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Sonntag, 13. Januar 2013

„Verwandte des Lebens“ von Kenzaburo Oe

„Verwandte des Lebens“ oder im Spanischen „parientes de la vida“, das sind die traurigen Erlebnisse, die das Leben mit sich bringt. Die Hauptperson in Kenzaburo Oes Roman ist Marie Kuraki, der das Leben viel zu viele dieser traurigen Geschehnisse bereitet. Aus der Sicht des Ich-Erzählers K., seines Zeichens Autor und Vater des behinderten Hikari (sprich: Kenzaburo Oe selbst), wird die Lebensgeschichte von Marie rekapituliert.

Marie ist Mutter von zwei Söhnen. Der ältere der beiden, Musan, ist wie Hikari geistig behindert. Marie verlässt schließlich ihren Mann und ihren jüngeren Sohn Michio, um sich zusammen mit ihrer Mutter ausschließlich um Musan zu kümmern. Doch als Michio einen schweren Unfall erleidet und künftig an den Rollstuhl gefesselt ist, tun sich die Elternteile mit den beiden behinderten Kindern wieder zusammen. Diese Entscheidung hat fatale Folgen: Der lebensmüde Michio überredet Musan, zusammen mit ihm ans Meer zu fahren und sich dort in den Tod zu stürzen.

Die Eltern trifft der gemeinsame Selbstmord der Söhne hart: Marie trennt sich von ihrem Ehemann, vegetiert tageweise in ihrer Wohnung. Durch Unterstützung aus ihrem Umfeld lenkt sie sich mit der Organisation eines Theatergastspiels ab. Doch schließlich zieht es sie in eine christliche Sekte, die von „Väterchen Tutor“ geleitet wird. Mit dieser Sekte geht sie schließlich in die USA, von dort in eine Kommune nach Mexiko, wo sie unheilbar an Krebs erkrankt. Währenddessen säuft sich ihr in Japan zurückgelassener Ehemann zu Tode.

K. ist immer wieder Anlaufstelle von Marie. Er erhält sowohl von ihr als auch von ihrem Ehemann Briefe, er besucht sie, sie besucht ihn. Es ist ein loser Kontakt, aber K. ist immer in etwa auf dem Laufenden, wie es Marie geht. Beide sind sehr belesen und philosophieren über die Aussagen von Literaten, insbesondere von Flannery O’Connor. Doch auch darüber hinaus ist „Verwandte des Lebens“ gespickt mit Zitaten von und Diskussionen über die Aussagen von Literaten: Yeats, Fitzgerald, Dante, Balzac – um nur einige zu nennen. Balzacs „Der Landpfarrer“ steht Pate für Maries weitere Entwicklung. Genauso wie Balzacs Protagonistin Véronique wird auch Marie das Büßerhemd anlegen und sich für ihre Mitmenschen aufopfern, um im Tod  die Erlösung zu finden.

Der Lebensweg von Marie ist gepflastert mit philosophischen und metaphysischen Gedankengängen. Insbesondere Maries esoterische Sektenerfahrungen lesen sich enorm zäh. Auch erschließt sich einem nicht, wie Marie aus diesem Glauben tatsächlich Kraft schöpfen kann – dies scheint sie eher zu tun, wenn sie sich hemmungslosem Sex hingeben kann. Interessant für mich war dagegen vor allem die Diskussion über Verstehbarkeit und Spürbarkeit. Denn spürbar ist der Tod ihrer Kinder auf unangenehmste Weise; wohingegen der Tod wohl nie zu verstehen sein wird.

So ganz schlüssig bin ich mir nicht geworden, was ich von „Verwandte des Lebens“ halten soll. Das Geplapper über Literaturaussagen hat mich weniger gestört als beispielsweise in „Therapiestation“, wo diese Diskussionen einfach nicht zu den Protagonisten gepasst haben. Dennoch bleibt einem die Marie Kuraki ein Rätsel, insbesondere was ihre Auffassung vom Glauben als auch ihre Beziehung zu K. betrifft. Ist nicht immer eine latente, manchmal auch offensive Anmache K. gegenüber zu spüren, obwohl sie mit K.s Ehefrau befreundet ist?

Und was ist die Moral der Geschichte? Traurigkeit ist eine „Verwandte des Lebens“? Und Marie bleibt nichts anderes übrig, als sich zeitlebens zu verausgaben, um die Kluft zwischen Spürbarem und Verstehbarem mit dem Büßerhemd der Arbeit zu überdecken, sich einfach nur abzulenken?

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Verwandte des Lebens“, Bebra, Berlin 1994, ISBN 3-86124-184-6

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