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Dienstag, 31. Dezember 2024

„So weit wir auch gehen“ von Hirokazu Koreeda

Normalerweise sind Romane, die begleitend zu Filmen erscheinen, ja eher von mäßiger Qualität. Anders bei Hirokazu Koreedas „So weit wir auch gehen“. Hier kehrt Ryota anlässlich des 15. Todestages seines älteren Bruders in seine alte Heimat zurück. Junpei, der ältere Bruder, hatte sein Leben verloren, als er ein ertrinkendes Kind aus dem Meer gerettet hatte. Als Erstgeborener und Medizinstudent hätte Junpei die Praxis des Vaters übernehmen sollen. Sein überraschender Tod hatte ein Loch in die Familienstruktur gerissen, die an besagter Feierlichkeit zum Todestag illustriert wird.

Ryota fühlt sich immer noch im Schatten seines längst verstorbenen Bruders, als er mit seiner Ehefrau und deren Sohn aus einer früheren Beziehung zu seinen Eltern aufs Land aufbricht. Dort trifft er nicht nur auf seine Mutter, die den Erstgeborenen immer noch vergöttert, und seinen Vater, der sich gern als Familienpatriarch behandeln lassen würde, aber von seinen Angehörigen die eine oder andere Spitze erfährt. Auch Ryotas pragmatische Schwester ist mit ihrem Ehemann und den zwei gemeinsamen Kindern vor Ort.

Der Vergleich mit einem Kammerspiel hinkt ein bisschen, da genügend Passagen auch außerhalb von Ryotas Elternhaus stattfinden. Dennoch drängt sich das Haus als primärer Handlungsort auf. Hier entlädt sich Ryotas Frust über die Glorifizierung des älteren Bruders, hier schmollt der Vater, weil er sich nicht gewürdigt fühlt, hier lebt die Mutter die eine oder andere Boshaftigkeit aus, hier lockern hereinplatzende Kinder angespannte Atmosphären wieder auf.

Tatsächlich habe ich zwei Anläufe für „So weit wir auch gehen“ benötigt. Denn tatsächlich ist die Handlung keine, die einen in eine spannende Story hineinzieht. Das Thema von eskalierenden Familienfeierlichkeiten kennt man sicher selbst zu Genüge, wenn sich die eigene Familie über Weihnachten mal so richtig auf den Geist gegangen ist.

Aber es lohnt sich dennoch, sich durch die eigentlich eher ermüdende Handlung durchzubeißen. Denn der Leser wird mit unglaublicher Prägnanz in die Situationen gezogen, als würde ein Film vor den eigenen Augen ablaufen. Es ist heiß an jenem Tag, man leidet mit den schwitzenden Akteuren geradezu mit und sehnt sich genauso wie diese nach einem Stück kalter Wassermelone. Und natürlich beginnt man selbst nachzudenken: Wieviel Zeit bleibt mir denn noch mit meinen Eltern? Welche Dinge soll man noch besprechen? Welche bleiben lieber ungesagt?

Ein kleiner, phantastischer Aspekt bringt dann auch noch die japanische Geisterwelt ins Spiel, was dem Buch doch wieder ein bisschen Leichtigkeit verleiht.

Bibliographische Angaben:
Koreeda, Hirokazu: „So weit wir auch gehen“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Ophüls-Kashima, Reinold), Iudicium, München 2020, ISBN 978-3-86205-126-7

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