Elf Erzählungen von neun Autoren sind in „Japanische Meister der Erzählung“ versammelt. Mein unangefochtenes, persönliches Highlight des Bandes ist die Übersetzung von Ryunosuke Akutagawas „Kappa“. In der Erzählung wird die Geschichte des Kranken Nr. 23 aufgezeichnet, der steif und fest behauptet, im Land der Kappas, der Wasserkobolde gewesen zu sein. Inspiriert von „Gullivers Reisen“ spinnt Ryunosuke Akutagawa eine satirische Story, die die japanische Gesellschaft karikiert und die Akutagawa politisches Engagement attestiert. In „Kappa“ gelangt ein Wanderer und Ich-Erzähler unversehens ins Land der Kappas. Der Mensch wird freundlich aufgenommen und erlernt die quakende Sprache der Kobolde. Im Alltag im Kappaland fallen dem beobachtenden Erzähler allerhand Ungereimtheiten auf, auf die die Kappas allerdings meist ein äquivalentes Problem in Japan zur Hand haben. So zum Beispiel wird im Kappaland um „Vererbungswillige“ gebuhlt: Kappas, heiratet Proletarier, um ein bestmögliche Vermischung der Gene zu erzielen! In Japan wiederum wird der Genpool durch die Liebesaffären zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Milieus durchmixt. Im Kappaland werden primär Konzerte von der Polizei gestürmt und verboten – denn wer kein Ohr für Musik hat, kann leicht Unsittlichkeit in sie hineininterpretieren. In Japan ist in den 20ern ebenfalls die Zensur ein beliebtes Mittel, Künstler zum Schweigen zu bringen. Werden Arbeiter im Kappaland aus Rationalisierungsprozessen ausgesperrt, greift das Gesetz der Arbeiterschlachtung. Giftgas erspart ihnen das Schicksal, zu verhungern oder sich aus der Not selbst zu töten. In Japan dagegen werden junge Mädchen wie Sklavinnen in die Prostitution verkauft, wenn es die materiellen Umstände der Familie erfordern. Wie in Japan, so herrscht auch in Kappaland das Kapital: Die Großindustriellen steuern sowohl die Politik als auch die Medien. Oh, pardon… korrekterweise sind es im Kappaland die Frauen der Großindustriellen und Mächtigen, die das Land kontrollieren. Eine hervorragende Analyse von „Kappa“ findet sich auch auf dem Blog „Behold My Swarthy Face“, der insbesondere auch auf Ryunosuke Akutagawas Verhältnis zur proletarischen Literaturbewegung eingeht.
Vom selben Autor stammen die Werke „Raschomon“ und „Zauberkünste“, die ebenfalls in „Japanische Meister der Erzählung“ enthalten sind: Ein entlassener Knecht steht unschlüssig am Kiotoer Tor Raschomon und weiß sich nicht zu helfen. Über Kioto ist in den letzten Jahren eine Katastrophe nach der nächsten hereingebrochen; die Stadt gleicht einer Wildnis. Was bleibt dem mittel- und arbeitslosen Knecht hier anderes übrig, als nun kriminell zu werden? Im Torhaus von Raschomon werden namenlose Leichen aufgebahrt – und der Knecht benötigt eine Unterkunft für die Nacht. Doch nicht nur er kommt auf die Idee, sich nachts im Leichenhaus herum zu treiben.
Ein bisschen okkult geht es dagegen in „Zauberkünste“ zu. Der Ich-Erzähler lässt sich von einem indischen Magier einige Zaubertricks vorführen. Völlig gebannt von der Kunst des Inders äußert der Protagonist den Wunsch, diese Magie zu erlernen. Doch er wird gewarnt – nur ein Mann, der frei ist von Habgier, kann die Zauberei erlernen. Ob der Ich-Erzähler diesem Anspruch gewachsen ist?
„Japanische Meister der Erzählung“ enthält zudem ein Werk von Kan Kikuchi, der seinerzeit den Akutagawa-Literaturpreis ins Leben gerufen hat. In „Jenseits von Liebe und Hass“ wird nüchtern die Geschichte von Ichikuro erzählt: Weil seine Affäre mit der Nebenfrau seines Herrn aufgeflogen ist, wird Ichikuro von dem entehrten Nakagawa angegriffen. Doch Ichikuro wehrt sich erbittert und tötet dabei seinen Herrn Nakagawa. Zusammen mit seiner Geliebten Oyumi flieht er aus Yedo – und wird mehr und mehr zum Verbrecher. Das Pärchen beginnt mit Erpressungen und schließlich drängt die gierige Oyumi den willfährigen Ichikuro zum wiederholten Male zum Raubmord. Doch schließlich zeigt sich Ichikuros Gewissen. Er flieht vor Oyumi, wird Mönch in einem Tempel, um schließlich als Wanderpriester durch Japan zu wandern und Gutes zu tun. Er findet seine Möglichkeit, Sühne zu leisten, indem er an einer gefährlichen Wegstrecke, die schon manchem das Leben kostete, einen Weg durch einen Fels treiben will. Jahrelang hackt Ichikuro auf das Massiv ein und kommt nur minimal mit seiner Arbeit voran. Zwischenzeitlich ist Nakagawas Sohn erwachsen und begibt sich auf die Suche nach Ichikuro, um an ihm Rache zu üben.
Von Masao Kume liegt mit „Der Tod meines Vaters“ eine sehr autobiographische Erzählung vor. Sein Vater, der Schuldirektor war, beging Selbstmord, nachdem die Bilder des Kaisers und der Kaiserin bei einem Schulbrand zerstört wurden. Diese heutzutage unglaubliche Tat zeichnet Masao Kume aus der Sicht des kleinen Sohns auf.
„Das Geleitschiff“ von Ogai Mori handelt von dem verurteilten Verbrecher Kiske, der auf eine Gefängnisinsel transportiert wird. Im Gespräch mit dem Beamten Haneda werden Fragen über die Schuld von Kiske aufgeworfen, der seinen eigenen Bruder ermordet haben soll.
In den Jahren 1925 bis 1926 veröffentlichte Naoya Shiga vier Teile von „Aus dem Leben eines Malers“. In „Die weiße Glyzinie“ wird der Leser mit dem Ischias-kranken Maler Ryudo Yajima bekannt gemacht, der von seiner schwerhörigen Schwester Tane gepflegt wird. Nicht nur seine Schwester quält Yajima mit seinem Gemüt – er hetzt auch seinen Schüler von Glyzinie zu Glyzinie, um deren Wuchs zu untersuchen. Mit „Rot-Obi“ macht Yajima in einem Badeort Bekanntschaft. Das Mädchen mit dem roten Obi bezaubert ihn von Weitem – aus der Nähe betrachtet wirkt sie jedoch eher wie ein Dorftrampel. Zurück zu Hause kommt Yajima der plötzliche Einfall, er wolle ein „Wasserhuhn“ halten. Doch dem angeschafften Hühnchen bekommt der Aufenthalt bei Yajima gar nicht gut. Und gleich mit einem weiteren Federvieh bekommt es Yajima zu tun, als ein „Neuntöter“ mit einer Schlange kämpft.
Eine tragische Liebesgeschichte erzählt Tatsuo Hori mit „Die heilige Familie“: Nach dem Tod von Kuki, hinter dem sich Ryunosuke Akutagawa verbergen soll, lernt die Witwe Saiki den jungen Henri kennen. Henri und Saikis Tochter Kinuko verlieben sich ineinander, können sich diese Liebe aber nicht gestehen. Sind die Saikis zu heilig für Henri oder ist er ohnehin durch seine Bekanntschaft mit Kuki dem Tode bereits nah?
Auch in Fumiko Hayashis Erzählung „Akkordeon und Stadt der Fische“ wird es autobiographisch: Als Mädchen tourte die Autorin mit ihrem Stiefvater, der Hausierer war, durch Japan. So ergeht es auch der Ich-Erzählerin, die mit Vater und Mutter unterwegs ist. In einem Städtchen steigen sie aus dem Zug, da der Vater hier Verdienstmöglichkeiten wittert. Fumiko Hayashi zeichnet das Leben der Hausierertochter auf, die eingeschult wird und sich in den Sohn des Fischhändlers verliebt. Wenn doch nur ihr Vater nicht anfangen wurde, Schmarrn zu verkaufen…
Saisei Murou erzählt von „Gott oder Weib“ – eigentlich jedoch mehr von „Weib“, da sein Protagonist ein ziemlicher Weiberheld ist und sich allerhand Geliebte hält. Da wären Aliko, Shinoe, Kazuko und Harue. Keine der Frauen ist freilich glücklich mit der momentanen Situation.
Und schließlich enthält „Japanische Meister der Erzählung“ auch Junichiro Tanizakis „Tätowierung“ (identisch mit „Das Opfer“ in dem Sammelband „Mond auf dem Wasser“): Seikichi ist ein Tätowiermeister in Yedo, der sadistisch veranlagt ist. Es macht ihm eine diebische Freude, wenn sich die Kunden unter seiner Nadel vor Schmerzen winden. Doch sein Herzenswunsch ist ihm bisher verwehrt geblieben – er möchte die ideale Frau tätowieren. Eines Tages hat Seikichi das ungemeine Glück, dass die perfekte Frau als Botin zu ihm geschickt wird. Der Tätowiermeister zeigt dem jungen Mädchen sadistische Rollbilder und bemerkt, dass sie sich in den Motiven wiederzufinden scheint. Schließlich betäubt er sie und tätowiert ihr eine Spinne auf den Rücken, die ihre Fähigkeit symbolisieren soll, Männer zu ihren Opfern zu machen. Seikichi selbst soll ihr erstes werden.
In Kakuji Watanabes „Japanische Meister der Erzählung“ tummeln sich damit allerhand lesenswerte Erzählungen. Wem der Band aus dem Jahr 1960 in einem Antiquariat in die Hände fällt, der sollte nicht zögern, sondern zuschlagen. Insbesondere Ryunosuke Akutagawas „Kappa“ sollte das Geld wert sein!
Bibliographische Angaben:
Watanabe, Kakuji (Hrsg.): „Japanische Meister der Erzählung“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Watanabe, Kakuji), Walter Dorn Verlag, Bremen 1960
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen