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Montag, 30. März 2015

„Das Band der Kamelie“ von Tadashi Karato

Wie gelangte eine japanische Kamelie Ende des 18. Jahrhunderts in die Gärten des Pillnitzer Schlosses? Dieser Frage geht Tadashi Karato mit seiner Novelle „Das Band der Kamelie“ nach, die auf wahren Begebenheiten beruht.

Der Leser begleitet den schwedischen Arzt und Botaniker Carl Peter Thunberg auf dem großen Abenteuer seines Lebens: Er wird von seinem Mentor Carl von Linné in die große Welt entsandt, um auf Expeditionen botanisches Material zu sammeln und zu erkunden. Zunächst soll seine Reise jedoch nur über Amsterdam nach Paris gehen. Doch schon bald wird klar: Thunberg wird nach Südafrika gehen und über Batavia nach Japan reisen. Seine Angebetete Birgitta ist über diese Wendung weniger glücklich.

In Japan verbringt Thunberg langweilige Tage auf der isolierten Insel Dejima. Der befreundete Professor Burman hat Thunberg einen Brief mitgegeben, der erst in Japan geöffnet werden soll. Zu Thunbergs Überraschung enthält das Schreiben die große Bitte Burmans, für vier europäische Adelshäuser Kamelien nach Europa schicken zu lassen. Insbesondere für die Bemalung von Porzellan ist die originale Pflanze als Motivvorlage sehr wertvoll. Als sich Thunberg in einer Baumschule nach geeigneten Kamelien umsieht, begegnet ihm die Gärtnertochter Hana, die für ihn die Schönheit der Kamelienblüte verkörpert.

An sich sind die Zutaten von Tadashi Karatos „Das Band der Kamelie“ sehr vielversprechend. Doch leider scheint es, als ob der Autor eher Geschichte festschreiben will, als Geschichten zu erzählen. Und so verliert er sich in diversen historischen Details wie z.B. den ersten erfolgreichen Versuchen der Porzellanherstellung in Europa und der Belagerung Wiens durch die Türken, als dass er Charaktere mit Emotionen zeichnet. So bleibt dem Leser der Protagonist Thunberg fremd. Seine innere Zerrissenheit zwischen Birgitta und Hana wird beispielsweise glatt gar nicht angesprochen. Auf Hana wird ohnehin so gut wie gar nicht eingegangen. Und dabei muss sie mit dem großen Stigma gelebt haben, sich mit einem Gaijin eingelassen zu haben. Die Handlung wird primär faktengetrieben vorangebracht und so kann die Novelle kaum mitreißen.

Auch hätte der Königshausen & Neumann-Verlag sicherlich auch ein Gutes daran getan, die Übersetzung intensiv zu lektorieren. Von fehlenden Anführungszeichen ganz zu Schweigen, erfolgen unverständliche Tempussprünge und manche Sätze wirken wie eine erste Grobübersetzung. Warum schreibt man z.B.

„Ich fand bewundernd, welche Güte sie ausstrahlte“ (S. 21)

statt „Ich bewunderte die Güte, die sie ausstrahlte“. Oder in einem anderen Fall steht dies geschrieben:

„Seine Rede war lang, aber Thunberg konnte raison d’être (die wichtige Funktion und Rolle des Gouvernements) von Kapstadt gut verstehen.“ (S. 82)

Wenn man seinen Lesern nicht zutraut, den Begriff „raison d’être“ zu verstehen – warum verwendet man ihn denn dann und setzt eine Erläuterung in Klammern dazu? Weil ein französischer Begriff gar so schick ist?

Nach der Lektüre kann man auch über den Klappentext, der da heißt

„Thunberg jedoch hatte einen geheimen Auftrag von Johannes Burman, seinem Professor aus Amsterdam zu erfüllen: nämlich vier Kamelien nach Europa zu bringen. Besonders der japanische Großmeister im Dolmetschen, Kosaku Yoshio, half ihm, diese Mission zu erfüllen.“

nur schmunzeln. Denn was tut Thunberg? [Achtung: Spoilergefahr – zumindest für die Leser, die sich nun noch ein kleines bisschen Spannung von „Das Band der Kamelie“ erwarten.] Er geht halt mal eben in eine Baumschule und kauft vier Kamelien. Punkt.

Vielleicht ist „Das Band der Kamelie“ für das japanische Publikum interessanter, weil durch die zahlreichen Exkurse viele Daten aus der europäischen Geschichte mit eingeflochten werden. Mich hat das Werk aber leider kaum begeistert.

Wer aber nun Lust hat, einen Blick auf Thunbergs Kamelie zu werfen, die nach über zwei Jahrhunderten immer noch im Pillnitzer Schlossgarten steht, der möge diesem Link folgen.

Bibliographische Angaben:
Karato, Tadashi: „Das Band der Kamelie“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Broswitz, Ellen), Königshausen & Neumann, Würzburg 2015, ISBN 978-3-8260-5695-6

Sonntag, 29. März 2015

Tadashi Karato

Eine kleine Vorbemerkung: Da ich mir einige Daten zu Tadashi Karato mit Google Translate aus dem Japanischen übersetzen habe lassen, muss ich mir zur Biographie des Autors Irrtümer leider vorbehalten.

Tadashi Karato wurde 1949 in Tokio geboren. Durch ein Sankei-Stipendium kam er im Jahr 1971 nach Deutschland. Nach einem Deutsch-Kurs am Goethe-Institut in Schwäbisch Hall ging er nach Stuttgart, um dort Architektur zu studieren. Tadashi Karato führte sein Studium schließlich an der Waseda-Universität fort.

Er arbeitete 35 Jahre bis zu seiner Pensionierung in dem japanischen Baukonzern Shimizu und wurde aus beruflichen Gründen oftmals auf Baustellen ins (europäische) Ausland geschickt.

1977 heiratete Tadashi Karato die Schrobenhauserin Susanne Kirchner, mit der er drei Kinder hat und in Tokio lebt. Zusammen führt das Ehepaar das Café Kranz in Tokio.

Tadashi Karato hat in Japan drei Bücher veröffentlicht und „Tsushima“ von Frank Thiess ins Japanische übersetzt.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Novellen und hier rezensiert:

Samstag, 28. März 2015

„Kagero Nikki – Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980“ von Michitsuna no Haha Fujiwara

Michitsuna no Haha Fujiwara (aka Kagero) gibt mit dem „Kagero Niki“ einen Einblick in ihr Leben als Nebenfrau des Politikers Kaneie Fujiwara, das primär von Warten geprägt ist. Sie ist permanent in Angst, von ihrem Mann fallen gelassen zu werden. Dieser provoziert sie, belügt sie, versetzt sie und verletzt sie. Als Leser kommt man nicht umhin, gedanklich aus Kaneie eine Kanaille zu machen. Da die Tage der Edelfrau recht eintönig verlaufen, spiegelt sich die Langeweile auch im Text wieder.

