„Es war eine Zeit des Mordens. Gleich einem lange andauernden Hochwasser überflutete der Krieg mit seinem kollektiven Wahnsinn die feinsten Verästelungen menschlicher Gefühle, die verstecktesten Winkel ihrer Körper, die Wälder, die Straßen und den Himmel. […]
Es ist der Aufzeichnung wert, dass man in jener Zeit, als wahnsinnige Erwachsene verzweifelt durch die Straßen irrten, mit seltsamer Leidenschaft fortgesetzt Menschen hinter Gitter brachte, die am ganzen Körper eine glatte Haut aufwiesen oder nur einen kastanienbraunen Flaum, Menschen, die sich unerheblicher Vergehen schuldig gemacht hatten, darunter auch welche, denen man lediglich Neigungen zu jugendlicher Kriminalität zuschrieb.“
(S. 14f.)
Mitten in dieser Zeit des Mordens soll ein gutes Dutzend minderjähriger Straftäter aus einer Besserungsanstalt aufs Land evakuiert werden. Doch dem Erzieher fällt es schwer, einen geeigneten Platz für die Kinder und Jugendlichen zu finden – keines der Dörfer, das sie zu Fuß aufsuchen, will sie aufnehmen. Die kleinen Fluchtversuche der Jungs sind für die Katz: Sie werden, verprügelt von Bauern und Polizisten, immer wieder zur Gruppe zurückgebracht. Auch der Ich-Erzähler ist mit seinem jüngeren Bruder auf dem Weg in die Evakuierung. Sein Vater hatte auf die Bitte des Erziehungsheims, man möge die Kinder doch nach Hause nehmen, überraschend reagiert: Statt dem Ich-Erzähler die Entlassung aus der Anstalt zu ermöglichen, hatte er auch noch den jüngeren Bruder dort abgeladen, da er diesen andernfalls nicht hätte selbst evakuieren können.
Schließlich gelingt es dem Erzieher, die Jungs in einem abgeschiedenen Bergdorf unterzubringen. Er selbst verlässt das Dorf im Anschluss, um eine zweite Gruppe jugendlicher Delinquenten dorthin zu begleiten. Die Jungs stoßen währenddessen auf große Ablehnung: Sie werden in ihrer Unterkunft des nächtens eingesperrt und bekommen kein besseres Essen als die Schweine der Bauern. Mit vorgehaltenem Gewehr werden sie zum Arbeiten angehalten: Sie sollen an einer Seuche verstorbene Tiere verscharren. Die Dorfbewohner selbst scheuen die Berührung mit den Kadavern wegen der Ansteckungsgefahr – da kommen die auswärtigen Kleinkriminellen gerade recht, um für sie die Drecksarbeit zu verrichten.
Als auch Menschen an der Seuche sterben, brechen die Dorfbewohner heimlich auf, um in einer anderen Ortschaft Unterschlupf zu finden. Den einzigen Weg aus dem Dorf verrammeln sie, damit die Jungen im Dorf eingesperrt bleiben. Diese sind nun auf sich allein gestellt und müssen ihr Leben selbst organisieren.
In einer Welt, in der die Erwachsenen ohne Mitgefühl agieren, sind es ausgerechnet diese jugendlichen Straftäter, die menschlich bleiben. Sie kümmern sich nicht nur um ein Mädchen, das die Dorfbewohner zurückgelassen haben, sondern scheren sich auch nichts um Vorteile Koreanern gegenüber. Einen gejagten Deserteur nehmen sie ebenfalls in ihren Reihen auf. Wen mal bloß nicht die brutalen Erwachsenen zurückkehren…
Bis auf zwei Personen, nämlich den Kumpan Minami und den Koreaner Li, und einen Hund erhalten die Charaktere in Kenzaburo Oes „Reißt die Knospen ab…“ keine Eigennamen. Da ist die Rede vom Bruder, vom Schmied, vom Dorfschulzen, vom Arzt und vom Deserteur. Damit gelingt es dem Autor, idealtypische Figuren zu schaffen. Insbesondere beim jüngeren Bruder glückt es ihm besonders gut: Wer wie ich selbst einen jüngeren Bruder hat, glaubt in der Figur den eigenen Verwandten wieder zu erkennen und ihn beschützen zu wollen.
„Reißt die Knospen ab…“ ist (bisher) mein Kenzaburo Oe-Lieblingsroman. Der Roman des Literaturnobelpreisträgers ist ein frühes Werk aus dem Jahr 1958. Zwar wird gerne gesagt, dass Oe erst nach der Geburt seines behinderten Sohns Hikari zu vollster literarischer Größe herangereift ist. Doch mir sind die späteren Romane teilweise zu verkopft. „Reißt die Knospen ab…“ lässt den Leser mühelos in eine Welt eintauchen, die ihm eigentlich sowohl zeitlich als auch räumlich fremd anmuten sollte. Zwar zeichnet der Roman ein recht widerwärtiges Bild der Erwachsenen, doch bleibt die Hoffnung, dass die Knospen der Gesellschaft – die Jugend – nicht vollständig gerupft werden und spätestens nach Kriegsende blühen, um anders zu agieren, als die Generation vor ihnen.
Und noch ein kleiner Tipp für die Lektüre: Bitte möglichst das Inhaltsverzeichnis mit den jeweiligen Kapitelüberschriften ignorieren – Spoilergefahr!
Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Reißt die Knospen ab…“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Putz, Otto), Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14419-1
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