Wer ist denn „Ein Gast“ in Yoko Tawadas Kurzroman? Ist es die Ich-Erzählerin selbst, eine Japanerin, die wie die Autorin in Deutschland lebt? Oder ist es die Frauenstimme, die sich von Zeit zu Zeit im Kopf der Erzählerin eingenistet hat?
So langsam habe ich mich ja schon als Yoko Tawada-Fan geoutet und nun ist es wohl vorhersehbar, wenn ich erneut ein Loblied auf die Autorin anstimme. Auch in „Ein Gast“ darf der Leser den leicht verqueren und doch so treffenden Gedankengängen einer Ethnologin, die keine sein mag, folgen, wenn es um europäische Eigenarten geht. Am Beispiel der Geburtstagsfeiern fragt sie sich, was man denn da überhaupt feiert. Dass man wieder ein Jahr überstanden hat, ohne zu sterben? Und warum werden erwachsene Frauen an ihrem Geburtstag von ihren Müttern so stürmisch umarmt, als seien sie gerade erst auf die Welt gekommen?
Aber freilich hat auch das Thema der (Fremd-)Sprachlichkeit seinen Platz: Im Ohr, mit dem die Erzählerin einem mäßig interessanten Hörbuchs lauscht, hat sich vielleicht ein Floh eingenistet – oder ist es eine Mittelohrentzündung, die ihr Beschwerden bereitet? Die Worte der Vorleserin nehmen ein Eigenleben an und strömen permanent durch den Kopf der Erzählerin. Einerseits mag diese die Stimme endlich loswerden, andererseits fehlt sie, wenn sie verstummt ist. Auch auf das Lese- und Schreibvermögen wirkt sich die Stimme der Vorleserin aus. Wie hängen Schreiben, Lesen und Hören nur zusammen?
Bedrohlicher als die Stimme wirkt der Nachbar Z: Der ehemaligen Psychologiestudent mag Frauen therapieren, die nach der geführten Meditation jedoch aussehen, als hätte man ihnen einen Knochen gebrochen.
Wie immer beim Konkursbuchverlag hat man auch bei „Ein Gast“ auf die optische Gestaltung wert gelegt. Daher werden die Seiten immer wieder mit Motiven des Organs der passiven Spracherfahrung geziert – dem Ohr.
Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Ein Gast“, Konkursbuchverlag, Tübingen 1993, ISBN 3-88769-069-9
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen