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Freitag, 12. September 2014

„Stille Tage“ von Kenzaburo Oe

„Stille Tage“, ein zurückgezogenes Leben zusammen mit einem potenziellen Ehemann und ihrem behinderten Bruder I-Ah möchte Kenzaburo Oes Protagonistin Ma-chan am liebsten leben. Doch ihr Vater K. befindet sich gerade in einer Lebenskrise und braucht Luftveränderung. Daher bricht er zusammen mit seiner Frau in die USA auf. I-Ah bleibt in der Obhut der Studentin Ma-chan. Der jüngste Sohn O-chan lernt währenddessen fleißig für Aufnahmeprüfung an der Universität und überlässt die Hausarbeit als auch die Betreuung von I-Ah Ma-chan.

Hinter K. steckt freilich der Autor Kenzaburo Oe selbst. I-Ah ist nur ein Spitzname, Hikari heißt der Charakter offiziell und daher genauso wie Kenzaburo Oes behinderter Sohn. Aus der Ich-Perspektive lässt Kenzaburo Oe seine Tochter über die Zeit berichten, die seine Kinder allein in Japan verbringen. So begleitet Ma-chan I-Ah zur Behindertenwerkstatt, zu seinem Klavierlehrer und zum Schwimmunterricht. Gemeinsam fahren die beiden Geschwister aufs Land, um ihren Vater bei der Beerdigung seines älteren Bruders zu vertreten.

Hinzu kommen Themen, die man neben dem biographischen Schwerpunkt des behinderten Sohnes ebenfalls aus anderen Kenzaburo Oe-Romanen kennt: Auch in „Stille Tage“ wird gern über Literatur (wieder mal am Start ist der unvermeidliche Yates, aber auch Blake, Celine und Ende) philosophiert. Der Deutung des Films „Stalker“ von Tarkowski wird fast ein ganzes Kapitel gewidmet, in dem Ma-chan unter anderem Parallelen zwischen einer Filmfigur und ihrem Bruder I-Ah thematisiert. Dann ist da freilich die Krise des K., ein zurückliegender Skandal und eine daraus entstandene Feindschaft, wegen der der Roman gegen Ende hin noch etwas Fahrt aufnimmt.

Etwas nervig wirkt in „Stille Tage“ das reichlich überstrapazierte Stilmittel, Worte kursiv zu setzen. Wird über K.s Krise gesprochen, wird der Begriff kursiv gesetzt. Wird über O-chan gesprochen, wird dessen Lieblingswendung „für alle Fälle“ an jeder noch halbwegs passenden Stelle kursiv eingeschoben. Das mag vielleicht noch ein netter Einfall sein, denn K. kennzeichnet gerade die Krise, der patente O-chan ist für alle Fälle gewappnet. Aber auch bei trivialen Aussagen wird die Kursivsetzung immer wieder angewendet, wie z.B. hier:

„Dieser Badeanzug hätte – zu[.] einer Zeit, in der so etwas modern war, und am rechten Ort getragen – bestimmt hervorragend ausgesehen.“ (S. 191)

Insgesamt wirkt die Tonalität des Romans etwas unpassend für eine junge Studentin. Sie ist von einer intellektuellen Schwere, die eher zu dem krisengebeutelten K. passen würde. Dadurch kann man sich mit der Ich-Erzählerin nicht sonderlich anfreunden. I-Ah dagegen erscheint einem umso sympathischer:

„‚[…] aber Ma-chan ist doch eine beachtliche Persönlichkeit, nicht wahr, I-Ah?’
‚Ist das etwas Gutes?’ vergewisserte sich mein Bruder vorsichtig.
‚Das Beste’, antwortete Frau Shigeto, und Herr Shigeto setzte wieder seine ernsthafte Miene auf.
‚Ich finde auch, dass Ma-chan eine beachtliche Persönlichkeit ist.’, sagte I-Ah.“ (S. 94)

Aufschlussreich an „Stille Tage“ ist sicherlich, dass der Autor dem Leser offenbart, dass er dazu neigt, bei Krisen ins Ausland Reißaus zu nehmen und sich dort die Krise von der Seele zu schreiben. Auch seine Einstellung zu Religion wird beleuchtet. Insgesamt quält man sich aber etwas durch „Stille Tage“, wenn man sich nicht ausgerechnet für Kenzaburo Oes Deutung des Films „Stalker“ interessiert...

Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Stille Tage“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schlecht, Wolfgang E. & Gräfe, Ursula), Insel, Frankfurt/Main 1994, ISBN 3-458-16686-6

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