Im Garten der Familie Sata steht ein Ahornbaum, an dessen Stamm zwei Veilchenbüschel wachsen. Die junge Chieko steht jedes Jahr im Frühling erneut vor den Blumen und fragt sich, ob die Veilchen jemals zueinander finden mögen. Es zeigt sich, dass diese Sehnsucht nach dem Zusammenfinden zweier getrennter Seelen für Chieko eine besondere Bedeutung hat. Denn obwohl Chiekos Mutter darauf besteht, sie hätte Chieko als Baby entführt, weiß es Chieko besser: Sie wurde als Findelkind vor dem Geschäft der Satas aufgefunden und von dem kinderlosen Ehepaar Sata liebevollst aufgezogen. An einem Festtag in Kioto schließlich trifft Chieko auf die junge Arbeiterin Naeko, die ihr wie ein Ei dem anderen gleicht. Die hübsche Chieko wird von mehreren jungen Männern umgarnt, was zu kleinen Verwirrungen führt, als Naeko für Chieko gehalten wird.
Yasunari Kawabata bettet diese Geschichte in die Feste und Festivitäten von Kioto und dessen Umkreises ein. So geht Chieko mit ihrem Jugendfreund Shinichi, der als Kind einen Pagen auf dem Hellebardenwagen des Gion-Festes verkörpert hat, zur Blütenschau in den Heian-Schrein. Chiekos Vater Takichiro liebt das Fest des Bambusschneidens im Kurama-Tempel. Zum Gion-Fest sollen sich Chieko und Naeko treffen, als Naeko einen Bittgang für die Götter des Yasaka-Schreins ausführt. Das Daimonji-Fest im August mit dem heiligen Bon-Feuer wird Chieko dagegen leider verpassen – sie ist traurig, da sie durch Naeko erfahren hat, dass ihre leiblichen Eltern bereits verstorben sind und bleibt lieber zu Hause. Zum Epochenfest trifft sich Naeko mit einem von Chiekos Verehrern. Zum Abschluss des Kitano-Tanzfestes verschlägt es Chiekos Vater Takichiro seit längerer Zeit wieder einmal in ein Teehaus.
Das Nachwort von Jürgen Berndt verortet Yasunari Kawabatas „Kyoto“ in einer Zeiterscheinung der 60er Jahre: Japan befindet sich in einer Suche nach nationaler Identität. Man besinnt sich auf alte kulturelle Werte, was im Extrem zu neuen nationalistischen Tendenzen führen wird. Kioto als alte Hauptstadt, die nicht unter Kriegsbombardement zu leiden hatte, ist das Symbol für die Besinnung auf die alte japanische Tradition. So scheint Yasunari Kawabata mehr der alten Hauptstadt ein Denkmal setzen zu wollen, als eine Liebes- oder Familiengeschichte erzählen zu wollen.
Trotz der vielen Feste findet sich aber leider kein Zauber in der Beschreibung Kiotos im Wechsel der Jahreszeiten. Auch wirkt das Zusammentreffen von Chieko und Naeko nicht so herzlich, wie man es sich hätte vorstellen können. Dazu trägt sicherlich auch die Übersetzung bei, die Naeko Chieko in der dritten Person anreden lässt – und dies obwohl der Kurzroman in den 60er Jahren angesiedelt ist. Auch geht freilich der Kioto-Dialekt verloren, der die direkte Rede im japanischen Original prägt. Vielleicht evoziert das Werk im Japanischen und bei Japanern mit entsprechendem Hintergrundwissen wirklich die Anziehungskraft und den Liebreiz der alten Hauptstadt – im Deutschen liest sich „Kyoto“ jedoch eher etwas sperrig.
Bibliographische Angaben:
Kawabata, Yasunari: „Kyoto“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Donat, Walter/Yuzuru, Kawai), Reclam, 1974 Leipzig
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