Im Zentrum der Geschehnisse steht der Teenager Kafka Tamura, der von Zuhause ausreißt. Zuhause ist in Tokio bei seinem alleinerziehenden Vater, einem berühmten Bildhauer. Dieser hat Kafka eine düstere Prophezeiung gemacht – Kafka nimmt lieber Reißaus, bevor ihn sein Vater zu etwas machen kann, das er nicht sein möchte. Ohne im Vorfeld zu wissen, wohin er gehen soll, landet Kafka an einem Ort, den er zwar nicht aktiv gesucht hat, der ihm aber das Gefühl gibt, hier richtig zu sein. Es ist eine privat betriebene Bibliothek, in der Oshima und Saeki arbeiten. Oshima ist weder Mann noch Frau, Saeki lebt in ihren Erinnerungen und ist nur körperlich anwesend; gedanklich ist sie in der Vergangenheit bei ihrem verstorbenen Liebsten. Mit Saeki glaubt Kafka seine verschwundene Mutter getroffen zu haben.
In einer zweiten Erzählebene begegnet man dem 60-jährigen Nakata, der als Junge sein Gedächtnis verloren hat – ebenso wie die Dichte seines Schattens. Zwar ist Nakata nicht mehr fähig, zu lesen und sich außerhalb seines Viertels zu Recht zu finden, dafür kann er aber mit Katzen sprechen. Seine Sozialhilfe bessert er damit auf, verschwundene Katzen aufzuspüren. Doch eines Tages kreuzt ein Katzenmörder namens Johnny Walker seinen Weg – und drängt Nakata zu Dingen, die er unter normalen Umständen nie tun würde. Als Folge muss Nakata aus Tokio verschwinden, lässt Sardinen, Makrelen und Blutegel regnen und findet unversehens einen getreuen Helfer in dem Fernfahrer Hoshino. Als Ziel kristallisiert sich die Bibliothek heraus, in der sich Kafka gerade aufhält. Ein Kreis scheint sich zu schließen – denn auch Saeki hat nur einen halb so dichten Schatten wie andere Menschen.
Typisch Haruki Murakami werden auch philosophisch angehauchte Gespräche geführt; primär zwischen Oshima, der guten Seele der Bibliothek, und Kafka, wie z.B.
„Je dringender man etwas sucht, desto weniger findet man es. Aber wenn man einer Sache entkommen will, stößt man wie von selbst auf sie.“ (S. 215)
So wird Oshima zum Berater von Kafka, der sich in einer multiplen Krise befindet: Er verliebt sich zum ersten Mal unglücklich, wird eines Mordes verdächtigt, hat einen Gedächtnisaussetzer und weiß bald nicht mehr, wohin mit sich selbst. Die Dialoge zwischen Oshima und Kafka tragen die Handlung zwar nur bedingt weiter, sind aber dennoch unverzichtbar für den Charme, der „Kafka am Strand“ ausmacht. Ein bisschen verdutzt war ich trotzdem auf Seite 391, als ich auf das Tschechow Zitat „Wenn man im 1. Akt eine Pistole auf die Bühne bringt, muss sie im letzten Akt abgefeuert werden“ gestoßen bin. Dies hat der Autor auch in dem letzten Roman „1Q84“ als Aufhänger für eine Diskussion unter den Charakteren genutzt. Ging dem großen Haruki Murakami denn in „1Q84“ der Stoff für tiefschürfende Dialoge aus?
„Kafka am Strand“ kann gut und gerne als Märchen für Erwachsene durchgehen. Und die Moral von der Geschicht? Vielleicht diese hier:
„Es klingt platt, aber was geschehen wird, weiß man erst, wenn es wirklich geschehen ist. Mitunter sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen.“ (S. 475)
Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Kafka am Strand“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Gräfe, Ursula), btb, München 2006, ISBN 978-3-442-73323-1
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