In dem Vorwort gibt der Autor höchstpersönlich einen interessanten Einblick in die Entstehungsgeschichte der Kurzromane
und er weiß von einer Art Erweckungserlebnis zu berichten: Keinesfalls war es
der langgehegte Plan Haruki Murakamis, Autor zu werden. Zunächst betrieb er in
den 70er Jahren recht erfolgreich zwei Jazz-Kneipen. Mitten während eines
Baseballspiels im Jingu-Stadion jedoch kam ihm eine Erleuchtung – warum nicht
einen Roman schreiben? Doch sicherlich ist aller Anfang schwer: Die erste
Version seines ersten Romans enttäuschte ihn. Mittels einer Krücke fand Haruki
Murakami zu seinem Stil: Zunächst verfasste er den Text in einfachem Englisch –
komplett ohne die stilistischen Verkünstelungen, zu denen man in der
Muttersprache sicherlich neigt. In der Rückübersetzung ins Japanische entstand
ein einfacher, aber umso prägnanterer Text. Vor diesem Hintergrund wird klar,
warum der Haruki Murakami-Stil als sehr untypisch für japanische Autoren gilt.
Haruki Murakami nennt die beiden Erstlinge „Wenn der Wind
singt“ und „Pinball 1973“ seine Küchentischromane, da sie in seiner spärlichen
Freizeit am Küchentisch entstanden. Wäre „Wenn der Wind singt“ nicht für einen
Nachwuchspreis nominiert worden – vielleicht hätte Haruki Murakami, wie er
selbst angibt, keine weiteren Romane geschrieben. So kann man der Zeitschrift
Gunzo nur in Dankbarkeit verbunden sein, dass damals Haruki Murakami mit dem
Preis ausgezeichnet wurde. Sonst wären die vielen großartigen Werke des Autors
eventuell nie entstanden.
Interessant an den beiden Erstlingen ist, dass sie sich
bereits wie typsische Haruki Murakami-Werke lesen und viele typische Elemente
enthalten. So bezieht sich der namenlose Ich-Erzähler gern auf einen Autor (in
„Wenn der Wind singt“ ist es Derek Hartfield), er hat komplizierte
Frauengeschichten am Hals, das Gefühl, ein niemand zu sein, ist sowohl bei ihm
als auch seinem Freund Ratte kennzeichnend, Dreh- und Angelpunkt ist eine Bar,
hinzu kommen Schächte, Brunnen, Grenzgänge, Ein- und Ausgänge…
Über „Wenn der Wind singt“ sagt der Ich-Erzähler
„Meine Geschichte beginnt am 08. August1970 und endet achtzehn Tage später, am 26. August desselben Jahrs.“ (S. 28)
Doch in zahlreichen Rückblenden wird der Bericht über
einige Tage während der Sommerferien des studentischen Ich-Erzählers, der aus
Tokio zurück in seine Heimatstadt am Meer gekommen ist, angereichert: Wie er
Ratte kennengelernt hat, welche Frauengeschichten er in der Vergangenheit
erlebt hat und wie seine Kindheit aussah. Und natürlich wird über den Sinn des
Lebens und die Gesellschaft palavert.
In „Pinball 1973“ wird’s bereits etwas phantastischer: So
findet sich der Ich-Erzähler – nun bereits Gründer eines Übersetzungsbüros nach
abgeschlossenem Studium – unvermittelt in der Gesellschaft eines weiblichen
Zwillingspärchens, das sich bei ihm einquartiert hat, wieder. Einziges
Unterscheidungsmerkmal der beiden Damen scheint ein unterschiedlich
nummeriertes Sweatshirt zu sein. So nennt er sie getreu den Nummern 208 und
209.
Währenddessen macht Ratte in der alten Heimat eine
schwere Zeit durch:
„Für Ratte schien der Fluss der Zeit an irgendeiner Stelle durchtrennt worden zu sein. Warum das geschehen war, wusste er nicht. Er konnte nicht einmal die Schnittstelle finden.“ (S. 157)
Insbesondere seit er sein Studium geschmissen hat, liegt
seine Gefühlswelt im Argen. Auch eine Frauengeschichte macht ihm zu schaffen.
Der Ich-Erzähler wiederum bekommt wie aus dem Nichts
einen Anstoß: Als er in Begleitung der Zwillinge auf einem nahegelegenen
Golfplatz herumstromert, kommt ihm seine Leidenschaft fürs Flippern wieder in
den Sinn. Doch nicht irgendein Flipper hat ihm angetan: Sowohl in seiner alten
Heimatstadt (genauer: in Jays Bar) hat er auf dem Modell Spaceship zusammen mit
seinem Freund Ratte Stunden um Stunden geflippert – und auf demselben Modell in
einer Spielhölle in Tokio ebenfalls ausgiebig dem Flippern gefrönt. Seine Suche
nach dem Modell Spaceship beginnt, denn dummerweise hat Jay seinen Flipper
ausgemustert und die Spielhölle wurde geschlossen.
Dabei sieht der Ich-Erzäler das Flippern jedoch durchaus
nicht in einem positiven Licht:
„Zwischen Hitlers Vormarsch und dem des Flipperautomaten gibt es Parallelen. Beide stiegen durch gewisse Umwälzungen wie Schaum aus dem Bodensatz ihrer Epoche an die Oberfläche und verdankten ihre mythische Aura eher der Geschwindigkeit ihres Aufstiegs als besonderen Fähigkeiten. Drei Faktoren beschleunigten diese Entwicklung: Technologie, Kapital und, nicht zu vergessen, die primitivsten Instinkte des Menschen.“ (S. 147)
So ist der Flipper vielleicht auch als Sinnbild der
Desillusionierung der revoltierenden Studenten der ausgehenden 60er
Jahre/beginnenden 70er Jahre zu verstehen? Oder auch als eine Analogie zum Wind
in „Wenn der Wind singt“: Genauso wenig wie der Mensch weiß, in welche Richtung
ihn der Wind des Schicksals weht, genauso wenig weiß es die Kugel, die über das
Spielfeld des Flippers rollt.
Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Wenn der Wind singt & Pinball
1973“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), Dumont, Köln 2015, ISBN
978-3-8321-9782-7
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