oba springt von Assoziation zu Assoziation und folgt damit der japanische Schreibtradition des Zuihitsu; des „dem Pinsel folgen“. Dadurch wird die Geschichte eines Verwandten nicht stringent erzählt. Die Autorin hüpft von der einen Anekdote über den Großvater zu einem Gedankengang über den Vater und dann wieder zurück zum Großvater. In einer europäischen Lesart ist „Tanze, Schneck, tanz“ dadurch etwas konfus geraten, was jedoch nicht den Lesegenuss schmälern sollte.

    Dienstag, 20. September 2011

    Minako Oba

    Minako Oba (Jahrgang 1930) war schon als Kind eine Leseratte – selbst während der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg las sie. Durch die Nähe ihres Wohnorts zu Hiroshima wurde die Jugendliche Minako Oba als Hilfskraft in die von der Atombombe zerstörte Stadt geschickt. Nach dem Krieg studierte sie Anglistik an der Tsuda Frauenuniversität. T. S. Eliot inspirierte sie zu ersten eigenen Gedichten. Insbesondere William Faulkner, Ernest Hemingway und John Steinbeck zählten zu ihren Lieblingsautoren.

    Nach ihrem Abschluss 1953 unterrichtete sie an mehreren weiterführenden Schulen. Krankheitsbedingt kehrte sie jedoch bald zu ihren Eltern nach Niigata zurück und widmete sich der Buchlektüre und dem Schreiben von Gedichten. 1955 heiratete sie Toshio Oba – unter der Bedingung, dass er ihr auch weiterhin das Schreiben erlauben würde.1959 zog die Familie Oba nach Alaska, da Toshio dorthin versetzt wurde. Diesem Umstand verdankte Minako Oba die Möglichkeit, zu reisen und sich an der Universität von Wisconsin fortzubilden. 1963 entstand schließlich ihre erste Kurzgeschichte.

    1968 veröffentlichte die japanische Zeitschrift Gunza Minako Obas aus Alaska eingeschickte Kurzgeschichte „Die drei Krabben“, die den Akutagawa-Preis erhielt. Dies war der Startschuss für ihre weitere literarische Karriere. 1982 erhielt sie den Tanizaki-Preis

    Minako Oba starb 2007 in Folge eines Infarkts, den sie 1996 erlitten hatte.

    Interessante Links:

    Montag, 19. September 2011

    „Am Meer ist es wärmer“ von Hiromi Kawakami

    Manazuru – das ist die einzige Spur, die Keis verschwundener Ehemann Rei hinterlassen hat. Also bricht Kei wiederholt nach Manazuru auf und schlägt auch die Warnungen ihrer Mutter in den Wind, die Manazuru als besonders „starken“ Ort charakterisiert. Für Kei, die auch in Tokio übersinnliche Wahrnehmungen von Geistern hat, öffnet sich in Manazuru eine zweite Realitätsebene. Ob sie hier Rei findet, wie vage von einem Frauengeist angedeutet? Diese Frau, die nur für Kei sichtbar ist, erscheint bevorzugt in Manazuru und führt Kei in verschiedene übersinnliche Situationen einer Parallelwelt.

    Doch auch in der Realität hat Kei ihre Probleme: Ihre Tochter Momo im Teenager-Alter ist dabei, sich von ihrer Mutter abzunabeln und so sieht sich Kei mit dem Problem konfrontiert, dass sie von Momo ebenfalls eines Tages verlassen wird. Auch mit dem verheirateten Seiji, mit dem Kei eine langfristige Affäre hat, steht es nicht zum Besten: Er wirft Kei vor, Rei einfach nicht vergessen zu können und sich so nicht für eine Beziehung mit ihm öffnen zu können.

    In „Am Meer ist es wärmer“ wechseln die beiden Wirklichkeitsebenen permanent und sorgen beim Lesen für Verwirrung: Was ist wahr und was Imagination? Traumwandlerisch taumelt Kei durchs Leben und versucht die Fäden der Erinnerung zu entwirren.

