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Montag, 31. August 2015

„Der Herr der kleinen Vögel“ von Yoko Ogawa

Stille – das ist ein Wort, das besonders oft in Yoko Ogawas „Der Herr der kleinen Vögel“ vorkommt. Der Mann, der der Herr der kleinen Vögel genannt wird, stirbt gleich zu Beginn des Buches. In einer Rückblende wird sein stilles, zurückgezogenes Leben aufgezeigt.

Der Herr der kleinen Vögel wächst mit einem älteren Bruder auf. Dieser ist von Vögeln fasziniert und liebt insbesondere die Voliere, die in einem Kindergarten steht. Eines Tages beginnt der ältere Bruder in seiner eigenen Sprache zu sprechen. Nur der Herr der kleinen Vögel kann diese Sprache verstehen und so zwischen dem Bruder und der Welt da draußen vermitteln. Nach dem Tod der Eltern kümmert sich der Herr der kleinen Vögel um seinen Bruder. Das Leben der beiden ist bescheiden und ganz von täglichen Ritualen beherrscht. Selbst kleine Reisen sind mit dem älteren Bruder nicht möglich. So begnügen sich die Geschwister damit, Ausflüge zu planen, die sie nie antreten werden.

Nach dem Tod des Bruders widmet sich der Herr der kleinen Vögel ganz der Pflege der Voliere. Diese Tätigkeit wird neben seiner Arbeit zu seinem Lebensinhalt. Ein erstes Mal in seinem Leben verliebt sich der Herr der kleinen Vögel sogar – doch leider unglücklich in eine sehr viel jüngere Bibliothekarin. Als ein kleines Mädchen missbraucht wird, gerät der Herr der Vögel unschuldig unter Verdacht. Und das japanische Wort „Kotori“, das bisher als „Herr der kleinen Vögel“ gelesen wurde, erhält mit „Kinderfänger“ eine neue Lesart.

Mit „Der Herr der kleinen Vögel“ behandelt Yoko Ogawa das Thema Autismus gepaart mit den lieblichen Stimmen von Vögeln. Bereits in „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ hatte sie Alzheimer auf die Schönheit der Mathematik treffen lassen. So setzt „Der Herr der kleinen Vögel“ auf ein schon bekanntes Rezept der Autorin.

Doch „Der Herr der kleinen Vögel“ zeigt auch auf, dass Menschen, die einmal einen Stempel aufgedrückt bekommen haben, ihn nicht mehr loswerden – und dadurch vielleicht den letzten Halt im Leben verlieren. Denn gerade Routinen geben Halt und auch das Gefühl, gebraucht zu werden. Durch die Thematik wirkt der Roman schwerer und ernster als so manche andere Yoko Ogawa-Romane. Einen herausstechenden Höhepunkt sollte der Leser von „Der Herr der kleinen Vögel“ ebenfalls nicht erwarten. Der Roman ist eben ein besonders stiller…

Bibliographische Angaben:
Ogawa, Yoko: „Der Herr der kleinen Vögel“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), Liebeskind, München 2015, ISBN 978-3-95438-050-3

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