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Mittwoch, 5. September 2012

„Romanze östlich des Sumidagawa“ von Kafu Nagai

Der Flaneur Kafu Nagai in seinem ureigensten Element: Er lässt seinen Protagonisten und Alter-Ego Tadasu Oe im Jahr 1936 durch das Tokioter Rotlichtviertel Tamanoi streifen. Tadasu ist freilich Autor und freilich auf Recherchetour für eine Erzählung, die von dem pensionierten Lehrer Taneda handeln und „Untergetaucht“ heißen soll. Denn Taneda will seinem lieblosen Familienleben entfliehen und bei der jungen Kellnerin Sumiko untertauchen. Zufällig lernt Tadasu während eines Spaziergangs durch Tamanoi die Prostituierte O-Yuki kennen. Sie erinnert ihn an die alten Edo-Zeiten und bald ist er Stammgast von O-Yuki. Sie wiederum ersehnt Tadasus Besuche ebenfalls.

Die Romanze des Romans steht jedoch nicht wirklich im Vordergrund. „Romanze östlich des Sumidagawa“ gleicht vielmehr einer Collage: Tadasu streift durch Tamanoi und beschreibt die Örtlichkeiten und die geschichtliche Entwicklung der Rotlichtviertel Tamanoi und Yoshiwara. Kafu Nagai setzt seinen verstorbenen Freunden ein Denkmal, indem er Anekdoten über sie erzählt. Er übt Kritik am aufkeimenden, übersteigerten Nationalismus. Er trauert den guten, alten Edo-Zeiten nach. Und er erzählt mit „Untergetaucht“ eine Geschichte in der Geschichte. Das macht „Romanze östlich des Sumidagawa“ zu einem sehr abwechslungsreichen Roman, der dadurch jedoch ohne stringente Handlung und ohne Höhepunkt auskommen muss. Da als Fortsetzungsroman in einer Zeitung erschienen, ist die Romanze sehr episodenhaft. Alles in allem ist „Romanze östlich des Sumidagawa“ für manch einen sicherlich etwas gewöhnungsbedürftig. Doch das Abtauchen in die fremde Welt des Tokioter Rotlichtviertels, das nicht exotisiert wird, erscheint so zugänglich, als sei man zusammen mit Kafu Nagai auf Erkundungstour.

Dank des hervorragenden Nachworts von Barbara Yoshida-Krafft werden der Autor Kafu Nagai vorgestellt und sein Sinn für Ästhetik und sein Schreibstil intensiv dargestellt. So soll der Autor während des Jahres 1936 wohl tatsächlich eine Beziehung zu einer jungen Prostituierten unterhalten haben. Im Sinne des japanischen Ich-Romans, der authentische, vom Autor selbst erlebte Situationen schildert, wäre dies alles andere als abwegig.

Wer mehr über Kafu Nagai erfahren will, dem sei „Tagebuch. Das Jahr 1937“ ans Herz gelegt. Der passionierte Tagebuchschreiber streift natürlich wieder durch Tokio und hat gerade eben erst „Romanze östlich des Sumidagawa“ veröffentlicht.

Bibliographische Angaben:
Nagai, Kafu: „Romanze östlich des Sumidagawa“, Insel, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-458-16576-2

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