„Die isolierten Zellen lebten in der Tat auch einzeln weiter, wenn alle Bedingungen stimmten, weshalb man von unabhängigen Lebewesen sprechen konnte. Doch nach einer gewissen Zeit wurden die Zellwände ungewöhnlich fleischig, das heißt die das Leben schützende Schale wurde zu dick, so dass die Zellen schließlich erstickten, weil sie keine Nährstoffe mehr von draußen aufzunehmen vermochten.“
(S. 118f.)
Der Protagonist in Mizuko Masudas „Der Einzeller“, namentlich Mikio Shiiba und Student der Agrarwissenschaften gleicht einer solchen isolierten Zelle: Mit fünf Jahren wurde er nach dem Tod seiner Mutter Halbwaise. An diese Mutter fehlt Mikio jegliche Erinnerung. Das Zusammenleben mit dem Vater entbehrte jeglicher Wärme und war primär von Zweckmäßigkeit geprägt. Deswegen litt Mikio auch nicht sonderlich, als er mit 16 Jahren auch noch den Vater verlor. Und so schlug sich Mikio fortan einigermaßen alleine durch. Rückhalt gab ihm primär die Schule und im Anschluss die Universität – ein Platz, der berechenbar ist und ihm Sicherheit bietet.
Doch Mikio kommt in eine Krise, als er nicht wie erwartet eine universitäre Karriere nach seinem Studienabschluss einschlagen kann. Zum ersten Mal in seinem Leben verreist er und mietet sich in einem abgelegenen Gasthof ein. Einerseits um seine Gedanken zu ordnen, andererseits um seine Abschlussarbeit zu Papier zu bringen. Das Thema der Arbeit ist das Verhalten von isolierten Zellen: Diese neigen dazu, sich wieder zusammen zu ballen – oder sich eben ein dickes Fell zuzulegen in der Gefahr, alleine zu ersticken.
Mikio, eine verloren wirkende Seele, trifft in dem Gasthof auf Ryoko, die sich genauso alleingelassen fühlt wie Mikio. Kurzerhand zieht sie bei ihm ein – nicht jedoch um sich gegenseitig eine Stütze zu sein, sondern um gemeinsam einsam zu sein.
Ein bisschen mag die Handlung auch an Haruki Murakami erinnern: Ein Loser-Typ in einer Krisensituation trifft auf eine geheimnisvolle Frau; ein Familiengeheimnis gibt es on top. Jedoch fehlen freilich die fantastischen Elemente, die Haruki Murakamis Romane auszeichnen. Auch ist die Darstellung insgesamt realistischer, insbesondere was die Beschreibung des Loser-Typs Mikio betrifft. Er kommt einfach nicht aus seiner Haut.
Mizuko Masuda traf 1986 mit der Veröffentlichung von „Der Einzeller“ den Nerv der Zeit: Single-Gesellschaft, auseinander brechende Familienverhältnisse, Vereinsamung waren Themen, die dem Roman in Japan große Beachtung bescherten. Doch sicherlich ist „Der Einzeller“ noch immer aktuell – Mikio gehört bereits in den 80ern dem Prekariat an.
Bibliographische Angaben:
Masuda, Mizuko: „Der Einzeller“, Abera Verlag, Hamburg 2013, ISBN 978-3-939876-00-7
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