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Donnerstag, 24. April 2014

„Das große Japan Lesebuch“ herausgegeben von Siegfried Schaarschmidt

Siegfried Schaarschmidts „Das große Japan Lesebuch“ kann man jedem Einsteiger in die japanische Literatur mit bestem Gewissen empfehlen. Der Band aus den 90ern enthält freilich keine Werke von Autoren wie Haruki Murakami oder Banana Yoshimoto. Dafür werden aber einzelne Erzählungen von den Literaturnobelpreisträgern Kenzaburo Oe und Yasunari Kawabata vorgestellt. Darüber hinaus dürfen natürlich Größen wie Ryunosuke Akutagawa, Junichirio Tanizaki, Yasushi Inoue, Kobo Abe, Osamu Dazai und Yukio Mishima nicht fehlen.

„Das große Japan Lesebuch“ startet mit Junichiro Tanizakis vielleicht bekanntester Erzählung, nämlich mit „Die Tätowierung“:  Im mittelalterlichen Japan machen Tätowierer als Künstler von sich reden. Ein besonders exzentrischer ist Seikichi. Sadistisch verlangt erfreut er sich an den Schmerzen, mit denen er beim Tätowieren seine Kunden quält. Seikichi ist ein Getriebener: Er ist auf der Suche nach dem perfekten Frauenkörper, den er mit seinen Tätowierungen zieren möchte. Eines Tages erblickt er diese wunderbare Frau, verliert sie jedoch wieder aus den Augen. Ob er dennoch an sein Ziel gelangt?

„Der Chrysanthemenball“ ist die Festivität, die die Protagonistin von Ryunosuke Akutagawas Erzählung besucht. Akiko besucht in Begleitung ihres Vaters zum ersten Mal einen Ball im europäischen Stil. Die Schönheit blendet die Besucher und fasziniert insbesondere einen französischen Militär der besonderen Art.

Naoya Shigas „Kuniko“ war der Auslöser für Shigas Ehefrau, nie wieder eines der Werke ihres Mannes zu lesen. Denn nachdem Naoya Shiga fremd gegangen war, verarbeitete er diese Erfahrung in der Erzählung „Kuniko“. Die Figur der Kuniko ist die Ehefrau eines untreuen Ehemanns. Sie begeht – ganz im Gegensatz zu Naoya Shigas Ehefrau – Selbstmord, da sie mit der Situation nicht zurecht kommt. Der Ich-Erzähler beschreibt Kunikos Weg in den Tod aus Sicht des treulosen Gatten.

Auch Ineko Sata legte ihre eigenen Erfahrungen in die Erzählung „Aus der Bonbonfabrik“: Die Autorin, die selbst schon früh in einer Bonbonfabrik arbeiten musste, zeigt anhand des Schicksals der Schülerin und alsbald Arbeiterin Hiroko die ausbeuterischen Züge der Kinderarbeit auf.

„Der Salamander“ ist der Protagonist in Masuji Ibuses Werk aus dem Jahr 1923: Wie mag vor diesem zeitlichen Hintergrund ein faschistisch anmutender Salamander zu deuten sein, der durch seinen plötzlichen Körperwuchs nicht mehr aus einer Höhle herauskommt und einen Frosch als seinen zwangsrekrutierten Gesellschafter dort mit einsperrt?

„Von Vögeln und Tieren“ erzählt Yasunari Kawabatas Protagonist. Die 1933 publizierte Erzählung enthält sich jeglicher politischer Botschaft. Stattdessen wird das Leben eines alleinstehenden Mannes geschildert, der zu Tieren einen bessern Zugang hat als zu den ihn umgebenden Menschen.

„Von Frauen“ wird dagegen in Osamu Dazais Erzählung gesprochen. 1936 sitzt der Ich-Erzähler am Tage einer Offiziersrevolte zusammen. In Unkenntnis des versuchten Umsturzes ergehen sich die beiden in Phantasien um Frauengestalten. Doch was wird hier imaginiert und was entstammt dem eigenen Erfahrungsschatz?

„Geliebtes Gesicht“ von Kafu Nagai entführt in das Tokio der 30er Jahre. Da ist ein Taxifahrer, der in einer heißen Sommernacht von der Liebe seines Lebens berichtet. Und von einer Revue-Tänzerin, die der verstorbenen Ehefrau fast bis aufs Haar gleicht.

Ein besonders bekanntes Werk von Ango Sakaguchi ist mit „Unter der vollen Blüte im Kirschbaumwald“ in „Das große Japan Lesebuch“ enthalten. In der Groteske aus dem Jahr 1947 werden Machtverhältnisse umgedreht: Ein Bergbandit entführt eine bildhübsche Frau, nachdem er ihren Begleiter kaltblütig ermordet hat. Doch die Dame weiß ihn, der ihr hemmungslos verfallen ist, perfekt zu manipulieren. Der Bandit tanzt bald nach ihrer Pfeife. Freilich wird es der Schönen in den Bergen bald zu fade – in die Hauptstadt soll er mit ihr ziehen. Dort wird er als Tölpel verspottet, doch des Nächtens zieht er aus, um auf Befehl seiner Gebieterin, Menschen zu enthaupten und ihr die Köpfe darzubringen. Nichts findet die Dame erquickender, als mit den verwesenden Schädeln zu spielen und allerlei Rollenspielchen aufzuführen. Doch der Bandit hält es alsbald nicht mehr in der Stadt aus; es zieht in zurück in die Berge. Ausgerechnet das Symbol des Japanischsten schlechthin, nämlich die Kirschblüte, soll zum Verhängnis werden.

Zwei kurze Erzählungen von Kobo Abe hat Siegfried Schaarschmidt mit „Der rote Kokon“ und „Hochwasser“ in den Band aufgenommen. In „Der rote Kokon“ wird Heimatlosigkeit und Verlorensein thematisiert. Die Erzählung nimmt eine kafkaeske Wendung. Dagegen wirkt „Hochwasser“ eher wie ein Science Fiction: Vornehmlich Arbeiter verwandeln sich in Wasser – droht eine Sintflut?

Shotaro Yasuokas „Das Kaninchensyndrom“ ist in den Nachkriegsjahren angesiedelt. Der Ich-Erzähler kuriert sich im Haus seiner Eltern aus. Der Vater, ein ehemaliger Militär, ist nun arbeitslos und ist auf der Suche nach neuen Verdienstmöglichkeiten. Da setzt ihm jemand den Floh ins Ohr, er solle sich doch Kaninchen halten – die Angorawolle würde sich bestens verkaufen lassen. Und so nehmen die Kaninchen bald das Wohnhaus in Beschlag – und auch die Bewohner gleichen den Kaninchen immer mehr.

Morio Kitas kindliche Protagonistin betrachtet „Geflügelte Ameisen am Hang“. Das Mädchen hat ihre Mutter begleitet; zusammen sitzen sie mit einem ihr fremden Mann in einem ihr fremden Garten. Schritt für Schritt entspannt sich für den Leser in Dialogen zwischen der Mutter und dem Mann das Beziehungsgeflecht zwischen den Personen.

Mit „Der Fang“ von Kenzaburo Oe ist im vorliegenden Erzählband ein weiteres sehr bekanntes Werk der japanischen Literatur enthalten: Amerikanische Flugzeuge beginnen während des zweiten Weltkriegs in den japanischen Luftraum einzudringen. Als eines davon in der Nähe eines Dorfes abstürzt, kann ein afroamerikanischer Soldat lebend gefangen werden. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines Jungen erzählt, für den „Der Fang“ eine Sensation darstellt. Der Soldat wird erst einmal provisorisch im Keller des Speichers eingesperrt, in dem der Junge mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder haust. Bald soll er ihm sogar mit schlotternden Knien das Essen bringen. Noch haben alle Dorfbewohner Angst vor dem Soldaten, doch nach kurzer Zeit wird er eher wie ein Haustier empfunden. Wenn die Behörden ihn doch nur nicht in die Finger bekommen wollten… In Kenzaburo Oes wird nicht nur die Geschichte einer Annäherung während eines drückenden Sommers erzählt, sondern auch die Entwicklung eines Kindes hin zum Erwachsenen dargestellt.