Die ersten beiden Teile ihrer Aufzeichnungen erfolgen in einer Rückschau; der dritte Teil erscheint mehr wie ein Tagebuch. Sie beginnen im Jahr 954, als Kaneie mit Gedichten um Kagero wirbt. Doch kaum wird Kaneie von seiner Angebeteten erhört, scheint sein Interesse an ihr bereits wieder zu schwinden. Er hält sich primär bei einer anderen Nebenfrau auf, die er aber auch alsbald wieder fallen lässt. So konkurriert Kagero nicht nur mit Tokohime, Kaneies Hauptfrau, sondern mit diversen weiteren Nebenfrauen. Sie wartet stets darauf, dass er sie doch bitte besuchen komme, doch meist hält er sie mit allerlei Ausreden hin. So verhungert sie an seinem ausgestreckten Arm. Vor Verzweiflung spielt sie mit dem Gedanken, buddhistische Nonne zu werden und sich vom Diesseits abzuwenden. Doch schließlich ändert sie ihre Prioritäten: Sie widmet sich mehr ihrem leiblichen Sohn und ihrer adoptierten Tochter. Als sie in ein anderes Haus zieht, ohne Kaneie Bescheid zu sagen, kommt es schlussendlich zum Bruch zwischen dem Ehepaar. Die Aufzeichnungen enden schließlich im Jahr 974.

Da Kagero die Beschreibung ihres Alltags aus dem Selbstverständnis der Zeit heraus vornimmt, wird nicht detailliert auf die Bräuche und Gepflogenheiten eingegangen. Diese sind ja für ihre Zeitgenossen selbstverständlich. Der heutige Leser ist auf die Anmerkungen und das Nachwort angewiesen. Erstaunlich war für mich, wie intensiv der Alltag durch Weissagungen geprägt war. Dann und dann hat man enthaltsam zu leben, dann und dann hat man diese oder jene Himmelsrichtung zu meiden. Für einen Mann wie Kaneie, der mit mehreren Frauen jonglieren muss, sind das freilich hervorragende Ausreden, um sich nicht blicken lassen zu müssen.

Gleich zu Beginn legt Kagero ihre Motivationen für ihre Aufzeichnungen dar: Sie ist eine Frau, die in den Tag hinein lebt. Sie liest

„in alten Geschichten, wie sie unter den Leuten verbreitet waren, Geschichten von hergebrachten Lügen, die man gewissenlos so hingeschrieben hatte.“ (S. 7)

Ihr Anspruch ist es, ein realistisches Bild des Lebens als Nebenfrau eines treulosen Adligen zu zeichnen. So kritisiert sie die sozialen Umstände – und das „Kagero Nikki“ mag so als erstes emanzipatorisches Werk Japans gelten.

Aus dem Nachwort erfährt man, dass Kageros Originaltagebuch wohl während den Großen Wirren verloren gegangen ist. Doch da mehrere Abschriften existierten, konnte es im 17. Jahrhundert rekonstruiert werden.

Da Kagero zunächst vor allem für ihre Gedichte Berühmtheit erlangt hatte, soll hier zumindest eines, das sie an Kaneie sandte, zitiert werden:

„Du wolltest lösen
in nichts wie Morgentau dich?
Leichtsinnige ich,
der wandelbarsten Seele,
der flüchtigsten zu vertraun!“
(S. 12)

Hätte sie zu Beginn ihrer Affäre mit Kaneie doch nur auf ihr Gefühl gehört…

Bibliographische Angaben:
Fujiwara, Mitchitsuna no Haha: „Kagero Nikki – Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980“ (Übersetzung aus dem Altjapanischen: Tsukakoshi, Satoshi), Ullstein, Frankfurt/Berlin/Wien 1981, ISBN 3-548-30115-0

Freitag, 27. März 2015

Michitsuna no Haha Fujiwara

Leider ist der wahre Name der Michitsuna no Haha Fujiwara, der Mutter (Haha) des Michitsuna Fujiwara nicht überliefert. So muss man sich mit diesem Notnamen begnügen – oder man nennt sie Kagero, abgeleitet von ihren Aufzeichnungen des „Kagero Nikki“. Vermutlich lebte sie zwischen 935 und 995 in Heian, dem späteren Kioto. Im Jahr 954 wurde sie als 19-jährige die Nebenfrau des späteren Regenten Kaneie Fujiwara. Ein Jahr später wurde der gemeinsame Sohn Michitsuna geboren; später adoptierte Kagero eine von Kaneies Töchtern, die er mit einer anderen Nebenfrau gezeugt hatte.

Kagero konkurrierte nicht nur mit Kaneies Hauptfrau Tokihime, sondern mit zahlreichen weiteren Nebenfrauen. Sie litt ständig unter der Angst, von ihrem Mann verlassen zu werden. Im Jahr 971 lebte sie für eine Weile zurückgezogen und zusammen mit ihrem Sohn in einem Tempel am Berg Nishiyama. Kaneie holte sie nach Heian zurück. Als sie jedoch in eine Gegend zog, die sie als Hirohata benennt, trennte sich ihr Mann schließlich von ihr.

Für den Namen Kagero gibt es zwei Deutungsmöglichkeiten: Die eine lautet Eintagsfliege, die zweite Sommerfäden (im Altweibersommer)/Flimmern in der Luft. Egal welche Variante man präferiert – die Vergänglichkeit liegt beiden zu Grunde.

Kagero zählte zu den drei großen Schönheiten ihrer Zeit und gilt als eine der 36 unsterblichen der Dichtkunst des Mittelalters und als eine der 36 weiblichen Unsterblichen der Dichtkunst. Ihr Tagebuch „Kagero Nikki“ ist eines der ältesten erhalten gebliebenen Frauentagebücher und gilt als ein Vorläufer des japanischen Ich-Romans.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Werke und hier rezensiert:

Donnerstag, 26. März 2015

„Erkundungen – 19 japanische Erzähler“ herausgegeben von Marianne Bretschneider & Heinz Haase

19 Erzählungen und Kurzgeschichten japanischer Autoren haben Marianne Bretschneider und Heinz Haase in ihren „Erkundungen“ versammelt. Es scheint, als ob ein großes Augenmerk darauf gelegt worden zu sein, besonders viele weibliche Schriftstellerinnen vorzustellen. Werke von elf Autorinnen und acht Autoren lassen sich in der Anthologie finden.

Wie der Titel schon impliziert – in Fumiko Enchis „Ahorn im Winter“ geht es um das Altern. Die Schauspielerin Yoko ist genauso wie ihr langjähriger Bühnenkollege Fujiki in die Jahre gekommen. Früher hatten die beiden verliebte Paare gemimt. Yoko kommen nun die Rollen der Mütter erwachsener Töchter zu. Fujiki kann sich immer noch als Liebhaber auf den Bühnen präsentieren. Auch im realen Leben sind die Voraussetzungen für das jeweilige Liebesleben der beiden aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit sehr unterschiedlich.

