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Sonntag, 17. Juli 2011

„Grotesk“ von Natsuo Kirino

Grotesk – so ist die japanische Gesellschaft und so werden die Menschen, die in ihr leben. Natsuo Kirino, bekannt dafür, Gesellschaftskritik und Hard-boiled-Genre zu verbinden, beschreibt das Schicksal von vier Schülerinnen bis zum Alter von Ende 30: Die namenlose Ich-Erzählerin hat eine wunderhübsche jüngere Schwester namens Yuriko, die nymphomanisch veranlagt ist. Durch ihre Schönheit wird sie sofort in den Insiderinnen-Kreis der Schule aufgenommen. Die Ich-Erzählerin fährt eine Vermeidungsstrategie: Da sie sich bewusst ist, in Konkurrenz zu Yuriko immer zu verlieren, geht sie erst gar nicht auf jedweden Kampf um Beliebtheit, Schönheit und Intelligenz ein. Sie bleibt am Rand des schulischen Mikrokosmos, der als Symbol für die Gesellschaft Japans steht: Ein ständiger Leistungsdruck lastet auf den Schülerinnen, immer die Beste in jedwedem Lebensbereich zu sein, wenn sie nicht ohnehin schon zu den Reichsten der Reichen gehören. Auch Mitsuru und Kazue glauben daran, dass sie nur genug lernen müssen, um schließlich einen erfolgreichen Karriereweg einschlagen zu können. Doch während Mitsuru von Natur aus höchst intelligent ist und Wissen wie ein Schwamm aufsaugt, versucht Kazue die ihr fehlenden Kapazitäten mit Fleiß auszugleichen. Jedes der vier Mädchen versucht auf seine Weise, das Leben zu meistern. Yurikos Waffe ist der Sex, mit dem sie Macht über Männer ausüben kann. Mitsuru verlässt sich auf ihre Intelligenz. Die Ich-Erzählerin baut sich eine Mauer aus Hass auf. Und Kazue mag es am schlimmsten treffen: Auf der permanenten Jagd nach Anerkennung ihrer Schönheit und ihres Wissens verliert sie jedweden Bezug zur Realität. Jahre später werden Yuriko und Kazue, beide zwischenzeitlich Prostituierte auf dem Straßenstrich Tokios, zeitversetzt aber auf dieselbe Weise ermordet.

Wie in „Die Umarmung des Todes“ wird „Grotesk“ aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Protagonistinnen erzählt: Die Tagebücher der beiden toten Frauen, ein schriftliches Geständnis des mutmaßlichen Mörders, Briefe an Mitsuru, Gerichtsakten und die Erinnerungen der Ich-Erzählerin. Doch während der Perspektivenwechsel in „Die Umarmung des Todes“ die Spannung wunderbar anheizen kann, hat „Grotesk“ dadurch seine Längen, auch wenn sich der knapp 650-seitige Wälzer insgesamt sehr flüssig liest.

„Die Umarmung des Todes“ lässt noch einen Befreiungsschlag der Frauen zu. Doch „Grotesk“ zeichnet ein sehr negatives Bild: Die Frau in Japan ist zum Scheitern verurteilt. Nur durch Sex kann sie kurzzeitig Macht über einen Mann ausüben.

Auch an privaten Oberschulen lässt Kirino Natsuo kein gutes Haar: Die reichsten Töchter, die schon seit der Grundschule auf eine Privatschule gehen können, bleiben unter sich und quälen die weniger gut situierten Mitschülerinnen. Markenwahn zwingt die Outsiderinnen zur Anpassung. Chancengleichheit ist nichts als Illusion.

„Grotesk“ zeigt den Abstieg der Frauen, die als Oberschülerinnen noch glaubten, eine glänzende Zukunft haben zu können. Und auch wenn der Roman nicht an die Spannung von „Die Umarmung des Todes“ heranreicht und ein eher unstimmiges Ende nimmt, ist er ein eindrückliches Stück Gesellschaftskritik.

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