    Nach „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“ und „Herr Nakano und die Frauen“ ist „Am Meer ist es wärmer“ der erste fantastische Roman von Hiromi Kawakami, der ins Deutsche übersetzt wurde. Leider fühlte ich mich etwas von der Autorin im Regen stehen gelassen: Was wollte sie mir eigentlich sagen? Dass man sich erst von Altlasten befreien muss, um sich etwas Neuem öffnen zu können? Dass zum Leben auch Abschiednehmen gehört? Dass Erinnerungen trügerisch sind? Viele Fragen bleiben bei „Am Meer ist es wärmer“ offen.

    PS: Wer wissen will, wie es in dem wirklichen Manazuru aussieht, der hat hier die Gelegenheit dazu.

    Sonntag, 18. September 2011

    „Meer und Gift“ von Shusaku Endo

    In „Meer und Gift“ rollt Shusaku Endo Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs auf: Die Vivisektionen - also die tödlichen Operationen zu Versuchszwecken - an amerikanischen Kriegsgefangenen.

    Der lungenkranke Ich-Erzähler zieht während der Nachkriegszeit in das neu entstehende Wohnviertel Matsubara-West vor die Tore von Tokio. Krankheitsbedingt ist er auf einen baldigen Arztbesuch angewiesen und es bleibt ihm nichts anderes übrig, die Praxis des kalten, unangenehmen Dr. Suguro regelmäßig aufzusuchen. Der Zufall spielt dem Ich-Erzähler einen ehemaligen Kommilitonen Suguros als Tischnachbar auf einer Hochzeit zu und so erfährt er, dass sein Hausarzt wegen Menschenexperimenten während des Zweiten Weltkriegs angeklagt und verurteilt wurde.

    In Rückblenden schildert Shusaku Endo nun die Geschehnisse, wie der angehende Arzt Suguro, sein Kollege Toda und Schwester Ueda in die Machenschaften ihrer Vorgesetzten hineingezogen und so zu Mittätern an den menschenverachtenden Experimenten wurden. Im Gegensatz zum gealterten Suguro, der sich in Matsubara-West niedergelassen hat, ist der junge Suguro ein herzensguter Arzt, der insbesondere Wohlfahrtspatienten besonders gut behandelt. Aus eigener Schwäche kann Suguro seine Beteiligung an der Vivisektion nicht verhindern. Toda dagegen ist abgebrüht und handelt gewissenlos. Schwester Ueda wiederum rächt sich mit ihrer Beteiligung an der Ehefrau des operierenden Professors – so wird Schwester Ueda ein Geheimnis mit dem Professor teilen, das seiner sich als Heilige gebärdenden Ehefrau verschwiegen wird.

    Wie in „Eine Klinik in Tokyo“ kommt der Krankenhausbetrieb ohnehin nicht gut weg: Den Ärzten geht es nicht um das Wohl der Kranken, sondern nur um die eigene Karriere. Und für die wird schon einmal das Leben der Patienten riskiert. Als nun das Militär auf die Professoren der Klinik mit dem Vorschlag der Vivisektion an amerikanischen Kriegsgefangenen zukommt, sind sie sich der Unrechtmäßigkeit dieser Operationen bewusst, rechtfertigen sie aber mit dem erzielten medizinischen Fortschritt.

    „Meer und Gift“ ist nichts für schwache Nerven: Hier wird beschrieben, wie auf dem OP-Tisch verstorbene Patienten aussehen wie Granatäpfel. Wie einem amerikanischen Kriegsgefangenen die Lunge Stück für Stück entfernt wird, bis der Tod eintritt. Wie dessen Lunge den degenerierten Militärs zum Essen vorgesetzt wird.

    Trotz der grausigen Taten sieht der Leser nach der Lektüre den verhärteten Arzt Suguro mit anderen Augen. Hätte er die Operationen verhindern können oder wäre er ohnehin dazu verdammt gewesen, den Menschenexperimenten hilflos zusehen zu müssen? So hat wohl der Tod des Kriegsgefangenen auch Suguros Seele sterben lassen.

