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Sonntag, 5. August 2012

„Fremde Wasser“ von Yoko Tawada, herausgegeben von Ortrud Gutjahr

„Wenn Sie hier sind, haben Sie vielleicht das Gefühl, dass es ein ‚hier’ gibt. Damit meine ich, dass Sie zum Beispiel in der Moderne leben, die alles andere hinter sich gelassen zu haben sollte, und dass Sie in der ersten Welt leben, in der Sie vor bodenloser Armut und einer tödlichen Diktatur geschützt sein sollten. Aber wenn ich verschiedene Länder und Zeiten durcheinanderbringe und in diesen Raum importiere, zeigt dieser Raum seinen eigentlichen Charakter als Wasser, das keine Grenzen kennt. Und wer wirklich bereit ist, in einer Hafen-City zu wohnen, muss damit rechnen, dass in jedem Moment ein unbekanntes Schiff erscheint.“ (S. 73)

So startet Yoko Tawada in ihre zweite Poetikvorlesung. Insgesamt drei an der Zahl enthält der Band „Fremde Wasser“. Darüber hinaus tummeln sich 17 wissenschaftliche Beiträge, die sich mit dem Sprachphänomen Yoko Tawada befassen. Ein Interview mit ebendieser komplettiert den Band.

Doch zunächst zurück zu den drei Vorlesungen, die im Rahmen einer Hamburger Gastprofessur für Interkulturelle Poetik im Sommersemester 2011 nur wenige Monate nach der verheerenden Natur- und Nuklearkatastrophe in Japan gehalten wurde. Daher startet Yoko Tawada auch so in die erste Vorlesung:

„Hiroshima endet genau wie Fukushima auf ‚Shima’, und das Wort ‚Shima’ bedeutet Insel.“ (S. 49)

Doch im Zentrum dieser ersten Vorlesung soll ein anderes „Shima“ – Tanegashima – stehen, auf der die ersten Europäer im 16. Jahrhundert landeten. Yoko Tawada illustriert hier jedoch auch ihre eigene „Landung“ im Westen, nämlich ihre Erfahrungen als Japanerin in Hamburg und den Besuch erster sprachwissenschaftlicher Vorlesungen, unter anderem über Roland Barthes.

Die zweite Vorlesung widmet Yoko Tawada der Insel Dejima, auf der die holländischen Handelspartner isoliert lebten. Sie begibt sich jedoch auch nach Südafrika, spürt Afrikaans als „belastete Sprache“ nach und stellt offene Fragen:

„Wie stark ist eine Sprache belastbar? Gibt es die Unschuld der Sprache? Bin ich vielleicht eine perverse Autorin, die sich nur für belastete Sprachen interessiert?“ (S. 77)

Die dritte und letzte Vorlesung steht unter dem Thema Uraga, dem Hafen, in den 1853 die schwarzen Schiffe der US-Amerikaner einliefen, um Japan zu Handelsbeziehungen mit den USA zu zwingen. Yoko Tawada widmet sich hier unter anderem dem Brecht-Stück „Die Judith von Shimoda“, das auf einem Werk von Yuzo Yamamoto basiert, und Puccinis „Madame Butterfly“.

Damit endet der von Yoko Tawada verfasste Teil von „Fremde Wasser“. Die Vorlesungen sind hier nur kurz angerissen, da man der Fülle von Yoko Tawadas Gedankengängen in einer Zusammenfassung ohnehin nicht gerecht werden könnte und man getrost auf das Buch selbst verweisen kann. Yoko Tawadas Beiträge lesen sich wie immer höchst interessant und ohne die Schwere von wissenschaftlichen Abhandlungen, die man bei dem Begriff „Vorlesung“ unterstellen könnte.

Die folgenden 17 wissenschaftlichen Aufsätze nehmen den größten Teil von „Fremde Wasser“ ein. Hier begibt sich Sigrid Weigel beispielsweise auf „Suche nach dem E-mail für Japanische Geister“, Christine Ivanovic und Franziska Schößler betrachten Yoko Tawadas Bühnenstücke, Andrea Bandhauer widmet sich dem Wasser, der Weiblichkeit und den Metamorphosen in „Schwager in Bordeaux“, Yasemin Dayioglu-Yücel fragt sich, ob sich Yoko Tawadas Werke als magischer Realismus verorten lassen und Vibha Surana fragt „Was hört auf, wo Europa anfängt?“.

Sicherlich muss sich der Leser hier auf etwas schwerere, analytische Kost einlassen, die die Lektüre jedoch allemal wert ist, wenn man sich mit Yoko Tawadas Werken näher befassen möchte. Ein kleines bisschen Grundwissen zu Barthes, Benjamin und Derrida sei jedoch empfohlen. Auch die Lektüre von Yoko Tawadas Werken sollte bereits vor dem Lesen der Aufsätze erfolgt sein, um den Gedankengängen der einzelnen Autoren gut folgen zu können.

„Fremde Wasser“ zeigt eindrücklich das (Sprach-)Genie der Autorin und Ethnologin Yoko Tawada auf und lässt den Leser tiefer in die Bedeutungszusammenhänge hinabtauchen. Eine Pflichtlektüre für jeden Yoko Tawada-Fan!

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko & Gutjahr Ortrud (Hrsg.): „Fremde Wasser“, Konkursbuch, Tübingen 2012, ISBN 978-3-88769-777-8

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