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Samstag, 15. Oktober 2011

„Wilde Schafsjagd“ von Haruki Murakami

Der namenlose Ich-Erzähler von „Wilde Schafsjagd“ ist der klassische Haruki Murakami-Protagonist: Der Idealismus der Jugendjahre ist längst verpufft und weicht einer gewissen depressiven Lethargie. Die Ehefrau hat die Nase voll und wünscht die Trennung. Der Alltag ist unaufregend und wenn die „Wilde Schafsjagd“ nicht ihren Lauf genommen hätte, dann

„säße ich jetzt garantiert irgendwo in einer Bar, äße ein Omelette und tränke Whiskey dazu. Die richtige Jahreszeit, um zur rechten Stunde an einem soliden, aus einem Stamm gehauenen Tresen zu hocken, abends nach dem Regen, Whiskey mit frisch vom Block gehacktem Eis, Stunden, in denen die Zeit gemächlich fließt wie ein stiller Strom.“ (S. 251)

Als der Ich-Erzähler aber ein Schaf-Foto, das er von seinem verschollenen Freund Ratte erhalten hat, veröffentlicht, gerät er unversehens ins „Bandwurmuniversum“, in dem Verhalten und Kausalität einer anderen Logik unterworfen sind. Denn das Foto zeigt das geheimnis- und machtvolle Schaf, das einen Politiker eine gewaltige Organisation aufbauen hat lassen, indem es ihn als sein Werkzeug missbraucht hat. Seitdem das Schaf den Politiker verlassen hat, liegt er im Sterben. Dessen Assistent, ein gefährlich und unangenehm wirkender, schwarz gekleideter Mann, will den Ich-Erzähler zwingen, das Schaf für ihn ausfindig zu machen.

Doch der Protagonist will sich zunächst keinen fremden Willen aufzwingen lassen. Er hat nichts zu verlieren, hängt nicht an Besitz und lässt sich auch nicht mit dem Vorwurf der Mittelmäßigkeit reizen. Seine neue Freundin jedoch, die sich durch phantastische Ohren und Zukunftsvisionen auszeichnet, überredet ihn schließlich, gemeinsam auf „Wilde Schafsjagd“ zu gehen. Wo auf Hokkaido mag sich dieses machtvolle Schaf nur aufhalten? Und was hat sein Freund Ratte damit zu tun?

Der Leser begleitet den Ich-Erzähler durch das Bandwurmuniversum der „Wilden Schafsjagd“, die so wild gar nicht ist. Denn auch dies ist charakteristisch Murakami: Die eigentliche Handlung hätte sich auch in weniger als der Hälfte der Seiten unterbringen lassen können. Das Erzähltempo ist gemächlich, der Ich-Erzähler lässt seine Gedanken mal in diese oder jene Richtung abschweifen (z.B. zu Musik und Literatur), ist mit alltäglichen Dingen wie Kochen beschäftigt, lässt die Vergangenheit Revue passieren. Das ist ein Stil, auf den man sich als Leser erst einmal einlassen muss. Doch gerade die Nebensächlichkeiten machen „Wilde Schafsjagd“ so lesenswert: Wieso wird ein Kater auf den Namen Bückling getauft? Wie empfindet ein junger Ainu die Besiedelung des unwirtlichen Hokkaidos? Und warum sind Ohren so faszinierend?

Weitergeführt wird die „Wilde Schafsjagd“ in dem Roman „Tanz mit dem Schafsmann“. Ob er will oder nicht, der Ich-Erzähler muss das Tanzen lernen...

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