    Samstag, 17. September 2011

    „Requiem“/„Die verdunkelte Sonne – Ein Requiem“ von Shizuko Go

    „Requiem“ (auch veröffentlicht als „Die verdunkelte Sonne – Ein Requiem“) ist mal echt harter Tobak: Zusammen mit der 16-jährigen Setsuko erlebt der Leser die letzten Kriegsmonate – und vor allem das Sterben um sie herum. Einer nach dem anderen stirbt in ihrem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis. Egal in welcher Lebenssituation – niemand kann sich schützen. Da sind die Soldaten an der Front; die Hausfrauen, die beim Anstehen um Lebensmittel von Kampfflugzeugen beschossen werden; Pendler in Zügen, die bombardiert werden; Schüler, die den Weg in den Luftschutzbunker nicht überleben; inhaftierte Oppositionelle, die unter den schlechten Haftbedingungen den Tod finden und schließlich jene, wie Setsuko selbst, die nach der Kapitulation gesundheitlich so angegriffen sind, dass sie in den ersten Tagen des Friedens sterben müssen.

    Zentral in „Requiem“ ist die Freundschaft der 16-jährigen Setsuko und der zwei Jahre jüngeren Naomi. Die beiden sehen sich selten, seit sie in unterschiedlichen Rüstungsbetrieben arbeiten. Doch sie führen Korrespondenz über ein Notizbuch, das sie bei den seltenen Treffen hin- und herreichen.

    Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein: Setsuko gilt als eine vorbildliche junge Japanerin, die sich voll für den japanischen Kriegsruhm einsetzt. Naomi ist in einer westlich-orientierten Familie aufgewachsen. Ihr Vater wurde als Verräter denunziert und weggesperrt. Zwar will sie sich kurzzeitig an die patriotische Setsuko anpassen, doch die Einstellungen der beiden sind zu verschieden, dass die Freundschaft leidet.

    Die Autorin und überzeugte Pazifistin Shizuko Go wurde für ihren unausgegorenen Erzählstil von „Requiem“ kritisiert. Doch gerade dieser Stil war für mich sehr plastisch: Der Erzählfluss wird mit Rückblenden durchbrochen; Briefe, Postkarten, Liedtexte und die Einträge im gemeinsamen Notizbuch von Setsuko und Naomi werden zitiert.

    Der autobiographisch angehauchte Roman von Shizuko Go ist sehr zu unrecht kaum bekannt. Der Krieg, das permanente Leid, das Abstumpfen der Gefühle und schließlich der Wunsch doch auch selbst endlich aus dem Leben zu scheiden, weil fast niemand sonst noch übrig ist, werden so erschütternd beschrieben, dass die eigenen Alltagsproblemchen auf mikroskopisch kleine Größe schwinden.

    Freitag, 16. September 2011

    Shizuko Go

    Shizuko Go wurde 1929 in Yokohama geboren. Wie viele ihrer Altersgenossen verbrachte sie während des zweiten Weltkrieges ihre Jugend als Arbeitskraft in Rüstungsbetrieben und nicht in der Schule. Als sie an Tuberkulose erkrankte wurde sie zur Rekonvaleszenz aufs Land geschickt. 1951 trat sie in eine linksgerichtete Autorenschule ein. 1955 musste ihr nach einem gesundheitlichen Rückschlag ein Lungenflügel entfernt werden. Danach gab Shizuko Go (vorerst) das Schreiben auf und widmete sich ganz ihrem Leben als Ehefrau und Mutter zweier Söhne.

    Doch als 1968 die japanischen Selbstverteidigungskräfte ihr erhöhtes Budget bekannt gaben, fühlte sich Shizuko Go verpflichtet, mit „Requiem“ an die Grausamkeiten des zweiten Weltkriegs zu erinnern. 1972 erhielt sie für das Werk den Akutagawa-Preis. Ihre weiteren Romane und Erzählungen sind wie auch „Requiem“ autobiographisch gefärbt bzw. reflektieren ihr politisches Engagement unter anderem für die Friedensbewegung.

    Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

    Donnerstag, 15. September 2011

    „Der weiße Buddha“ von Hitonari Tsuji

    Hitonari Tsuji erzählt mit „Der weiße Buddha“ die Lebensgeschichte seines Großvaters – freilich inklusive gewisser künstlerischer Freiheiten:

    Minoru wächst auf einer kleinen japanischen Insel auf. Doch schon als Kind erlebt er einen ersten Schicksalsschlag: Sein ein Jahr älterer Bruder fällt von einer Fähre und ertrinkt im Fluss. Da seine Mutter sich im entscheidenden Moment dafür entschieden hatte, Minoru und nicht den Bruder festzuhalten, quält Minoru der tragische Verlust des Bruders umso mehr. Minorus Leben ist fortan davon geprägt, über den Tod zu reflektieren. Schließlich wird er noch oftmals mit dem Sterben konfrontiert: Seine Jugendliebe Otowa stirbt überraschend in der der Fremde. Minoru kämpft in China und tötet im Überlebenskampf einen feindlichen Soldaten. Sein Sohn stirbt genauso tragisch wie sein Bruder. Ein Freund aus Kindertagen begeht Selbstmord. Und irgendwann stirbt auch Minoru selbst.

    Doch bevor Minoru aus dem Leben scheiden muss, möchte er noch seine Lebensaufgabe erfüllen: Da der Platz auf der Insel begrenzt ist und die Inselbewohner ein besonderes Gefühl der Verbundenheit pflegen, soll aus den Knochen der Verstorbenen ein großer, weißer Buddha entstehen. (Da in Japan die Feuerbestattung üblich ist, bei der einzig die Knochen begraben werden, nachdem alles andere verbrannt ist, klingt das ekliger, als es ist.) Damit soll die Gemeinschaft auch nach dem Ableben gewahrt bleiben. So öffnet Minoru unter anderem auch die Urne seiner geliebten Otowa und erfährt dabei die Wahrheit über ihren mysteriösen Tod.

    Doch auch Minorus Leben ist von Mysterien begleitet: Er erlebt Déja-vus, glaubt an Seelenwanderung und kann in Erfahrung bringen, welches Leben seine Tochter vor ihrer Geburt gelebt hat.

    „Der weiße Buddha“ präsentiert neben der teilweise sehr traurigen Handlung anhand Minorus Leben einen anschaulichen Abriss der japanischen Geschichte: Vom Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg, über den Patriotismus während des zweiten Weltkriegs bis hin zur Industrialisierung der Landwirtschaft. Mit dem Roman setzt Hitonari Tsuji seinem Großvater, der ein außergewöhnlicher Mann gewesen zu sein scheint, wahrlich ein wunderbares Denkmal – auch wenn die „Der weiße Buddha“ stellenweise sehr betrüblich ist.

    Mittwoch, 14. September 2011

    „Schwestern der Nacht“ von Masako Togawa

    Ichiro Honda ist ein Frauenaufreißer, der so gut wie jedes seiner „Opfer“ zur Strecke bringt. Während der Arbeitswoche geht er in Tokio auf Betthäschenjagd; am Wochenende fährt er heim zu seiner Ehefrau – und in ihrer Gegenwart ist der Frauenheld von Impotenz geplagt.

    Als Keiko Obana, die nur eine Nacht mit Ichiro Honda verbracht hatte, schwanger wird, begeht sie Selbstmord. Einige Monate später beginnt eine geheimnisvolle Frau Nachforschungen über Ichiro Honda anzustellen: Bei seiner ehemaligen Universität; in den Restaurants, in denen er verkehrt; in dem Hotel, in dem er wohnt. Als eine seiner Geliebten ermordet wird, denkt sich Ichiro Honda noch nicht viel dabei. Doch dann wird eine weitere Liebhaberin getötet und schließlich widerfährt einer dritten dasselbe Schicksal. Immer die Frau muss sterben, die ihm ein Alibi für das vorhergehende Opfer verschaffen könnte. Alle Indizien weisen auf Ichiro Honda – kann seine Anwaltskanzlei den wahren Täter ausfindig machen?

