Ryunosuke Akutagawas „Der Faden der Spinne“ macht den Anfang in „Japan erzählt“. Der Autor stellt ein Bindeglied zu vielen anderen in dem Band vertreten Schriftstellern her, haben diese doch schließlich den Akutagawa-Literaturpreis erhalten oder wurden dafür nominiert. Ryunosuke Akutagawas Erzählung entführt in die buddhistische Hölle. Hier quält sich der Räuber Kandata im Blutteich. Buddha im Paradies erinnert sich an eine gute Tat des Räubers und schickt ihm den sprichwörtlichen seidenen Faden. Ist dies die Rettung Kandatas oder wird der Räuber die gebotene Chance nicht nutzen?
Junichiro Tanizaki ist mit seiner ersten Erzählung „Tätowierung“ vertreten, die dem Autor zu großer Bekanntheit verholfen hatte und die schließlich auch verfilmt wurde. Sadomasochismus und eine Femme fatale sind die Themen des Debütwerks: Der Tätowiermeister Seikichi pflegt seine Kundschaft mit seiner Nadel besonders gern zu quälen und ergötzt sich an dem Leid der Gepeinigten. Sein großer Wunsch ist es, die perfekte Frau mit einer Tätowierung zu schmücken. Durch Zufall soll diese in seine Wohnung gelangen. Es zeigt sich, dass die jugendliche Maid selbst für sadistische Anwandlungen zu haben ist. Seikichis Tätowierung lässt ihr ihre wahre Bestimmung bewusst werden.
Naoya Shiga stellt in „Die Verbrechen des Han“ die Frage nach Schuld und Unschuld: Der Zirkusartist Han hat vor versammeltem Publikum seine Ehefrau und Show-Partnerin beim Messerwerfen getötet. War es ein tragischer Unfall oder hat Han absichtlich auf den Körper seiner Frau gezielt? Schließlich lagen Han und seine Gemahlin schon lange im Streit. Doch selbst Han ist sich über seine bewussten und unbewussten Handlungen nicht im Klaren.
Yasushi Inoues „Ein Brief aus der Wüste“ ist an einen längst verstorbenen Freund des Ich-Erzählers gerichtet. Der Ich-Erzähler befindet sich fernab der Zivilisation in der Wüste Takla Makan. Als ihm ein Soldat anbietet, die Post nach Japan mitzunehmen, damit sie schneller ihr Ziel erreicht, kommt er ins Grübeln: Wem soll er denn bitte bloß einen Brief schreiben? Da kommt ihm sein verstorbener Jugendfreund ins Gedächtnis, der in ihm einst mit dem Gedicht
„Hart
klirren die Kieselsteine.
Es ist Herbst.“ (S. 38)
das Interesse an der Literatur geweckt hatte.
Mit „Der Bergasket“ nimmt Kenji Nakagami den Leser mit auf eine surrealistische Pilgerreise. Der Protagonist erlegt sich die Bergwanderung als Buße auf – hat er doch oftmals seine Frau geprügelt, die sich am liebsten von ihm trennen würde. Wie in einem Fieberwahn wird er Zeuge von metaphysischen Erfahrungen, die ihm hoffentlich zur Besserung verhelfen.
Tagelang fällt schon „Regen“ in Shotaro Yasuokas Erzählung. Der Ich-Erzähler hat das Wetter, das ihm in Mark und Bein kriecht, langsam satt. Das Geld ist fast zu Ende und so kauft er sich ein Hackebeil, um einen Einbruch zu begehen. Doch was er auch anstellt, um ein Verbrechen zu begehen – so richtig mag es nicht gelingen.
