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Sonntag, 28. Oktober 2012

„Die drei Metamorphosen der Tsuruko“ herausgegeben von Stephan Köhn

„Die drei Metamorphosen der Tsuruko“ enthält 15 Erzählungen unterschiedlichster Autoren, deren Werke bisher (fast) nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Das Spektrum reicht von Science-Fiction über Kriminalgeschichten, Familienporträts bis hin zu einfach schrägen Erzählungen. Letzteres gilt für mein persönliches Highlight dieses Bandes: „Kullerauges Rachefeldzug – gnadenlos und unerbittlich“ von Kenji Otsuki ist die herrlich komisch erzählte Geschichte um ein gehänseltes Mädchen namens Michiko aka Kullerauge. Ihre Mutter hat Selbstmord begangen, ihr Vater ist über das Drama ausgetickt und glaubt an eine Weltverschwörung von bizarrem Ausmaß:

„Das waren die Regierung und das konspirative Pack, das hinter deren Rücken ihr Unwesen treibt! Juden, Freemason, der CIA, der Rockefeller-Konzern, dazu noch die Klingonen und zu guter Letzt… Michael Jackson.“ (S. 177)

Dummerweise wird der Vater, als er im Wahn mit einer Lanze herumfuchtelt, von der Polizei erschossen. Michiko wird zum Opfer der übelsten Hänseleien – doch sie schwört Rache in einer besonders heimtückischen Form…

Auch in Yoko Yamaguchis „Kirschblüten-Tintenfisch“ geht es etwas abstrus zu. Da kommt der Ehemann ins Zimmer der Ehefrau und findet einen Studenten in deren Bett – offensichtlich der Liebhaber seiner Frau. Der Student zeigt ihm ganz neue Charakterzüge der Ehefrau auf.

„Die Wachsleiche“ von Masaki Yamada reiht sich direkt ins Abstrusitäten-Kabinett ein: Step-by-step verschwinden alle Verwandten aus dem Leben des Ich-Erzählers. Sie verpuffen regelrecht. Als er in die Wohnung, in der er aufgewachsen ist, zurückkehrt, findet er ein Heimatgefühl an einem recht absonderlichen Ort – und in absonderlicher Begleitung.

Die Protagonistin in Shungiku Uchidas „Schritte in der Nacht“ wird von seltsamen Träumen gequält: Einmal verspürt sie unglaubliche Lust, ihren eigenen Fuß abzutrennen und zu verspeisen. Ein anderes Mal wird ihr zum Snack das Bein eines Fremden gereicht, das ihr besser als Hühnchen schmeckt. Ob dies mit Veränderungen ihres eigenen Körpers zu tun hat?

Gespenstisch geht es in Senji Kurois „Eine Tür im Haus“ zu. In einem Haus, das nur mit Schiebetüren versehen ist, erklingt öfters das Geräusch eines europäischen Türscharniers. Wird mit der Tür etwas ein- oder ausgesperrt?

Einen Blick hinter eine familiäre Tragödie gewährt Ryuichiro Utsumis „Rückkehr in die Heimat“. Jahrzehntelang ist der Familienvater nicht an seinen Geburtsort zurückgekehrt. Weder seine Ehefrau noch seine Söhne haben die dort lebende Großmutter oder den Onkel je kennen gelernt. Als nun doch der Heimatbesuch ansteht, werden die Gründe für das Fortbleiben offenbar.

Eine weitere Katastrophe geschieht in „Die Mondsichel“ von Seiko Tanabe: Ein Erdbeben. Glücklicherweise übersteht ein Ehepaar in den 60ern das Beben körperlich unversehrt. Doch die Ehefrau kann es ihrem Ehemann nicht verzeihen, sich allein in Sicherheit gebracht zu haben, ohne sich um sie gekümmert zu haben.

Auch in „Das Liebesnest“ von Takashi Atoda wird das Eheleben eines Paares skizziert. Kurz nach der Heirat verbringt das paar glückliche Jahre in der Provinz. Zurück in Tokio beginnt die Ehefrau erneut zu arbeiten, etabliert ihre Unabhängigkeit und distanziert sich damit vom Ehemann.

Auch die Ehe von Tsuruko in Tsumao Awasakas Erzählung steht leider unter keinem günstigen Stern. Der Ehemann stirbt bei einem Tauchunfall. „Die drei Metamorphosen der Tsuruko“ verwundern ihre Bekannten: Tsuruko wird immer schöner, je öfter ein Schicksalsschlag eintritt.

Um einen Film und einen gealterten Zeichner homoerotischer Illustrationen geht es in „Der Fluss“ in Hiroko Minakawas Erzählung, die genauso konstant fließt wie ein Fluss. Hier mag weniger die Handlung, aber mehr die Erzählstruktur bezaubern.

Amüsant wird es in Misa Yamamuras „Angestellte im Greisenalter“ – eine Autorin beschäftigt eine alte Dame, die immer verwirrter wird und im Haushalt einigen Unfug anstellt.

Umso tragischer ist das Schicksal eines Angestellten in „Die Eidechse auf der Palme“ von Kaoru Takamura. Im Ausland wird er Opfer eines Rebellenangriffs.

Shinichi Hoshis Protagonist wird von seinem Chef gequält – und „Der Quälgeist“ von Chef will dazu auch einfach nicht sterben.

Eine Kostprobe japanischer Science Fiction-Literatur gibt Hiroyuki Moriokas „Ein richtiges Kind“: Dieses Kind ist die Attraktion einer Schule – ist es doch das einzig richtige Kind, das dort unterrichtet wird. Die anderen Schüler sind Erwachsene, die in die Körper von Kindern schlüpfen, um als Entertainment erneut die Schulbank zu drücken.

„Von Herrchen und Tierchen“ handelt die Science Fiction-Erzählung von Yusaku Kitano: Dem Erzähler läuft ein putziges Haustierchen zu, dem er fortan sein Leben verschreibt.

„Die drei Metamorphosen der Tsuruko“ bietet damit ein vielfältiges Panoptikum japanischer Unterhaltungsliteratur, das einerseits Spaß macht, andererseits aber auch zum Nachdenken anregt. Stephan Köhn präsentiert eine tolle Auswahl an in Deutschland eher unbekannten Autoren, von denen hoffentlich noch das eine oder andere Werk übersetzt wird.

Bibliographische Angaben:
Köhn, Stephan (Hrsg.): „Die drei Metamorphosen der Tsuruko“, Iudicium, München 2002, ISBN 3-89129-085-3

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