Der Februar 2012 ist ein fantastischer Monat für die ins Deutsche übersetzte japanische Literatur. Denn neben einer Neuerscheinung von Banana Yoshimoto dürfen wir uns über die Veröffentlichung von Yoko Ogawas „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ freuen. Yoko Ogawa, die vor allem bekannt ist für leicht schaudrig-eklige Charaktere und Situationen, weicht mit ihrem neuen Roman etwas von diesem Konzept ab, bleibt aber skurril:
Eine namenlose, allein stehende Haushälterin wird durch ihre Agentur einem neuen Auftraggeber zugeteilt. Die patente Frau, die schon so einige Marotten vorheriger Dienstherren erlebt hat, muss sich nun einer besonders kuriosen Herausforderung stellen. Der Mathematik-Professor, für den sie künftig tätig sein soll, kann sich zwar an die Zeit vor seinem schweren Autounfall vor Jahren erinnern. Doch sein Gedächtnis reicht in der Jetzt-Zeit gerade mal 80 Minuten zurück. Somit hat die Haushälterin sich jeden Morgen erneut vorzustellen und dieselben Fragen des Professors zu beantworten. Der Mathematiker befragt sie jedoch nie nach Persönlichem, sondern nach Dingen, die sie nur mit Zahlen beantworten kann: Was ist ihre Schuhgröße? Wie viel hat sie bei der Geburt gewogen? Wann ist ihr Geburtstag? Die Antwort nimmt der Professor zum Anlass, um über sein Lieblingsthema, die Mathematik und die Welt der Zahlen, zu sprechen. Denn die Mathematik erachtet er als die ästhetisch-geordnete Wahrheit, die im Hintergrund der Alltäglichkeit existiert. Der Leser erhält so einen anschaulichen Einblick in die Schönheit der Primzahlen; in Teiler, die Zahlen in Freundschaft verbinden und in die klare Stringenz mathematischer Beweise.
Doch der Professor hat auch ein weiteres Faible: Er liebt Kinder und drängt seine Haushälterin dazu, ihren Sohn nach der Schule mit in seinen Haushalt zu bringen, obwohl dies gegen die Bedingungen der Agentur verstößt. Der Professor schließt den Sohn, den er aufgrund eines besonders flachen Schädels „Root“ nach dem Wurzelzeichen benennt, jeden Tag aufs Neue ins Herz. Der zusammen gewürfelte drei-Generationen-Haushalt verlebt trotz des täglichen Resets immer wieder schöne Tage. Doch als die Haushälterin einmal mehr die Agenturregeln bricht, scheint die seltsame Idylle ein Ende zu haben.
In Zeiten einer alternden Gesellschaft ist Yoko Ogawas „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ im Hinblick auf Demenz-Krankheiten ein Buch, das Mut macht: Trotz des völlig gestörten Kurzzeitgedächtnisses des Professors finden die Protagonisten Mittel und Wege, ein gemeinsames, harmonisches Miteinander möglich zu machen. Die gegenseitige Sympathie wohnt den Menschen inne und wird nicht an gemeinsame Erinnerungen geknüpft. Zwar zieht sich der Professor auch gerne in die Mathematik zurück, lässt die Haushälterin und ihren Sohn aber an dieser anderen Welt teilhaben und weckt gar noch die Begeisterung für die verborgene Magie der Zahlen.
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