„Wiedergeburt am Ganges“ ist Shusaku Endos letzter Roman vor seinem Tod im Jahr 1996. Der Leser begegnet verschiedenen Charakteren, die alle in einer Reisegruppe an den Ganges zusammentreffen: Da ist Isobe, der seine Ehefrau durch Krebs verloren hat. Isobe merkt erst nach dem Tod seiner Frau, wie viel sie ihm doch bedeutet hat, und bereut, dass er so gar nicht zärtlich und liebevoll zu ihr war. Im Delirium bat sie, die an Wiedergeburt glaubte, ihren Ehemann, sie in ihrer Reinkarnation zu suchen.
Mitsuko ist eine harte Frau: Sie glaubt nicht, dass sie zu lieben fähig ist. Für die meisten ihrer Mitmenschen hat sie nur Spott übrig – insbesondere für ihren katholischen Ex-Kommilitonen Otsu, dessen Glauben sie überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Numata fühlt seit seiner Kindheit eine starke Verbundenheit zu Tieren. Als er eine schwere Lungenoperation vor sich hat, ist es ein Beo, der ihm Kraft gibt. Fast scheint es, als hätte der Beo sein Leben für Numatas gegeben.
Der Ex-Soldat Kiguchi will verreisen, um für seine verstorbenen Kameraden in Indien, dem Ursprungsland des Buddhismus, eine Messe lesen zu lassen. Insbesondere für Tsukada, der ihm in Birma das Leben rettete, aber zurück in Japan nicht mit den Erinnerungen an den Krieg leben konnte und sich zu Tode soff.
Der Ganges ist der ideale Ort für Mitsuko, Isobe, Numata und Kiguchi, sich ihren Problemen, Weltsichten und Einstellungen zu stellen. In Indien begegnet Mitsuko aber auch Otsu wieder, der nicht katholischer Priester werden konnte und sich nun sterbender Pilger annimmt. In Dialogen und Briefen zwischen Mitsuko und Otsu äußert sich Shusaku Endos Kritik an der westlichen, insbesondere europäischen Interpretation des Christentums: Gut und Böse werden als zwei absolut getrennte Dinge erachtet. Otsu hingegen sieht sie als zwei Seiten einer Medaille. Im Guten liegt immer ein Keim des Bösen, auch das Böse trägt das Gute in sich. Zudem vertritt Otsu eine pantheistische Einstellung, in der seine europäischen Glaubensbrüder Häresie sehen. Ein katholisches Priesteramt bleibt ihm dadurch verwehrt. Daher findet sich Otsu in Indien wieder und nimmt wie Jesus selbst das Leid der Ärmsten der Armen auf sich.
Doch Shusaku Endo übt auch Kritik an seinem Heimatland: So werden beispielsweise Todkranke noch mit unnützen Therapien behandelt, obwohl diese Leiden und kaum verlängerte Lebenserwartung mit sich bringen. Und die traumatisierten Soldaten des zweiten Weltkriegs werden mit ihren Nöten allein gelassen.
Bei all den ernsten Themen in „Wiedergeburt am Ganges“ ist der Roman jedoch keineswegs deprimierend. Am Ganges finden die Protagonisten jeder auf seine Weise Trost. Obwohl sie nicht hinduistischen Glaubens sind, übt der heilige Fluss auch auf sie eine (quasi-)religiöse Anziehung aus. „Wiedergeburt am Ganges“ ist auch kein Lobgesang auf Religionen: Die Urlauber erleben religiösen Konflikte hautnah, sind sie doch im Land, als Indira Gandhi von Sikhs ermordet wird.
Wer „Der wunderbare Träumer“ von Shusaku Endo gelesen hat, darf sich zudem auf ein kleines Wiedersehen freuen: Gaston, der pferdegesichtige, französische Grobmotoriker, spielt erneut einen rettenden Engel.
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