Yukio Mishima erzählt in „Rosinenbrot“ von dem Nihilisten Jack, der sich auf eine Party von Gleichgesinnten begibt, die sich an einem abgeschiedenen Strand tummeln. Es geht gar ekstatisch zu: Kongas werden geschlagen, archaische Tänze werden vollführt und ein lebendes Huhn wird der Tollheit geopfert. Zwar sind sich die versammelten Herrschaften einig, dass „die Welt ohne Sinn und alle Menschen minderwertig seien“ (S. 76), dennoch wird Jack als ein „durchsichtiger Kristall“ (S. 70) beschrieben und sieht die „Heiligung im Schmerz“ (S. 79). Soviel zu Minderwertigkeit und genereller Sinnlosigkeit – und Kohärenz in der Erzählung. Der zweite Teil der Erzählung findet in Jacks Wohnung statt: Jack liest Lautréamonts „Die Gesänge des Maldoror“, macht sich dann aber auf die ganz profane Suche nach Essbaren in seinem leeren Kühlschrank. Es findet sich ein Stück von Ameisen befallenem Rosinenbrot, das er noch kaut, als sein Kumpel Gogi in Jacks Bude aufkreuzt, um sich mit seiner neuen Freundin ein Stelldichein zu geben.
Die „Erdbeeren“, die der Mann der Autovertreterin Mieko Mizawa als Snack reichen mag, führen zu einer ungewöhnlichen und intimen Unterhaltung: Mieko muss die Erdbeeren ablehnen, denn die kleinen Kernchen würden unangenehm unter ihr Gebiss rutschen. Sie kommt in Erklärungsnot, als der Mann nachfragt, warum eine so junge Frau bereits keine Zähne mehr im Unterkiefer hat. Da erzählt sie von ihrem Ehemann und einer Freundin, beides Gebissträger, und dem Wunsch, den beiden nachzueifern. Junnosuke Yoshiyukis Erzählung ist geprägt von einer subtilen Erotik von Geheimnissen, Erdbeeren und roten Lippen.
Fumiko Enchi beschreibt in „Ahorn im Winter“ eine Frau im Herbst ihrer Jahre. Yoko ist ihr Name und als TV-Schauspielerin probt sie gerade ihre Rolle als alternde Frau, deren Tochter mit einem älteren Mann liiert ist. Das Bild eines Liebespaares mit großem Altersunterschied zieht sich als großes Thema durch die Erzählung. Während die Konstellation älterer Mann und jüngere Frau gesellschaftsfähig ist, ist die umgekehrte Variante verpönt bis unmöglich. Fumiko Enchi lässt dieses Beziehungsparadox unkommentiert stehen, weswegen die Erzählung erst im Nachklang zu sacken beginnt.
Die Autorin Ineko Sata, die der proletarischen Literaturbewegung angehörte, thematisiert in „Ihr eigenes Herz“ das Phänomen des O-miais: Fumiko soll verheiratet werden, hat aber wenig Lust auf eine arrangierte Hochzeit. Sie ist zwar eine gehorsame Tochter und geht auch brav auf die Treffen mit den Ehekandidaten, ihr ist jedoch das Gefühl zuwider, wie eine Ware taxiert zu werden. Ihre jüngere Schwester hat dagegen eine Liebesheirat durchgesetzt und damit gegen die Konventionen vor der älteren Schwester geheiratet. Auch ist ihr Umgang mit dem Ehemann weit weniger als üblich von patriarchalischen Werten gekennzeichnet.
Sawako Ariyoshi entführt den Leser in die kleine Bar „Laternchen“, die sich in einer Seitenstraße der Ginza befindet. Hier geht es relativ gemütlich zu: Die Räumlichkeiten sind so klein, dass die Bar mit nur wenigen Besuchern voll wirkt und die Mama gibt den Männern gleich das Gefühl, Stammgäste zu sein. Das Erfolgsrezept des „Laternchen“ lautet:
„In einer Bar, wo die Besitzerin kein guter Mensch ist, finden sich auch keine Gäste ein, denn Trinker sind unbestechlich.“ (S. 143)
Zwei Mädchen unterstützen die Mama, doch aus tragischen Gründen ist eine der Barmädchenstellen gerade vakant. Aus Gutmütigkeit nimmt die Mama die hypersensible Shizu bei sich auf. Ob ihr der Job im Laternchen gut tut?
