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Samstag, 12. April 2014

„Die Früchte des Ginkgo“ von Kenji Miyazawa

Märchen sind normalerweise alles andere als meine Lieblingslektüre. Die 18 Märchen von Kenji Miyazawa, die in dem Band „Die Früchte des Ginkgo“ versammelt sind, haben mich aber eines Besseren belehrt: Die dort präsentierten Erzählungen sind sowohl bezaubernd als auch sozialkritisch. Darüber hinaus ist auch die Aufmachung des Buches geradezu liebevoll gestaltet. Illustrationen von Usamu Tsukasa zieren die einzelnen Texte und vermitteln die naive Märchenhaftigkeit noch zusätzlich. Die Herausgeberin Johanna Fischer hat auch nicht die Mühe gescheut, jedes Märchen zu kommentieren und in einen historischen und gesellschaftlichen Sinnzusammenhang zu stellen.

So erfährt der Leser beispielsweise, dass sich Kenji Miyazawa zwar von agrarwirtschaftlichen Großbetrieben beeindruckt zeigte, er aber mit dem Märchen „Der Wolfswald, der Korbwald und der Diebswald“ einen Text kreierte, der an eine Zeit mahnt, als die Menschen mit der Natur und mystischen Gestalten noch in Einklang lebten und ihnen Respekt zollten.

Oder aber es werden buddhistische Ansätze formuliert: „Die Vulkanbombe mit dem guten Herzen“ ist ein Vulkanstein, der von den anderen Waldbewohnern permanent gegängelt wird. Der Brocken wird jedoch nie böse, sondern bewahrt sich trotz aller Beleidigungen und Schwierigkeiten seine Gutmütigkeit. Für die Herausgeberin ist dies ein Text, der auf Kenji Miyazawas Verständnis der idealen buddhistischen Lebenseinstellung verweist.

„Das Gasthaus mit den vielen Aufträgen“ gilt als eine der bekanntesten Erzählungen von Kenji Miyazawa. Zwei verwöhnte Jünglinge aus Tokio sind in Nordjapan auf der Jagd und wollen in einem unversehens auftauchenden Gasthaus Einkehr machen. Doch in der harmlos anmutenden Umgebung werden die Rollen von Jäger und Gejagtem, von Essensgast und Speise unversehens ins Gegenteil verkehrt.

Kenji Miyazawas Märchen in „Die Früchte des Ginkgo“ wirken manchmal sozialkritisch, manchmal mythologisch und dann wieder buddhistisch geprägt. Sie werden aus dem Erfahrungsschatz des Autors gespeist und verweisen teilweise direkt auf dessen Biographie. Das macht diesen Kenji Miyazawa-Band so wertvoll und abwechslungsreich, dass selbst ich mich für seine Märchen begeistern kann.

Bibliographische Angaben:
Miyazawa, Kenji: „Die Früchte des Ginkgo“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Fischer, Johanna), Verlag Günther Neske, Pfullingen 1980, ISBN 3-7885-0223-1

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