„Größerwerden ist eine Tragödie.“ (S. 250) – zu dieser Einsicht ist der Junge gekommen, der sich Kleiner Aljechin nennt und daraufhin beschließt, nicht mehr zu wachsen. Denn konnte nicht das Elefantenbaby, das seinerzeit auf einem Kaufhausdach aufgewachsen ist und schließlich zu groß für den Fahrstuhl geworden war, nicht mehr ins Erdgeschoss zurückkehren und musste sein Leben auf der Terrasse verbringen? Oder war sein Schachlehrer nicht schon fast zu dick geworden, um den Bus, in dem er wohnte, zu verlassen? Und was ist mit Miira, die als Kind in einen Spalt zwischen zwei Wohnhäuser gefallen war und nun dazu verdammt war, in der Enge weiterzuleben? Aber eigentlich mag der Junge es ja ganz gern beengt. Gut, dass sein Großvater so verständig ist und ihm einen abgeschlossenen Alkoven für sein Bett errichtet hat – denn hier fühlt sich der Kleine Aljechin besonders wohl.
Abgesehen von seinen imaginierten Freunden Miira und dem Elefanten Indira hat der Junge keinen Anschluss. Doch eines Tages lernt er seinen Meister kennen – der Hausmeister mit einem ungezügelten Appetit auf Süßigkeiten lehrt dem Jungen das Schachspielen und begeistert ihn für die Faszination des Schachs. Hier entfaltet der Junge, der ein Poet auf dem Schachbrett wie der legendäre Spieler Aljechin ist, ein großes Talent und wagt sich das erste Mal hinaus auf einen Ozean der unbeschränkten (Zug-)Möglichkeiten. Doch auch beim Spielen zeigt sich, dass der Kleine Aljechin den Rückzug als Sicherheit benötigt: Statt vor dem Schachbrett zu sitzen, liegt er lieber darunter. Was auch seinen Eintritt in einen renommierten Schachclub behindern soll.
Gut, dass es selbst für den Kleinen Aljechin einen passenden Job gibt. Da er so kleinwüchsig ist, passt er perfekt in einen Schachautomaten, der den Spielern vorgaukeln soll, sie würden gegen eine Maschine spielen. Hier assistiert dem Jungen ein Mädchen, das seiner imaginierten Freundin Miira aufs Haar gleicht – endlich findet der kleine Aljechin wieder eine Freundin aus Fleisch und Blut. Doch bald wird der Junge empfindlich aus seinem Alltag gerissen.
Yoko Ogawa ist mit „Schwimmen mit Elefanten“ ein wehmütiges Märchen gelungen. Wer kann es dem Kleinen Aljechin verübeln, wenn er für sich die Zeit anhalten mag, in einer geschützten Atmosphäre agieren will. Erst im Schachspiel wird er wagemutig und stellt sich multioptionalen Möglichkeiten. So findet der Junge seine Berufung.
Und sicherlich lebt der Roman nicht nur von der Darstellung des Protagonisten. Wieder einmal zeichnet Yoko Ogawa verschrobene Charaktere, die in „Schwimmen mit Elefanten“ besonders liebenswert sind: Die Großmutter, die seit dem Tod der eigenen Tochter permanent ein bestimmtes, zwischenzeitlich völlig derangiertes Geschirrtuch als Talisman mit sich herumträgt. Der dicke Schachlehrer, der die besten Süßspeisen zubereiten kann. Miira, die immer eine Taube auf der Schulter sitzen hat… So ist nicht nur das Schachspiel des Kleinen Aljechins von Poesie geprägt – sie findet sich überall in dem zauberhaften Roman von Yoko Ogawa wieder.
Bibliographische Angaben:
Ogawa, Yoko: „Schwimmen mit Elefanten“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Mangold, Sabine), Liebeskind, München 2013, ISBN 978-3-95438-013-8
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