    Masako Togawa zeichnet mit „Schwestern der Nacht“ ein für die Autorin typisches Verwirrspiel. Alles erscheint irgendwie klar und ist doch wieder ganz anders. Dennoch ist die Auflösung von „Schwestern der Nacht“ nicht ganz so überraschend wie beispielsweise die von „Der Hauptschlüssel“ oder „Der Kuss des Feuers“ und wenn man die Kniffe von Masako Togawa kennt, lässt sich schon erahnen, wer wirklich hinter den Morden stecken könnte. Dennoch ist die Geschichte von dem hinters Licht geführten Verführer Honda ein spannender Krimi rund um Begehren, Eifersucht und Rache.

    Montag, 12. September 2011

    „Das Gesicht des Anderen“ von Kobo Abe

    Bei einem wissenschaftlichen Experiment wird der Ich-Erzähler so im Gesicht verletzt, dass er hässliche Narben davonträgt, die er fortan unter einem Verband verbirgt. Seine Ehefrau begegnet ihm nurmehr mit Mitleid; Fremde haben Angst vor ihm und sehen beschämt an ihm vorbei. Als Wissenschaftler stellt er nun allerlei Nachforschungen an – wie kann er sich eine täuschend echte Maske herstellen und in dieser Verkleidung seine Frau verführen, die sich von ihm entfremdet hat. In einem Brief und drei Notizbüchern hält der Protagonist seine Gedankengänge fest, um sich seiner Frau schließlich plausibel zu machen.

    Im Grunde genommen sind die Zutaten für „Das Gesicht des Anderen“ sehr spannend und könnten für kurzweiliges Lesevergnügen sorgen – wenn da nicht Kobo Abes Erzählstil wäre. Auf den ersten fünfzig Seiten passiert erst einmal nicht viel außer den Gedankengängen des Wissenschaftlers über die faktische Realisierbarkeit einer Maske, die nicht von einem natürlichen Gesicht zu unterscheiden ist. Dazu kommen zudem noch eingehende Reflexionen über die Rolle eines Gesichts in der Kommunikation und in sozialen Beziehungen, über die Macht einer Maskierung und der Wechselwirkung zwischen Maskencharakter und realer Persönlichkeit bis hin zu einer Zukunftsvision einer Gesellschaft von Maskenträgern. Insofern ist das Thema höchst soziologisch und sehr interessant.

    Daher ist „Das Gesicht des Anderen“ alles andere als leichtverdaulich, was neben der kaum existenten Handlung auch noch an der etwas sperrigen Sprache liegt. Aber gerade durch die mannigfaltigen Überlegungen des Protagonisten gelingt Kobo Abe eine hervorragende Gesellschaftsanalyse der Mikro-Ebene. Wer soziologische Betrachtungen liebt, der wird seine Freude an „Das Gesicht des Anderen“ haben.

    Sonntag, 11. September 2011

    Kobo Abe

    Der Roman-, Theaterstück- und Drehbuchautor Kobo Abe, der auch als „japanischer Kafka“ gilt, wurde 1924 in Tokio geboren und wuchs zeitweise in der von Japan annektierten Mandschurei auf. Weit weg vom Heimatland wurde Kobo Abe mehr von westlichen als von japanischen Autoren beeinflusst. Dazu zählten vor allem Poe, aber auch Nietzsche, Dostojewski und Lewis Carroll. 1940 kehrte er nach Tokio zurück, um zunächst die Oberschule zu besuchen und dann Medizin zu studieren. Da er ausgemustert wurde, blieb Kobo Abe der Kriegsdienst erspart. 1948 beendete er sein Medizinstudium erfolgreich, ohne jedoch jemals zu praktizieren. Im selben Jahr schloss er sich der avantgardistischen Bewegung Yoru no kai (Nachtgruppierung) an und kam so in Berührung mit Marxismus und Surrealismus. 1951 trat er in die kommunistische Partei ein. Nach mehreren Veröffentlichungen erhielt er ebenfalls 1951 den Akutagawa-Preis für „Kabe“. Als 1964 der Roman „Die Frau in den Dünen“ verfilmt wurde und den Filmpreis von Cannes gewann, wurde Kobo Abe auch im Westen bekannt. Weitere Romanverfilmungen, für die Kobo Abe selbst die Drehbücher schrieb, sind „Das Gesicht des Anderen“ und „Der verbrannte Stadtplan“. Mit 1993 starb der Autor an einem Herzinfarkt.

