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Dienstag, 1. November 2011

„Abendkranich“ von Hisako Matsubara

Hisako Matsubaras semiautobiographischer Roman „Abendkranich“ setzt am Vortag der japanischen Kapitulation ein. Die Seidenweber von Kyoto wundern sich, dass sie sich am nächsten Tag versammeln sollen, da der Tenno eine Ansprache über das Radio halten wird.

Die Kapitulation lässt die Weber ratlos zurück: Waren sie nicht bis vor kurzem dazu aufgerufen, mit Bambusspeeren bis zum letzten Mann zu kämpfen? Die Weberin, deren Sohn als Kamikaze gestorben ist, verfällt gar dem Wahnsinn.

Der zweite Handlungsstrang wird von der Familie des Guji, des obersten Shintopriesters, gezeichnet. Saya, des Gujis älteste Tochter, erlebt die Veränderungen, die nach der japanischen Stunde Null eintreten, hautnah mit: In der Schule wird nicht mehr Gehorsam gegenüber dem Staat und den Eltern gepredigt, sondern der Freiheitsgedanken hochgehalten. Koreaner unterliegen nicht mehr offenem Spott, da sie bei der amerikanischen Besatzungsmacht als endlich befreites Volk gelten, an dem die begangene Diskriminierung wieder gut zu machen ist. Das Christentum wird als prioritäre Religion propagiert, da es die Religion des siegreichen Westens ist.

Doch auch die Weber machen ihre Erfahrungen und müssen sich neuen Herausforderungen und Fragen stellen: Was ist Kaugummi nur für Teufelszeug – verklebt die Tatami und lässt sich einfach nicht mehr entfernen! Soll die eigene Tochter für die Besatzungsmacht, die ehemaligen Feinde, arbeiten? Und wenn Christus Jude war, warum haben die Nazis, die doch Christen sind, Juden vergast?

„Abendkranich“ begleitet die Weber und die Familie des Guji nicht nur über die ersten Monate nach der Kapitulation, sondern gibt auch Einblick in die japanische Kultur: Die Eheprobleme, die der Guji mit seiner Frau hat, die sich die starren Regeln der Samurai-Kultur einverleibt hat. Das unterwürfige Verhalten, das von den Mädchen erwartet wird, während sich die Jungen wie kleine Prinzen verhalten dürfen. Die Glaubensauffassung, die hinter Shinto steckt. Und die Voraussagen des I-Ging. Das alles und noch viel mehr versteckt sich hinter dem amüsant-tragischen Roman „Abendkranich“, der Zeit- und Kulturgeschichte Japans einfühlsam in eine herzerwärmende Geschichte gießt.

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