Autobiographisch wird es in Chiyo Unos „Glück“: Zunächst glaubt sich der Leser mit einer fiktiven Protagonistin namens Kazue konfrontiert. Doch nach und nach tun sich immer mehr Parallelen zum eher sprunghaften Leben der Autorin auf: Die vielen Ehen, die vielen Häuser, die Nonchalance, alles sofort hinter sich zu lassen, nichts und niemandem nachzutrauern und sich dabei ein bisschen selbst zu betrügen, alles als natürlich hinzunehmen und dabei Glück zu empfinden.

Ziemlich verzwickt ist die Beziehung der über 50-jährigen Schwestern Tomoko und Takako in Taeko Tomiokas „Heirat“. Die beiden Damen leben nun schon seit Jahrzehnten zusammen in einem Haus, das immer baufälliger wird. Tomoko verfällt plötzlich auf die Idee, doch noch zu heiraten; lieber jetzt als gleich möchte sie endlich die familiären Bande hinter sich lassen und ganz schnell eine Ehe über eine Heiratsvermittlerin eingehen. Takako dagegen wurde vor Jahren von ihrem Ehemann verlassen und wollte sich bisher nicht scheiden lassen. Tomokos Entschluss lässt sie ins Wanken bringen und beschwört Erinnerungen an ihre eigene, ziemlich seltsame Eheanbahnung herauf.

In „Ein unterhaltsamer Spaziergang“ von Takao Nakatani wandern die älteren Herren Fukami und Kono mit dem jüngeren Nishida zu einem Tempel. Dabei unterhalten sie sich über ihre Einstellung zu Tod, Religion und über ihren gemeinsamen Bekannten, den verstorbenen Yasuda. Die Erzählung hätte wohl am ehesten ein, zwei Anmerkungen seitens der Herausgeber verdient, weil man sich nicht so wirklich einen Reim darauf machen kann, ob die Figuren sich an existierende Personen anlehnen und wenn ja, welche konkrete Personen hinter den Charakteren stecken.

Der ehemalige Fernsehproduzent Akira Abe siedelt seine Erzählung „Freunde“ in seinem vertrauten Milieu an: Der Ich-Erzähler, Urashima und Hatori sind alle drei für einen Fernsehsender tätig und haben sich im Laufe der Jahre angefreundet. Hatori wird jedoch immer merkwürdiger und lässt sich immer öfter in eine Klinik einweisen. Während Hatori sich kuriert, begeht ein junger Kollege Selbstmord. Die Anteilnahme der Kollegen empfindet der Ich-Erzähler als Hohn:

„Meiner Meinung nach empfanden sie absolut nichts von der vorgetäuschten Anteilnahme; das war bloß Mache. Erstarrt man vor Leid, wenn ein Kollege stirbt? Lähmt einen der Tod eines anderen? Nein, denn man ist ja nicht schuld. Der Tote ist es, der alle anderen verhöhnt.“ (S. 94)

Die Grenzen verschwimmen in „Platonische Liebe“ von Mieko Kanai: Die Ich-Erzählerin, eine erfolgreiche Schriftstellerin, wird gewissermaßen gestalkt. Nach jeder Veröffentlichung erhält sie einen Brief mit unbekanntem Absender. Der Schreiber wirft ihr vor, sie hätte seine Werke plagiert. Der originäre Autor wäre er. Mitten in einer Schreibblockade rückt der Unbekannte näher und schon bald weiß die Ich-Erzählerin nicht mehr, ob sie oder der Fremde der wahre Autor ihrer Erzählungen ist. Damit beschreibt Mieko Kanai ein für sie typisches Thema.

„Sonnenlicht“  von Nobuo Kojima gibt Einblick in die Nachbarschaftsbeziehungen des Ich-Erzählers. In Briefform wendet er sich an Frau I., deren Ehemann, ein Dichter, vor einer Weile verstorben ist. Verschiedene Gedankenfetzen und Erinnerungen an Begegnungen mit Frau und Herrn I. werden hier aneinander gereiht. Auch hier wäre der eine oder andere Kommentar durch die Herausgeber grandios gewesen, um der Erzählung in Briefform mehr Verständnis abgewinnen zu können.

„Kiriko“ ist Minako Obas Protagonistin. Auf dem Heimweg begegnet sie Keiichiro und erzählt ihm von ihren Schuldgefühlen gegenüber ihrer verstorbenen Mutter. Denn Tragisches hat sich an den Klippen des Ortes zugetragen. Mit dem gemeinsamen Spaziergang mit Keiichiro kann Kiriko vielleicht eine Sache zu Ende führen, die ihrer Mutter zu Lebzeiten nicht gelungen war.

„Zur Berghütte“ von Kyoji Kobayashi sticht durch den unkonventionellen Erzählstil heraus. Verschachtelt und wiederholend werden Eindrücke und Gedanken eingestreut, die trotz alledem ein Ganzes bilden. Der Protagonist wacht nach einer versoffenen Nacht auf und begibt sich verkatert zu einer Berghütte. In diesen Rahmen werden Songtexte, Gebrauchsanweisungen, Dialoge dritter, aufgeschnappte Geschichten kurz angerissen und später erneut aufgenommen. Die fünf Passagen von „Zur Berghütte“ waren interessant zu lesen – danach war’s dann aber auch wieder gut.

Yasushi Inoue bezieht sich mit „Im Schatten des Berges Bandai“ auf ein wahres Ereignis: Im Jahr 1888 brach der Ko-Bandai Vulkan aus. Yasushi Inoue schickt seinen Protagonisten, einen Landschätzer, in das Gebiet des Vulkans. Bereits als er und seine Mitarbeiter einen Pass überqueren, orakelt eine verrückte Alte nichts Gutes. Vor Ort kommt es zu mehreren Erdstößen, doch zur Flucht können sich die Menschen im Gegensatz zu den Tieren nicht aufraffen. Das Unheil ist vorprogrammiert…

In Taeko Konos „Der Eisenfisch“ steckt ebenfalls ein historischer Kern: Als menschliche Torpedos wurden junge Männer im zweiten Weltkrieg als Kamikaze im U-Booten eingesetzt. So auch der Ehemann der Witwe, die sich nach Jahrzehnten zum „Heiligtum“ begibt, wo ihr Mann als Held verehrt wird. Die Beschreibungen der Witwe konterkarieren die Heldenverehrung. Bei ihr reißen alte Wunden auf, als sie einen beborgenen derartigen Eisenfisch zu Gesicht bekommt.

Takako Takahashis Ich-Erzählerin sitzt in einem Shinkansen und gibt sich Gedanken an den Prototyp des Mannes hin, der sie Zeit ihres Lebens immer wieder „In Versuchung“ geführt hat.

Rie Yoshiyukis „Im Brunnen die Sterne“ entstammt einem gleichnamigen Band mit Kurzgeschichten, den die Autorin dem Thema seelische Grausamkeit und den traumatisierenden Folgen gewidmet hat. Shoko ist die ältere von zwei Zwillingsschwestern. Während Shoko eher passiv ist, wirkt ihre jüngere Schwester eher wie ein spitzbübischer Junge. In ihren 20ern heiratet Shoko nach einem Omiai ohne jemals vorher verliebt gewesen zu sein. Ihre Schwester hingegen hat sich ausgetobt und findet mit ihrem Ehemann schließlich ein passendes Gegenstück. Die Schwester begleitet ihren Ehemann ins Ausland und bekommt daher kaum mit, wie Shoko von ihrer neuen Familie an der kurzen Leine gehalten wird und langsam zerbricht.

Ebenfalls um eine unglückliche Ehe geht es in „Ein Wiedersehen“ von Ayoko Sono: Kazuhiko erinnert sich, wie er sich nach einer unangenehm gewordenen Affäre in die Ehe mit seiner Frau Haruko geflüchtet hat. Haruko ist weder ansehnlich, noch lässt es sich mit ihr gut unterhalten. Ein kleines Vermögen, das Haruko mit in die Ehe bringt, ist das einzige, was für die Gattin spricht. Nach 19 Ehejahren stirbt Haruko an einem Krebsleiden. Kazuhiko, der sich oftmals mit Geliebten vergnügt hat, findet seine Gattin auf spezielle Weise im Diesseits wieder.

„Vorübergehende Unruhe“ von Yoshiko Shibaki ist ein Paradestück, wie sich Familienmitglieder über Geldthematiken verstreiten bzw. anbiedern können: Takako wird überraschend von einem Immobilienmakler aufgesucht, der ihr und ihrer Mutter einen stattlichen Betrag für ein Grundstück offeriert, das über den Tod von Takakos Vater in Vergessenheit geraten ist. Takakos Geschwister, die sich bisher kaum mehr für ihre Verwandten interessiert haben, wittern Geld und unterbreiten ungefragt ihre eigenen Vorstellungen.

„Die schweigenden Händler“ in Yuko Tsushimas Erzählung stehen sinnbildlich für Tiere, die Kindern als Vaterersatz dienen. Yuko Tsushima, selbst eine alleinerziehende Mutter, greift damit eine für sie typische Thematik auf. Die Ich-Erzählerin beginnt mit Erinnerungen an ihre Kindheit ohne Vater am Rikugien-Park; später zieht sie selbst als alleinerziehende Mutter erneut in die Nähe des Parks.

„Unterwegs mit Maya“ ist Toshio Shimaos Ich-Erzähler, der zusammen mit seiner kleinen Tochter Maya in die Stadt K. gekommen ist. Primär hat er Geschäftliches zu erledigen, doch er nutzt den Aufenthalt dazu, sich selbst gastroenterologisch und seine Tochter neurologisch untersuchen zu lassen. Maya tut sich schwer, mit ihrer Außenwelt zu kommunizieren und so hält der Aufenthalt in K. einige Qualen für sie bereit.

„Alte Freunde“ von Shusaku Endo erscheint wie ein sehr autobiographisches Werk: Der Ich-Erzähler ist gerade von einem Auslandsaufenthalt nach Japan zurückgekehrt, als er den Anruf eines alten Freunds aus Jugendtagen, der nun katholischer Priester ist, erhält. So wird der Wunsch an ihn herangetragen, doch bitte am Jahrestag seiner Priesterweihe mit anderen ehemaligen Kumpanen zusammen zu kommen.

Der Autor Takeshi Kaiko war ein Weltenbummler und so verwundert nicht, dass sich auch sein Ich-Erzähler in „Die zerriebene Kugel“ im Ausland herumtreibt. Eines Tages im Jahr 1966 wacht er in irgendeiner Hauptstadt auf und beschließt, dass es Zeit ist, nach Japan zurückzukehren. Die Flugroute führt ihn jedoch zuerst nach Hongkong und zu seinem alten Bekannten Zhang, mit dem er philosophische Gespräche führt. Während die beiden Männer sich über Abstraktes unterhalten, geschieht in der Welt der Literatur etwas ganz Konkretes: Der chinesische Autor Lao She wird tot aufgefunden. Ob er zu Tode geprügelt wurde oder Selbstmord beging ist bis heute nicht aufgeklärt.

„Erkundungen – 19 japanische Erzähler“ enthält zwar viele Erzählungen, jedoch wäre es mir lieber gewesen, wenn statt dieser Fülle etwas mehr Wert auf ergänzende Erklärungen gelegt worden wäre. Wenn man sich nicht ohnehin schon etwas mit den Autoren und Autorinnen beschäftigt hat, dann fehlen teilweise wichtige Hintergrundinformationen, die für die Deutung der Erzählungen nicht unwesentlich sind.

Bibliographische Angaben:
Bretschneider, Marianne & Haase, Heinz (Hrsg.): „Erkundungen – 19 japanische Erzähler“ (Übersetzung aus dem Japanischen bzw. Englischen: Haase, Heinz/Ito-Pokorny, Friedl/Naito, Michio/Pfeiffer, Sigrid/Rau, Edith/Rönsch, Rainer/Schlecht, Wolfgang E./Simon, Andreas/Stalph, Jürgen/Uhl, Christian und Yoshida-Krafft, Barbara), Volk & Welt, Berlin 1989, ISBN 3-353-00581-1

Samstag, 14. März 2015

Rie Yoshiyuki

Rie Yoshiyuki wurde 1939 in Tokio geboren. 1940 starb ihr Vater, der linke Dada-Autor Eisuke Yoshiyuki überraschend. Ihre Mutter Aguri zog ihre drei Kinder Junnosuke, der später ebenfalls Autor wurde, Kazuko, die eine Laufbahn als Schauspielerin einschlug, und Rie allein auf und sorgte als Kosmetikerin für ein Auskommen.

Rie Yoshiyuki studierte japanische Literatur an der Waseda-Universität und machte 1962 ihr Examen. Während ihres Studiums begann sie, Gedichte zu schreiben. Es folgten Erzählungen, Essays, Kindergeschichten, Romane und Märchen. Unter anderem erhielt sie den Noma-Kinderliteraturpreis und den Akutagawa-Preis.

2006 starb Rie Yoshiyuki an Schilddrüsenkrebs.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Erzählungen und hier rezensiert:

Freitag, 13. März 2015

„Der Gast im Garten“ von Takashi Hiraide

Ende der 80er bezieht der Ich-Erzähler, hinter dem niemand anderes als der Autor Takashi Hiraide selbst steht, zusammen mit seiner Ehefrau ein Gartenhaus in der Blitzgasse. Die Blitzgasse, die sicherlich einen anderen offiziellen Namen trägt, wird so wegen ihrer Form, die an einen Blitz erinnert, genannt. Für das Ehepaar ist es ein Neuanfang: Ausgelaugt fliehen sie aus Tokio in das ruhige Gartenhaus in einem Vorort. Hier kommt der Ich-Erzähler zu einem wegweisenden Entschluss: Seinen eintönigen, unbefriedigenden Job als Lektor möchte er an den Nagel hängen und sich künftig ganz dem Schreiben eigener Werke widmen.

Bald gehört zu dem kleinen Haushalt auch die Katze Chibi aka Glöckchen wie natürlich dazu. Eigentlich hatte der Nachbarsjunge die Streunerin als seine Katze aufgenommen. Doch Chibi ist ganz Katze und sucht sich ihre Besitzer lieber selbst aus. Mit der exzentrischen Chibi wirken das Gartenhaus und damit die kinderlose Familie endlich komplett.

Doch nichts bleibt ewig wie es ist: Das Schicksal kann niemand beeinflussen; man muss es nehmen, wie es kommt. Da der nebenan wohnende Besitzer des Gartenhauses immer kränker wird, zieht er zusammen mit seiner Ehefrau in ein Altersheim. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Anwesen verkauft wird und die schöne Zeit im Gartenhaus zusammen mit Chibi endet.

In 29 Kapitelchen erzählt Takashi Hiraide mit „Der Gast im Garten“ einen Ich-Roman, der auf wahren Tatsachen beruht. Und auch wenn Chibi einen großen Anteil am Geschehen hat, ist das Werk nicht nur ein Roman für Katzenliebhaber. Denn allerlei Momentaufnahmen sorgen für schöne Eindrücke ganz Abseits von Chibis Existenz: Da ist zum Beispiel die Begegnung mit der Silberlibelle, der der Ich-Erzähler beim Wässern des Gartens zu trinken gibt. Oder die Entdeckung eines Astlochs im Zaun, das als Camera obscura die Geschehnisse hinterhalb des Zauns aufs Küchenfenster projiziert.

Takashi Hiraide, dessen literarische Anfänge im Dichten liegen, gelingt es mit wenigen Worten, zauberhafte Stimmungen heraufzubeschwören. Illustrationen von Quint Buchholz verstärken den luftigen Charakter von „Der Gast im Garten“ zudem.

Sicherlich ist das Thema der Flüchtigkeit des Daseins speziell in der japanischen Literatur kein Untypisches, aber in „Der Gast im Garten“ wird das Sujet so sachte und geradezu spielerisch aufgenommen, dass der knapp 130 Seiten umfassende Roman ein wunderschönes, zart-bitteres Gefühl hinterlässt.

Bibliographische Angaben:
Hiraide, Takashi: „Der Gast im Garten“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Insel, Berlin 2015, ISBN: 978-3-458-17626-8

Donnerstag, 12. März 2015

Takashi Hiraide

Der Autor und Dichter Takashi Hiraide wurde im Jahr 1950 in Moji, Kitakyushu geboren. Nach dem Abschluss seines Studiums an der Hitotsubashi-Universität von Tokio im Jahr 1976 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Zunächst verdingte er sich als Verlagslektor, bevor er sich Vollzeit dem Schreiben widmete. Takashi Hiraide veröffentlichte neben Gedichten auch Essays und Romane. Seine Passion, das Baseball-Spiel, wird hier oftmals thematisiert. Takashi Hiraide gilt als Ziehsohn von Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, der voll des Lobes für den Autor ist.

Im Jahr 1990 begann Takashi Hiraide an der Tama Universität zu unterrichten; zwischenzeitlich ist er dort als Professor tätig. Er lebt mit seiner Ehefrau, der Dichterin Michiyo Kawano, in Tokio.

Takashi Hiraides Roman „Der Gast im Garten“ avancierte in den USA, im UK und in Frankreich zu einem überraschenden Bestseller. Veröffentlichungen in weiteren Sprachen sind geplant.

Interessante Links:

Ins Deutsche übersetzte Romane und hier rezensiert:

Montag, 9. März 2015

Interview mit Banana Yoshimoto zu ihrem Viertel Shimokitazawa und ihrem Roman „Moshi Moshi"

Yae Onoda interviewte die Autorin Banana Yoshimoto im Herbst 2011 zum Roman „Moshi Moshi",der zum Großteil im Tokioter Stadtteil Shimokitazawa spielt. Der Abdruck erfolgte in der Shimokitazawa-Wirtschaftszeitung am 01. November 2011; Thomas Eggenberger übertrug das Interview ins Deutsche (© by Diogenes Verlag AG Zürich).

In „Moshi Moshi" beschreibt Banana Yoshimoto ihr Viertel Shimokitazawa - doch nichts währt für die Ewigkeit; auch Shimokitazawa unterliegt peramanenter Veränderung: Alte Häuser werden abgerissen, neue entstehen. Altbewährtes verschwindet und Handelsketten halten Einzug. Ein Phänomen, das auch die Stadtbilder in Deutschland prägt.

Doch nun zum Interview von Yae Onoda - herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für die Erlaubnis der Veröffentlichung!

YO: Frau Yoshimoto, wie sind Sie auf die Idee gekommen, über Shimokitazawa zu schreiben?

BY: Ich wollte die Atmosphäre von Shimokitazawa, die Stimmung dieses Ortes aufheben und bewahren. In den letzten Jahren hat sich Shimokitazawa rasend schnell verändert. Das beunruhigt mich schon.

Das Stadtviertel Shimokitazawa bei Nacht
(Creative Commons-Lizenz; Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: Das französische Bistro „Les Liens“, in dem die Protagonistin Yotchan arbeitet, gab es tatsächlich. Ende 2008 wurde es geschlossen. Ich nehme an, Sie wollten auch das Bistro in ihrem Buch verewigen?

BY: Als ich hörte, dass „Les Liens“ zumachen würde, war das wie ein Schock für mich. Ich dachte: Dieses Bistro musst du in irgendeiner Form retten! Wenn Sie in Paris sind und irgendwo übernachten, werden Sie nicht weit vom Hotel garantiert ein Bistro finden. „Les Liens“ hatte diese Atmosphäre, es fühlte sich wirklich an, als wären Sie in Paris. Etwa fünf Mal pro Woche bin ich da hingegangen. Das Bistro ist jetzt nach Hatagaya umgezogen und das Angebot von Menus usw. ist immer noch gleich. Insofern bin ich erleichtert. Aber ob ich da einfach zu Fuß hingehen kann oder ins Auto steigen muss, ist halt doch ein Unterschied, leider.

YO: Im Buch erscheinen auch viele andere kleine Lokale, die es in Wirklichkeit gibt oder gegeben hat. Sind das alles Orte, die Ihnen ans Herz gewachsen sind?

BY: Die meisten, ja. Es kommen aber auch welche vor, die ich nicht besonders gut kenne. Ich wollte möglichst nur Lokale in den Roman aufnehmen, deren Besitzerinnen und Besitzer damit einverstanden waren.

Café im Stadtviertel Shimokitazawa
(Creative Commons-Lizenz; Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: Wenn Sie während der Arbeit am Roman durch Shimokitazawa gegangen sind, was haben Sie dabei empfunden?

BY: Dass es immer mehr Kettenläden gibt. Und dass dem Viertel als Ganzes ein gewisses Gemeinschaftsgefühl abhandengekommen ist. Jeder mag seine individuellen Gründe haben, warum er hier lebt; aber was es früher mehr gab - den Willen, an einem Strang zu ziehen, etwas aufzubauen, das allen zugutekommt -, ist durch verschiedenste eigennützige Interessen durcheinandergeraten. Shimokitazawa zerfällt.

YO: Es gibt aber auch Leute, die sagen, dass dieses Tohuwabohu, dieses Durcheinander von allem Erdenklichen, mit ein Grund ist für den Charme von Shimokitazawa.

BY: Sicher, nichts gegen das Durcheinander an sich. Aber es sollte eine gemeinsame Vorstellung davon geben, was gut ist für Shimokitazawa und was nicht. In anderen Stadtvierteln von Tōkyō gibt es Bürgerbewegungen, die sich dafür einsetzen, dass keine Pachinko-Spielhöllen dorthin kommen. In Kyōto darf kein Gebäude gebaut werden, das mehr als soundso viele Stockwerke hat. Wenn die Bewohner gemeinsam gewisse Regeln bestimmen, die auch eingehalten werden, ansonsten aber alle tun und lassen können, was sie wollen, wächst etwas zusammen. Man kann sich mit dem Ort identifizieren, fühlt sich wie zu Hause. Ein Durcheinander im positiven Sinne, kunterbunt und charmant.

Das Stadtviertel Shimokitazawa bei Nacht
(Creative Commons-Lizenz; Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: Yotchan und ihre Mutter kommen in Trauer nach Shimokitazawa, sie tun ihr Bestes, um Fuß zu fassen und langsam wieder Freude am Leben zu gewinnen. Wie das Essen ihnen dabei hilft – all diese Szenen und Beschreibungen rund um das Kulinarische fand ich sehr eindrücklich.

BY: Ohne Essen können wir nun mal nicht leben. Durch den Doppelselbstmord des Vaters mit einer wildfremden Frau, durch diesen schockierenden, unerwarteten Verlust verlieren Yotchan und ihre Mutter auch ihren Appetit; aber nach und nach kehrt der Lebenswille zurück und mit ihm die Lust am Essen. Und das Essen wiederum stimuliert die Lebensfreude... Den elementaren Zusammenhang von Essen und Leben – das wollte ich deutlich machen.

YO: Die beiden suchen in Shimokitazawa viele Restaurants und Cafés auf. Beim Lesen hat man das Gefühl, als würden sie sich durch das Essen und Trinken immer mehr mit Shimokitazawa verbunden fühlen.

BY: Nein, es kommen zwar viele Lokale vor, aber im Roman ist es eher so, dass Mutter und Tochter selber kochen. Sie essen irgendwo was Kleines oder gehen nach der Arbeit etwas trinken, aber richtig auswärts essen tun sie eigentlich nicht sehr oft.

Graffiti in Shimokitazawa
(Creative Commons-Lizenz; Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: Dennoch hatte ich den Eindruck, dass durch das Essen in den verschiedenen Lokalen ihre Beziehung zu Shimokitazawa tiefer und intensiver wird.

BY: Ich denke, weniger durch das Essen als einfach durchs Dasein in diesen Lokalen. Dort lernen sie verschiedene Leute kennen, kommen ihnen näher. Wenn Sie mit den Menschen eines Ortes keine gemeinsame Geschichte haben, bleibt Ihnen der Ort mehr oder weniger fremd. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Das Haus, in dem ich früher gewohnt habe, lag an einer großen Straße. Um in ein belebtes Viertel zu kommen, musste man erst über diese Straße. Das Warten an der Ampel dauerte furchtbar lange, und irgendwann hatte ich es satt. Mit diesem Ort verknüpfe ich kaum positive Gedanken und Erinnerungen. Die Freunde aus jener Zeit, mit denen ich noch Kontakt habe, kann ich an einer Hand abzählen. Hier in Shimokitazawa ist das ganz anders. Man lernt relativ schnell und leicht Leute kennen, es geschieht wie von selbst. Das schafft Verbundenheit, gibt einem das Gefühl, als Mensch wahrgenommen zu werden. So wächst auch die Bereitschaft, Menschen in Not, wenn nötig, zu helfen, sich solidarisch zu zeigen. Aber tiefe Freundschaften entwickeln sich auch in Shimokitazawa nicht von heute auf morgen. Etwa drei Jahre dauert es schon.

Das Stadtviertel Shimokitazawa bei Nacht
(Creative Commons-Lizenz; Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: In Ihren Augen hat Shimokitazawa für das Gedeihen zwischenmenschlicher Beziehungen eine ideale Größe... Wie am Anfang erwähnt, blicken Sie mit Sorge auf den schnellen Wandel dieses Viertels. In ländlichen Gegenden ist es schon eine große Sache, wenn ein einziges Haus, das lange dagestanden hat, verschwindet; in Shimokitazawa geschieht das jeden Tag.

BY: „Das kann doch nicht sein!“, denkst du dir, aber es ist wirklich so. Von einem Tag auf den andern verschwinden alte, vertraute Häuser, und es stehen neue da. Ich habe noch Erinnerungen an Shimokitazawa aus meiner Kindheit, als wir manchmal hierhergekommen sind. Das Gesicht dieses Viertels hat sich in all den Jahren total verändert. Das ist der Lauf der Welt. Den können wir nicht aufhalten. Aber in meinen Erinnerungen ist das Vergangene aufgehoben, das genügt mir eigentlich... Was, wenn ich morgen sterbe? Ich könnte sagen: „Dann verschwindet alles mit mir.“ Aber ich glaube, so ist es auch wieder nicht. Was gewesen ist, ist gewesen, es bleibt in irgendeiner Form bestehen.

YO: Das eigene Erinnern als Mittel, um der steten Veränderung, dem Gefühl von Verlust zu begegnen...

BY: Ja, „Les Liens“ ist zwar aus Shimokitazawa weggezogen, aber ich erinnere mich sehr gut und in großer Dankbarkeit an die Zeit, die ich dort verbracht habe. Es hat mir viel bedeutet, es war schön... Aber die Zeit vergeht, die Stadt verändert sich, es ist alles im Fluss.

Der Bahnhof von Shimokitazawa
(Creative Commons-Lizenz;
Photocredit: Guwashi999/flickr)
YO: Auch in Zukunft wird sich Shimokitazawa weiter verändern. Wie stehen Sie dazu? Bereiten Sie sich innerlich auf etwas vor?

BY: Nein, gar nicht. Im Gegenteil: Wenn es ein neues Bahnhofsgebäude gäbe, würde ich mich wahrscheinlich sogar freuen. (Lacht)

YO: Und wenn ich sehen würde, wie Sie dort fröhlich einkaufen, wäre ich sicher überrascht.

BY: (Lacht) Wenn ich einmal hingehen und denken würde: „Ach nein, wie schrecklich!“, müsste ich mir wohl überlegen, ob es sich noch lohnt, in Shimokitazawa zu bleiben. Aber ich werde versuchen, immer das Gute zu sehen und es auf meine Art zu bewahren.

YO: Frau Yoshimoto, ich danke Ihnen für das Gespräch.

„Pflaumenblüten in der Nacht“ von Masuji Ibuse

Den in verschiedenen Anthologien verteilten Erzählungen von Masuji Ibuse konnte ich bisher – leider – nicht allzu viel abgewinnen. Mit „Pflaumenblüten in der Nacht“ hat sich meine Wertschätzung für die Erzählungen des Autors jedoch um einiges erhöht. Erst nach der Lektüre des Bandes ist mir spät, aber immerhin, die Qualität der Erzählkunst des Literaten bewusst geworden. In den vorliegenden Erzählungen werden Stimmungen geschaffen, die den Leser regelrecht in die Handlungen einsaugen, die nicht selten in einem amüsiert-ironischen Ton dargelegt werden und hie und da Sozialkritik enthalten.

Der Band beginnt mit „Der Salamander“, einer Erzählung, die laut des Nachworts von Jürgen Berndt in viele Schulbücher aufgenommen wurde. Jürgen Berndt zitiert Osamu Dazais Kommentar zu „Der Salamander“:

„Als ich ‚Der Salamander’ las [, …] wurde ich so aufgeregt, dass ich nicht mehr stillsitzen konnte.“ (S. 235)

Die 1923 entstandene Erzählung handelt von einem Salamander, dessen Kopfumfang zu groß geworden ist, um aus seiner Höhle herausschlüpfen zu können. Er sitzt im wahrsten Sinne des Wortes fest. Der Salamander schwankt zwischen Wut und Resignation. Als sich ein Frosch in seine Höhle verirrt, verwehrt er ihm kurzer Hand die Rückkehr in die Freiheit. Vor dem Hintergrund der staatlichen Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der damit einhergehenden Stimmung in Japan, lässt sich Osamu Dazais Kommentar zu „Der Salamander“ einordnen.

In der autobiographisch angehauchten Kurzgeschichte „Der Karpfen“ bekommt der Ich-Erzähler einen Karpfen geschenkt. Er verspricht seinem Kumpan, der ihm dieses Geschenk macht, den Karpfen nicht zu töten. Und so kümmert sich der Ich-Erzähler um den Karpfen, selbst als sein Freund gestorben ist.

Die Erzählung „Pflaumenblüten in der Nacht“ schlägt eine Tonalität an, die man Osamu Dazai zugeschreiben könnte. Der Ich-Erzähler ist ein Boheme; natürlich immer knapp bei Kasse und recht unvernünftig, was seine Ausgaben betrifft. Eines Abends trifft er auf einen Kerl, der sich gerade geprügelt hat. Der blutende Tunichtgut hat Angst um seinen Job und versucht den Ich-Erzähler zu überzeugen, bei der Polizei eine Falschaussage zu machen, um seinem Arbeitgeber glaubhaft zu versichern, er sei Opfer widriger Umstände geworden. Doch der Ich-Erzähler überzeugt ihn, dem Vorgesetzten eine Ausrede aufzutischen. Als Dank erhält er 10 Yen, die er aber zurückgeben will. Doch wie es so kommt: Die 10 Yen sind schneller verbraucht als gedacht. Und so lebt der Ich-Erzähler in permanenter Angst, der Prügelknabe könnte nun ihn verprügeln kommen.

„Sawan auf dem Dach“ ist eine wehmütige Geschichte über eine Wildgans, deren gestutzte Federn sie am Fliegen hindern. Wie eine Katze wird sie vom Ich-Erzähler gehalten. Doch sobald andere freie Wildgänse in Sawans Nähe kommen, beginnt Sawan herzergreifend zu klagen.

„Zu Hause bei Herrn Tange“, „Die Pilgerherberge“, „Heute keine Sprechstunde“ und „Opa Stiertiger“ wirken dagegen eher wie Milieustudien. Herr Tange lebt auf dem Land und hat einen gar unnützen Diener, der ihm als Kind regelrecht zugelaufen kam.

„Die Pilgerherberge“ hat sich über die Jahre zu einem Asyl entwickelt: Mädchen werden hier gerne ausgesetzt und wachsen in der Herberge ohne Eltern auf.

„Heute keine Sprechstunde“ ist die längste Erzählung des Bandes. Hier wird das Leben und Wirken eines Frauenarztes im Tokio der Nachkriegszeit illustriert. Da gibt es einerseits die hochgestellten Damen, die sich vom Arzt hofieren lassen, andererseits die Patienten, die für die Behandlungskosten nicht aufkommen können. Da büchst schon mal der eine oder andere Kranke aus, um die Zahlung zu prellen. Und wenn’s ganz blöd läuft, stirbt ein Patient lieber, als sich behandeln zu lassen.

„Opa Stiertiger“ ist ein Auslaufmodell, wenn auch ein besonders erfolgreiches: Für seine Zuchtbullen wird er mehrfach ausgezeichnet, geht aber trotz seines hohen Alters weiter mit seinen drei Bullen auf Tour durch die Dörfer, um für die Besamung von Kühen Geld zu verdienen.

Besonders im Kopf hängen bleibt die Erzählung „Ehrerbietung aus der Ferne“: Yuichi ist nicht mehr ganz richtig im Kopf, seit er eine Kriegsverletzung erlitten hat. Selbst als der Krieg zu Ende ist, glaubt er sich als General an der Front. So drangsaliert er die jungen Männer seines Dorfes, sobald er wieder einen Anfall hat und der Meinung ist, ein Angriff stehe kurz bevor. Erst als einer seiner Untergebenen einem Dorfbewohner die Geschichte von Yukichis Verletzung verrät, wird bekannt, weswegen sich der Kerl so am Kopf gestoßen hat, dass er von seiner Mutter eingesperrt wird, sobald er einen Anfall bekommt.

„Der Autobus“ lässt das alte Militärregime in Form eines diktatorischen Busfahrers und die neue Generation von jungen Nonkonformisten in Form eines frischgebackenen Ehepaars aufeinandertreffen. Da wird sich der eine oder andere eine blutige Nase holen…

Zurück ins 17. Jahrhundert geht es in „Yosaku der Siedler“. Zum Zweck der Urbarmachung der Senyo-Heide versucht die Regierung Siedlern das unfruchtbare Land schmackhaft zu machen. Es kommt, wie’s kommen muss: Allerlei Gschwerl lässt sich nieder und so ist’s kein Wunder, dass das heilige Steingrab in der Gegend für ganz profane Dinge herhalten muss: Hier lagern die Bauern ihre Vorräte und der eine oder andere Siedler trifft sich dort zum karteln. Diese Blasphemie muss von den Autoritäten geahndet werden – und so kommt Yosaku auf den Schirm der Polizei.

„Das Soldatenlied ‚Alte Kameraden’“ nimmt den Leser mit auf die Iojima, auf der die letzten Tages des Pazifikkriegs angebrochen sind. Okuyama ist Teil der Besatzung eines Nachschubfrachters und schildert in der Rückschau die letzte Begegnung mit einem dem Tode geweihten Oberst.

Bibliographische Angaben:
Ibuse, Masuji: „Pflaumenblüten in der Nacht“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bernd, Jürgen), Insel, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-458-16705-6

Sonntag, 8. März 2015

„Weg zu Japan“ von Hisako Matsubara

Mit „Weg zu Japan“ versucht Hisako Matsubara einen Einblick in die japanische Mentalität und ins japanische Denken zu geben. Die Autorin steigt ein mit der Bambusweisheit, die den Japanern oft schon den Vorwurf der Verlogenheit eingebracht haben mag:

„Biegsam sein und sich unter dem Ansturm einer Gefahr neigen, ist eine alte Weisheit. Sie ist aus der Erfahrung mit der Natur erwachsen. Sie ist japanische Volksweisheit. Sie ist ein Stück Volksschläue. Was nützt es, wenn man trotzig aufrecht steht und dann bricht? Viel besser ist es, biegsam zu sein und seine Stärke für die Zeit nach dem Sturm zu bewahren. Das ist die Bambusweisheit.“ (S. 12f.)

Europäer reagieren in zwischenmenschlichen Konflikten mit Aggression, während Japaner mit Sanftheit reagieren. So wirken die Kommunikationsmechanismen wie die von Hund und Katze – Missverständnisse sind vorprogrammiert.

Hisako Matsubara versteht es darüber hinaus, wesentliche Geschehnisse in Japans Geschichte spannend nachzuerzählen: Sie beginnt mit den Großen Wirren, als im 16. Jahrhundert der Ashikaga-Clan in Erbstreitigkeiten lag, und denen Oda Nobunaga ein Ende setzte. Hisako Matsubara porträtiert den großen Feldherrn sehr anschaulich: Um seine politischen Gegner zu täuschen, gab er sich

„als der verrückteste aller Daimyo, dumm und harmlos, als ein Pferdenarr, der ständig in seinem Gebiet herumritt, Nüsse kaute und Obstkerne spuckte.“ (S. 57)

Dank des unter Nobunaga entstehenden Leistungsprinzips konnte Toyotomi Hideyoshi zum nächsten großen Herrscher in Japan aufsteigen. Als Bauerssohn begann er seine Karriere als Nobunagas Schuhknecht und wurde schließlich Kampaku, der Regent Japans.

Über einen dritten großen Mann der japanischen Geschichte, Ieyasu Tokugawa, der das Geschlecht der Tokugawa-Shogune begründete, weiß Hisako Matsubara ebenfalls viel zu berichten, z.B.

„Er nahm sich viele Nebenfrauen, legte aber wenig Wert auf deren Abstammung, Bildung oder Schönheit. Ihm war es wichtiger, dass sie ihm viele Söhne gebaren. Weil man bei einer unverheirateten Frau nie ganz sicher sein kann, ob sie Kinder haben wird, nahm er am liebsten junge Witwen, die schon geboren hatten.“ (S. 144)

Zentralen Stellenwert haben in „Weg zu Japan“ vor allem die Entwicklungen, die die christlichen Missionare in Japan heraufbeschwörten. Heutzutage ist (hoffentlich) jedem bekannt, dass die Missionare nicht nur den Glauben verbreiten, sondern vor allem Machtinteressen wahren wollten. Hisako Matsubara zeigt diesbegzüglich einige interessante historische Fakten auf, wie z.B. dass für die ersten Märtyrer eigentlich ein weniger schmerzhafter Tod angedacht war, die Wahl auf die Kreuzigung aber auf Initiative der Jesuiten fiel. Schließlich sollte mit dem Tod der Hingerichteten ein langfristiges Zeichen für die Leidensfähigkeit der Kirishitan gesetzt werden. Bisher unbekannt war mir auch, dass die Portugiesen japanische Kinder zu tausenden als Sklaven nach Europa schafften – leider überlebten die wenigsten die Überfahrt. Geradezu grotesk liest sich, dass zeitweilig eine Art von Märtyrertourismus einsetzte: Immer mehr katholische Mönche setzten nach Japan über, nur um doch bitte hingerichtet zu werden und den Märtyrertod sterben zu dürfen. Kein Wunder, dass die Weißen den Japanern nicht geheuer waren – und schließlich der Weg in die Isolation eingeschlagen wurde.

Ein bisschen nervig wirkt das Buch jedoch an den Stellen, an denen Hisako Matsubara immer wieder darauf insistiert, dass Japan nicht so „rückständig“ war, wie es von Europa oft betrachtet wurde. Z.B. hatte Tokio bereits Mitte des 18. Jahrhunderts circa 1,5 Mio. Einwohner, während die europäischen Hauptstädte noch sehr viel kleiner waren. Ich hoffe auch an dieser Stelle, dass man heutzutage niemandem mehr erklären muss, dass Europa nicht der Nabel der Welt ist (naja... einige wirre Geister natürlich ausgenommen...). Sicherlich ist seit den 80er Jahren, als „Weg zu Japan“ erschien, einige Zeit vergangen und ich kann es mir eigentlich nicht erlauben, zu beurteilen, ob Hisako Matsubaras Aufklärungsarbeit damals noch nötig war. Aber aus heutiger Sicht wirkt die oftmalige Rechtfertigungshaltung der Autorin etwas anstrengend.

Nichtsdestotrotz: „Weg nach Japan“ bietet viel Hintergrundwissen zur japanischen Geschichte – insbesondere auch aus religiöser und wirtschaftlicher Sicht. Dabei ist das Werk anschaulich und kurzweilig verfasst, dass es zum großen Teil Spaß macht, sich mit den Fakten zu beschäftigen.

Bibliographische Angaben:
Matsubara, Hisako: „Weg zu Japan“, Albrecht Knaus, Hamburg 1983, ISBN 3-8135-0560-X