    Kobo Abe gilt in Japan eher als internationaler als als japanischer Autor, da er sich bewusst von der traditionellen japanischen Literatur abgrenzte und angab, keine besonders starke Heimatverbundenheit zu fühlen. Andererseits gilt er eben dadurch als Wegbereiter für zeitgenössische japanische Autoren wie Haruki Murakami.

    Typische Kobo Abe-Themen sind Selbstentfremdung, Identitätssuche und die Rolle des Individuums in einem großstädtischen Setting.

    Interessante Links:


    Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

            Samstag, 10. September 2011

            „N.P.“ von Banana Yoshimoto

            „N.P.“ - „North Point“ ist die einzige Veröffentlichung des fiktiven Schriftstellers Sarao Takase, die 97 Kurzgeschichten enthält. Als die 98. und englischsprachige Geschichte des Autors auftaucht, will Kazamis Freund Shoji diese ins Japanische übersetzen. Doch er scheitert wie alle Übersetzer vor ihm und begeht wie diese Selbstmord.

            Kazami trifft zufällig auf Sarao Takases Kinder, die zweieiigen Zwillinge Othohiko und Saki, die sie schon einige Jahre zuvor zusammen mit dem noch lebenden Shoji auf einer Party beobachtet hatte. Mit Othohiko und Saki verbindet Kazami sofort das Gefühl, sich schon seit Kindheitstagen zu kennen. Doch die Harmonie wird gestört, als Sui auftaucht. Sui ist Othohikos Geliebte, die es sich zum Ziel gemacht hat, alle Erzählungen von Sarao Takase in ihren Besitz zu bringen. Sui zeichnet sich durch einen besonders wilden, ungestümen Charakter aus und ist doch weniger gefährlich, als Kazami aus Sakis Erzählungen heraus annehmen musste.

            Als sich jedoch die wahren Verwandtschaftsverhältnisse des Vierer-Gespanns entwirren, dreht sich die Handlung in eine fast schon fatale Richtung rund um doppelte Inzestbeziehungen.

            Banana Yoshimoto gibt im Nachwort an, sie wollte mit „N.P.“ einen Roman schreiben, der alle ihre bisherigen Themen wie lesbische Liebe, Inzest, Telepathie, Sympathie, Okkultismus und Religiosität vereint. Leider tummeln sich damit ein bisschen zu viele Themen in dem 186-seitigen Werk und ein Schwerpunkt der Handlung wird nicht gefunden. Geht es nun um die inzestuösen Beziehungen, um die faszinierende Freundschaft mit Sui, um den Verlust durch den Tod von Shoji? In Ansätzen entwickelt Banana Yoshimoto herzerwärmende Charaktere, bleibt aber mit „N.P.“ etwas hinter ihren anderen Werken zurück.

            Mittwoch, 7. September 2011

            „Hotel Iris“ von Yoko Ogawa

            Yoko Ogawa gilt als Meistererzählerin von schaudrigen Geschichten. Auch mit „Hotel Iris“ gelingt es ihr, beim Leser eine unwohlige Stimmung entstehen zu lassen: Die junge Mari muss seit dem Tod einiger Angehörigen ihre Mutter beim Betrieb des familieneigenen Hotels am Meer unterstützen. Die Mutter kommandiert sie herum, quält sie jeden morgen damit, ihr die Haare streng zurück zu frisieren. Als ein alter Herr eines Tages im Hotel übernachtet, kommt es zu einem Skandal: Eine Prostituierte, die er zu sich bestellt hat, wird von ihm vor die Zimmertür geworfen, da sie sich weigert, ihm in der gewünschten Weise zur Verfügung zu stehen. Lauthals beschimpft sie den Mann, bis das ganze Hotel in Aufruhr ist. Während Maris Mutter wieder für Ruhe sorgt, ist Mari wie gebannt von der Reaktion des Freiers: In autoritärem Befehlston sagt er nur „Schweig, Hure“ zu der Prostituierten.

            Wenige Tage später begegnet Mari dem alten Mann zufällig beim Einkaufen und verfolgt ihn scheinbar unbeobachtet. Doch dem Mann ist dies nicht entgangen und er stellt Mari zur Rede. Ganz langsam kommen sich die beiden etwas näher, schreiben sich Briefe und treffen sich, wenn es Mari gelingt, sich heimlich aus dem straff organiserten Hotelbetrieb davon zu stehlen. Mari erfährt, dass er Übersetzer ist und auf einer Insel lebt, die man mittels einer Fähre von Maris Heimatort aus erreichen kann. Auf dem Festland ist der alte Herr ein unsicherer, unbeholfener Mann. Doch als sie ihn auf der Insel besucht, zeigt er seine autoritäre Seite, die Mari so im Hotel fasziniert hat. Mari liefert sich ihm mit Wonne aus, wird gefesselt, geschlagen und bestraft, muss gehorchen und dem alten Mann zu Diensten sein. So gehorcht Mari in ihren beiden Welten: Im Hotel und auf der Insel. Begibt sie sich von der einen in die andere Abhängigkeit? Oder versucht sie ihrer Mutter gegenüber zu rebellieren?

            „Hotel Iris“ ist trotz des Themas aufgrund der nüchternen Sprache von Yoko Ogawa meiner Meinung eher nicht als erotische Literatur einzustufen. Vielmehr löst die völlige Hingabe der jungen Frau ein unangenehmes Befremden beim Leser aus. Zudem wird der Übersetzer alles andere als anziehend beschrieben: In alltäglichen Situationen wirkt er sogar bemitleidenswert. Sein alter Körper ist schlaff und so überhaupt nicht erotisch. Damit sorgt Yoko Ogawa wieder einmal für ganz unbehagliche Gänsehaut.

            Samstag, 3. September 2011

            „Mandala der Lüste“ von Kenji Nakagami

            Zugegeben: Der Titel „Mandala der Lüste“ klingt sehr nach Softporno. Zwar sind Sex-Szenen in Kenji Nakagamis Roman durchaus vorhanden, aber sie sind eher deftig als soft (gleichgeschlechtlich, blutig und gefesselt). Der japanische Originaltitel würde ins Deutsche übersetzt „Ekstasen aus tausend Jahren“ lauten. Doch auch dies scheint mir ein bisschen zu kurz gegriffen, da die alte Hebamme O-Ryu aus dem Leben von sechs Männern der Nakatomo-Sippe erzählt. Freilich gehört dazu auch deren Sexualität – aber eben nicht nur.

            Die Nakamotos leben wie O-Ryu im Kiez, im Buraku, im Ghetto von Shingu. Glaubt man den Gerüchten, so fließt in ihren Adern verrottetes Adelsblut. Sie sind faul, neigen zu Gewalttaten und sind aufgrund ihres guten Aussehens bei den Frauen mehr als beliebt. Da gibt es zum einen den besonders schönen Hanzo, der sowohl Frauen als auch Männer betört. Myoshi, der sich Pervitin spritzt, wird durch den Drogenkonsum bald blind. Fumihiko sieht schon als Kind Tengu-Kobolde – hat er sich mit der Auswahl seiner Geliebten vielleicht sogar einen ins Haus geholt? Yasu der Orientale will nach Südamerika auswandern und macht sich dabei gehörig Feinde. Shinichiro ist der geschickteste Einbrecher, der durch seine Weibergeschichten aber enttarnt wird. Und dann gibt es noch Tatsuo, der in einem jungen Ainu einen Verbündeten findet. Leider teilen alle männlichen Nakamotos, wie die alte O-Ryu weiß, jedoch das Schicksal des allzu frühen Todes.

            Kenji Nakagami zeichnet ein aufregendes Bild des Burakus, das unter anderem von Ganoven, Tagelöhnern und Prostituierten bevölkert ist. Denn den Ausgestoßenen ist ein enormes Selbstbewusstsein gegeben; ein Stolz, zu tun und zu lassen zu können, was man will. Der Schreibstil wirkt etwas altbacken, was jedoch hervorragend zur Erzählerin, der alten O-Ryu, passt. Als diese im Sterben liegt, setzt die Modernisierung im Japan der Nachkriegsjahre ein; die tausend Jahre vormoderne Buraku-Geschichte, die O-Ryu in ihrem Gedächtnis eingespeichert hatte, neigen sich damit dem Ende zu.