Auf „Die Brückenprobe“ begeben sich einige Damen in Yukio Mishimas Erzählung. Denn bei Vollmond gilt es, sieben Brücken schweigend zu überqueren, damit ein besonderer Wunsch in Erfüllung geht. Zwei Geishas, eine Wirtstochter und deren Dienstmagd stellen sich der Herausforderung, die sich als nicht allzu einfach gestaltet. Dabei mag der Leser mehr von den „geheimen“ Wünschen der Frauen erfahren.

Harumi Setouchi erzählt in „Einmal hat Makiko gestohlen“ von einer jungen Frau, die ihren Ehemann und ihr Kind wegen einer Affäre aufgibt. Damit nimmt sie ein Thema auf, das stark autobiografisch geprägt ist. Makiko selbst scheint recht unbedarft und nimmt die Dinge wie sie kommen. Ihr Mann setzt sie ohne Hab und Gut vor die Tür; ihr neuer Geliebter will alsbald nichts mehr von ihr wissen. So schlägt sie sich mehr schlecht als recht durch. Wenn nicht ein Bekannter ihr den Floh ins Ohr setzen würde, sie solle sich doch zumindest ihre Lebensmittelkarte und ihre Kleidung zurückholen.

„Das Duell“ von Takeshi Kaiko handelt von einem Tagesausflug eines älteren und eines jüngeren Mannes. Sie wollen dem Kampf eines Mungos gegen eine Habu-Schlange beiwohnen. Dabei werden parallelen zum Schwertkampf des Ganryu gezogen.

Kenji Nakagami schickt seinen Protagonisten in „Der Bergasket“ ins Gebirge. Er ist ein eher grobschlächtiger Kerl mit cholerischen Anwandlungen. Um seine Ehe zu retten, begibt er sich wie ein Pilger ist Gebirge und macht dort metaphysische Erfahrungen, die wie ein Fieberwahn wirken. Erlebt er hier eine Katharsis?

In Makoto Odas „Der Kommandeur“ erinnert sich der Ich-Erzähler, dass er als Kind einmal eine scharfe, vorwurfsvolle Stimme gehört haben mag, die seinem Vater Fehlverhalten im Krieg vorgeworfen hat. Auf der Beerdigung seines Vaters macht er die Entdeckung, dass dies die Stimme von Namba war, der als „General des Teufels“ bezeichnet wurde. So sehr Namba während des Kriegs für militärischen Drill sorgte, so sehr versagt er aber bei der Erziehung seines Sohnes, der in Opposition zur Gesellschaft geht.

Mitsuharu Inoue begleitet in „Die Nacht davor“ eine werdende Mutter durch eine Geburt – einen Tag vor dem Atombombenabwurf über Nagasaki. Während der Leser bereits das Unheil ahnt, was über die Menschen von Nagasaki bald hereinbrechen wird, sind diese noch ganz im Alltag verhaftet. Obwohl in „Die Nacht davor“ nicht sonderlich viel geschieht, wirkt die Erzählung wie ein Schauer – denn die handelnden Charaktere werden nicht mehr allzu lange zu leben haben, bis eine atomare Katastrophe sie verschlingt.

„Ein Brief aus der Wüste“ wird von Yasushi Inoues Protagonisten geschrieben. Er hat sich auf eine Reise durch die Wüste Takla Makan begeben. Als ein Soldat ihm anbietet, seine Briefe mitzunehmen, geht er in sich und fragt sich, wem er bloß einen Brief schreiben solle. Da fällt ihm nur sein verstorbener Jugendfreund ein. Er beginnt mit dem Schreiben eines Briefs an einen Verstorbenen und reflektiert dabei den Einfluss, den dieser auf ihn hatte.

Einige der Erzählungen in „Das große Japan Lesebuch“ finden sich auf in Siegfried Schaarschmidts Band „Ein Brief aus der Wüste“, der im Ostasien-Verlag herauskam. „Das große Japan Lesebuch“ bietet jedoch mehr Erzählungen und damit einen weit besseren Einblick in die Vielfalt der japanischen Literatur.

Bibliographische Angaben:
Schaarschmidt, Siegfried (Hrsg.): „Das große Japan Lesebuch“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Benl, Oscar/Iwabuchi, Tatsuji/Schaarschmidt, Siegfried/Schmidt, Elisabeth), Goldmann, München 1990, ISBN 3-442-09886-6

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