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Freitag, 25. November 2011

„Wanzentagebuch“ von Mokichi Saito

„Wanzentagebuch – Die kleinen Leiden und Freuden eines japanischen Studenten in Europa zwischen den zwei großen Kriegen“ von Mokichi Saito enthält 56 Essays, die im Stil des Zuihitsu („dem Pinsel folgen“) verfasst sind. Der Autor, der Anfang der 20er Jahre zu Studienzwecken in Europa weilte, dokumentiert damit seinen Aufenthalt und präsentiert ein Stück Zeitgeschichte durch die Augen eines Fremden: Wie äußert sich der aufziehende Antisemitismus an der Universität von Wien? Wie erlebt der Japaner den Hitler-Putsch in München? Wie und wann dringen die Informationen über das große Kanto-Erdbeben bis in die bayerische Landeshauptstadt?

Darüber hinaus darf der Leser an den Leiden des Studenten teilhaben: Wo in München lässt sich denn bloß ein wanzenfreies Zimmer auftun? In einer Inflation, in der 12 Billionen deutsche Mark für gerade mal ein englisches Pfund eingewechselt werden, schnappt ihm ein Dollar-Student die heiß ersehnte Fachliteratur vor der Nase weg. Was tun mit dem eingewechselten Geld, das morgen schon nichts mehr wert sein wird? Der Professor ist nicht zufrieden mit den Analysen des Studenten und eine Kurzgeschichte aus der Heimat treibt ihm daraufhin prompt die Tränen der Enttäuschung in die Augen.

Mokichi Saito reist im Europa der 20er: Ausgerechnet in Ungarn erlebt er die Kaisertreue, die er von den Österreichern erwartet hätte. Er fährt in die Alpen, an den Bodensee, an Nietzsches Grab und geht auf die Suche nach der Donauquelle. In den Bergen fühlt er sich an seine Heimat in Yamagata erinnert. Schließlich begibt er sich auch auf die Spuren von Ogai Mori, der wie Mokichi Saito einst zum Medizinstudium nach Europa kam: Wo mag sich nur das Café Minerva befunden haben, das Ogai Mori in „Wellenschaum“ beschrieben hat? (Hier sei's verraten: Es war in der Akademiestr. 9 situiert.)

Und natürlich macht Mokichi Saito seine kulturellen Erfahrungen: Die Europäer waschen sich mit einem Waschlappen statt ins Badehaus zu gehen. Im Bett tragen sie seltsame Nachthemden. Und sie küssen sich ganz unverblümt und innig mitten auf der Straße. In der katholischen Kirche wird er gescholten, dass er den Hut nicht abnimmt; in der Synagoge wiederum muss er eine Kopfbedeckung tragen. Gut, dass es in München die „Japantante“ gibt, in deren Wohnung alle japanischen Studenten willkommen sind, bei der sie sich über ihre Sorgen und Nöte auslassen können und Unterstützung finden!

Insbesondere für Leser mit Interesse an Wiener und Münchner Geschichte ist „Wanzentagebuch“ ein kleiner Leckerbissen. Mit enormer Sorgfalt wurden vom Herder Verlag hunderte von Fußnoten zu den einzelnen Essays zusammengetragen; seien es thematisch passende Gedichte von Mokichi Saito, Biographien oder auch die heutige Beschaffenheit der beschriebenen Plätze. Einzig und allein bleibt die Neugierde, was der verheiratete Mokichi Saito auf Reisen mit seinen weiblichen, europäischen Begleiterinnen so angestellt hat – hier ist er Gentleman und schweigt primär.

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