            Freitag, 2. September 2011

            Kenji Nakagami

            Kenji Nakagami wurde 1946 als Burakumin, also einem Angehörigen einer gettoisierten und diskriminierten Minderheitsbevölkerung in Japan geboren. Er wuchs in einer Patchwork-Familie auf. Seine Familienangehörigen waren wie alle Burakumin Analphabeten. Durch die nach dem Krieg einsetzende Alphabetisierung lernte Kenji Nakagami lesen, obwohl seine Mutter sich gegen die Buch-Lektüre aussprach.

            Kenji Nakagami war unter anderem Frachtarbeiter am Flughafen Haneda, begeisterte sich für Jazz und die politische Linke. Während er in Jazz Clubs saß und bei einem Kaffee der Musik lauschte, begann er zu schreiben. Als aus der Gesellschaft Ausgestoßener war er besonders ehrgeizig nach Erfolg. 1976 erhielt er schließlich den Akutagwa-Literaturpreis für „Misaki“. Besonderen Einfluss hatten die Werke von William Faulkner auf den Autor. Unter den japanischen Autoren nennt Kenji Nakagami Junichiro Tanizaki als sein Vorbild.

            Kenji Nakagami thematisierte das Leben der Burakumin und verschrieb sich damit dem Kampf gegen die Unterdrückung der Minderheit und dem Totschweigen derer Existenz.

            1992 starb der passionierte Raucher Kenji Nakagami an Nierenkrebs.

            Interessante Links:

            Ins Deutsche übersetzte Romane/Erzählungen und hier rezensiert:

            Donnerstag, 1. September 2011

            „69“ von Ryu Murakami

            „69“ ist ein herrlich komischer, Kulturen und Generationen übergreifender Roman über das Erwachsenwerden, der so gar nichts mit den anderen, brutaleren Romanen von Ryu Murakami gemein hat.

            Wir schreiben das Jahr 1969, die Studenten weltweit üben Protest gegen den Vietnam-Krieg, philosophieren über Marx und kosten das Leben aus vollen Zügen – nur in Kens Heimatstadt, einem kleinen Kaff an der japanischen Küste aus dem die Jets der amerikanischen Besatzer aufsteigen, herrscht alles andere als revolutionärer Geist. Im Grunde genommen gibt es hier nur eines: Gähnende Langeweile. Ken ist ein Angeber mit gefährlichem Halbwissen, der sich vor seinen Mitschülern und vor allem Mitschülerinnen mit seinem pseudo-weltmännischen, pseudo-kommunistischen Geschwätz erfolgreich produziert. Wie sollte er auch ansonsten Eindruck vor den Mädels schinden, wenn er sich nicht als Revoluzzer gegen das kriegstreiberische System darstellen kann? Um ein Zeichen zu setzen, planen er und seine Kumpane die Verbarrikadierung der Schule – selbstverständlich nicht aus politischen Gründen, sondern um die Angebetete endlich ins Bett zu bekommen. Und bevor die Langeweile wieder die Oberhand gewinnt, müssen Ken und seine Kumpane nun auch noch das "Morgenlatten-Festival" organisieren. Doch nicht alle männlichen Teenager sind von dem Vorhaben begeistert, sind Ken & Co. doch gerade dabei, die heißesten Partien abzustauben.

            Ryu Murakami, der wegen der wegen einer Demonstration auf dem Dach seiner Oberschule tatsächlich von ebensolcher verwiesen wurde, schreibt mit „69“ seine eigene Geschichte und zeigt den Teenager Ken in sympathischer Weise um Coolness ringen, ohne einen Fremdschäm-Effekt hervorzurufen. Beste Leselaune ist mit "69" jedenfalls garantiert! Einzig und allein ein bisschen störend: Allzu oft ergeht sich der Protagonist in Übertreibungen, die er im nächsten Satz schon gleich mit einem "ganz so war's dann doch nicht" wieder relativiert. Hier wäre weniger mehr gewesen.