Minako Oba lässt ihre Ich-Erzählerin in „Blauer Fuchs“ recht unkonventionell aus dem klassischen Rollenmuster fallen: Die konfuzianische Pietät gegenüber ihrem Vater ist ihr recht schnurz. Sie lebt mit ihrem Partner zusammen, den sie Grille nennt, geht aber mit dem blauen Fuchs eine Affäre ein, der ihr vor Jahren einen Heiratsantrag gemacht hat.
Mieko Kanais Erzählung „Platonische Liebe“, die dem gleichnamigen Erzählband entnommen ist, der 1979 mit dem Izumi-Kyoka-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, greift ein typisches Thema der Schriftstellerin auf: Das Selbstverständnis der Ich-Erzählerin, die Autorin ist, wird durch eine unbekannte Frau bedroht, die sich brieflich nach jeder Veröffentlichung der Protagonistin meldet und behauptet, die eigentliche Verfasserin der schriftstellerischen Werke zu sein. Die Ich-Erzählerin beginnt bald selbst an sich zu zweifeln. Ist sie wirklich eine Autorin oder nur eine Plagiatorin?
Auch das Sujet von Yuko Tsushimas „Heimlicher Handel“ ist ein recht typisches: Eine alleinerziehende Mutter sinniert über die Funktion von Tieren für Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Sind sie vielleicht sogar ein Vaterersatz?
Taeko Konos „Der Eisenfisch“ erzählt die traurige Geschichte einer Kriegswitwe. Kaum verheiratet wurde ihr Ehemann eingezogen – er sollte als maritimer Kamikaze in einem bemannten Torpedo sterben. Erst Jahrzehnte später stellt sich die Witwe der Vergangenheit, als sie zum Yasukuni-Schrein aufbricht, in dem ihr Mann angeblich als Gott verehrt wird. Es werden alte Wunden aufbrechen, als sie einen der tödlichen „Eisenfische“ in Realität sehen wird.
In Masuji Ibuses „Das Soldatenlied ‚Alte Kameraden’“ reflektiert Okuyama seine Erinnerungen an den Pazifik-Krieg. In seiner Funktion in einer Transporteinheit traf er auf Oberst Nishi, der kurze Zeit später sterben sollte. Über das Lied „Alte Kameraden“ hat Okuyama damals in bitterer Notlage gesprochen – in der Jetzt-Zeit wird dieses Lied für unlautere Zwecke missbraucht.
Kenzaburo Oe zeichnet mit „Stolz der Toten“ ein Stimmungsbild der Studenten der ausgehenden 50er Jahre: Es ist ein Leben der Hoffnungslosigkeit; die Studenten funktionieren einfach. Ein erneuter Krieg wird vielleicht alles endgültig in den Abgrund reißen. Als Metapher für die Sinnlosigkeit lässt Kenzaburo Oe seinen studentischen Protagonisten eine recht grauslige Aushilfstätigkeit verrichten: Er soll helfen, konservierte Leichen von einem Aufbewahrungsbecken in ein anderes umzulagern. Doch wie es sich zeigen soll, wird diese Mühe völlig umsonst sein.
„Japan erzählt“ aus den 90ern enthält drei für diesen Band neu übersetzte Erzählungen; vier wurden aus dem gleichnamigen Buch aus den 60ern entnommen. Die restlichen zehn Erzählungen stammen aus anderen Anthologien. Daher trifft man in „Japan erzählt“ auf viele bereits bekannte Werke, wenn man sich schon etwas mit japanischer Literatur auseinandergesetzt hat. Dennoch ist die Mischung sehr gelungen, auch wenn man die eine oder andere Erzählung in diversen anderen Anthologien ebenfalls findet und gegebenenfalls schon dort gelesen hat.
Bibliographische Angaben:
Donath, Margarete (Hrsg.): „Japan erzählt“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Benl, Oscar/Berndt, Jürgen/Brasch, Heinz/Donath, Diana/Donath, Margarete/Gössmann, Hilaria/Hijiya-Kirschnereit, Irmela/Gelbrich, Ekkehard/Gelbrich, Itsuko/Schaarschmidt, Siegfried & Yoshida-Krafft, Barbara), Fischer, Frankfurt/Main 1991, ISBN 3-596-10162-X
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