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Freitag, 24. Juni 2011

„Der Heilige“ von Yoshikichi Furui

Auch bei „Der Heilige“ von Yoshikichi Furui empfiehlt es sich, zuerst das Nachwort zu lesen. Denn ansonsten ist man bei der Schilderung des Begräbnisritus etwas irritiert und fragt sich, ob dies der wirren Fantasie des Autors entsprungen ist. Nein, Ekkehard May klärt im Nachwort auf, dass das so genannte Doppelgrabsystem noch in den 50er Jahren in einigen Orten verbreitet war. Hier wurde der Körper der Verstorbenen aus Platzmangel in einem Massenerdgrab abseits des Dorfes und der Felder bestattet, die Seele des Verstorbenen wurde jedoch auf einem separaten buddhistischen Friedhof verehrt, wo sich auch ein Grabstein befand. Die Pflege des als unrein geltenden Erdgrabs und die Bestattungen oblagen einem Ausgestoßenem.

Mit diesem Phänomen wird der Ich-Erzähler, ein sich auf Wanderschaft befindender Student aus Tokio, konfrontiert. Von einem Gewitter überrascht, den Fuß verstaucht, sucht er Schutz in einem kleinen, abgelegenen Tempel, wo er schließlich übernachtet. Am nächsten Tag sucht ihn die junge Frau Sae auf und bittet den Ich-Erzähler um einen großen Gefallen: Saes Großmutter liegt im Sterben und möchte nach dem alten Brauch in der Erde beim Tempel bestattet werden. Dazu ist ein Ausgestoßener dringend nötig, ein Bettler, der sie nach ihrem Tode als  „Heiliger Mann“ ans „jenseitige Ufer“ bringt. Saes Großmutter hat den Studenten bereits aus ihrem Zimmer vor dem Tempel erblickt und glaubt, nur in Anwesenheit des angeblich Heiligen sterben zu können.

Der Student lässt sich überzeugen und bleibt einige Tage in der Hütte beim Tempel und spielt die Rolle des Heiligen. Sae verköstigt ihn in dieser Zeit, schläft mit ihm und erzählt die Generationen zurückreichenden Geschichten der heiligen Männer, die jeweils einige Jahre den Dienst des Totengräbers und Grabwächters übernommen hatten. Als Ausgestoßene übten sie jeweils einen verbotenen sexuellen Reiz auf die jungen Mädchen des Dorfes aus.

Zudem thematisiert Yoshikichi Furui jedoch die Veränderungen in Japan: Die Landwirte im Dorf möchten ihre Felder verkaufen und in die Stadt ziehen. Die nahe gelegene Stadt N. wuchert und streckt ihre Siedlungen wie eine Krake nach dem Dorf aus. Und Saes Großmutter mit ihren Bestattungswünschen ist die letzte einer Generation.

In Japan gilt Yoshikichi Furui als ein anspruchsvoller, nicht leicht lesbarer Autor. Dies schlägt sich auch in der Übersetzung nieder. „Der Heilige“ war Furuis erster, in eine westliche Sprache übersetzter Roman. Das weitere Schicksal der Protagonisten wird in „Zufluchtsort“ geschildert. Der letzte Teil „Die Eltern“ ist leider bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.

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