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Sonntag, 16. März 2014

„Etüden im Schnee“ von Yoko Tawada

Mit „Etüden im Schnee“ erzählt Yoko Tawada die sich an Fakten entlang hangelnde und doch stark imaginierte Geschichte des vielleicht berühmtesten Eisbären und dessen Mutter und Großmutter. Knut heißt der zunächst noch so süße, kleine Eisbär, der im Dezember 2006 im Berliner Zoo geboren und von seiner Mutter Tosca nicht angenommen wurde.

Doch der Roman beginnt mit Knuts Großmutter, die im ersten Kapitel wie ein Mensch dargestellt wird. Als Ich-Erzählerin berichtet sie von ihren Bemühungen, ihre Biographie als ehemaliger Zirkusstar nieder zu schreiben – und gerät prompt zwischen die Fronten des kalten Kriegs. Um nicht zum sinnlosen Orangenbaumpflanzen nach Sibirien abgeschoben zu werden, wird sie nach Westdeutschland gelotst. In ihrer neuen Heimat soll sie ihre Biographie weiterschreiben, doch die Sprache steht ihr im Weg. Wegen ihrer Schreibblockade und ihres enormen Lachskonsums wird sie schnell nach Kanada weiter geschickt. Dort beginnt sie, nicht über Vergangenes, sondern über die Zukunft zu schreiben – und gibt so den Lebensweg vor, den ihre noch ungeborene Tochter Tosca und deren Sohn Knut zu gehen haben.

Das zweite Kapitel schildert die Karriere von Toscas Zirkusdompteurin, die in Realität Ursula Böttcher hieß und mit ihren 1,58 Metern als einzige und erste Frau Eisbären dressierte. Als Ich-Erzählerin präsentiert auch sie sich als eine Fremde – denn sie ist kein Zirkuskind, sondern stößt aus Leidenschaft in ihren 20ern zum Zirkus; zunächst noch als Babysitterin und Putzfrau. Schließlich darf sie mit einer Eselshow auftreten. Doch der Auftritt mit Tosca soll in die Geschichte eingehen: „Der Todeskuss“ zeugt von der tiefen Verbindung der beiden weiblichen Wesen – Tosca entnimmt mit ihrer Zunge ein Stück Würfelzucker, das auf der Zunge der Dompteuse ruht. Im Traum nimmt die Dompteuse Kontakt zu ihrer Tosca auf und die beiden Seelen tauschen sich aus. So beginnt die Dompteuse Toscas Biographie zu schreiben, um sie aus der Vorbestimmtheit durch die Mutter zu befreien.

Auch das dritte Kapitel wird aus der Ich-Perspektive geschrieben, auch wenn das zunächst nicht auffällt. Denn der kleine Knut hat noch nicht begriffen, dass er über sich in Ich-Form zu sprechen hat und nicht in der dritten Person. Knut erlebt die Welt zunächst als ein Zimmer, in dem sein Pfleger Matthias und ein Tierarzt ein- und ausgehen. Doch er beginnt zu ahnen, dass außerhalb noch eine weitere Welt, nämlich der Zoo, liegt. Und selbst diese Welt wiederum hat eine Außenwelt unbestimmten Ausmaßes. Obwohl Knut im Gegensatz zu seinen Vorfahrinnen nicht im Zirkus auftreten muss, so legt er doch im Zoo seine Show hin: Er spürt, dass das Publikum eine Vorstellung von ihm erwartet. Je älter er wird, desto mehr nimmt das Publikumsgedränge vor seinem Gehege ab. Nichtsdestotrotz will er die Zuschauer weiter entertainen.

Yoko Tawadas „Etüden im Schnee“ lebt von Grenzgängen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Tier- und Menschenwelt. Mythen aus der Tier- und Ahnenverehrung werden eingeflochten. Stirbt Knuts Pfleger Matthias vielleicht deshalb so früh, weil Bären die Seelen der Menschen rauben?

Das Phänomen der Fremdheit wird auch im neuesten Yoko Tawada-Werk thematisiert: Knuts Großmutter begegnet durch die vielen Umzüge besonders oft den Schwierigkeiten und Absonderlichkeiten in einem anderen Kulturraum, die unter anderem auf ein fehlendes Sprachverständnis zurückzuführen sind. Aber auch die Dompteuse muss sich im Zirkus mit einer anderen Welt auseinandersetzen, obwohl sie ihr Land noch nicht einmal verlässt. Und dann sind da auch noch die Tiere im Zoo, die Berlin geboren und aufgewachsen sind – denen aber eine andere Heimat zugeschrieben wird. Knut stammt in den Köpfen der anderen als Eisbär ganz klar vom Nordpol – auch wenn selbst seine Vorfahrinnen den Nordpol nie zu Gesicht bekommen haben.

Zudem lässt sich die Autorin über den Schreibprozess aus. „Erinnert“ man sich nicht falsch an Vergangenes, selbst wenn man den Fakten treu sein möchte, und haucht so der Vergangenheit eine ganz andere Farbe ein? Und entwickelt sich ein Blick in die Zukunft dagegen nicht vielleicht wie eine selbsterfüllende Prophezeiung?

Überrascht hat mich, dass die Grundzüge der Handlung doch so nah an dem wahren Leben von Knut und seinen Vorfahrinnen angesiedelt ist. Daher bietet „Etüden im Schnee“ eine enorm vielschichtige Bandbreite an Deutungsmöglichkeiten, die jeder Leser für sich aushandeln kann. Yoko Tawadas Roman hält, was er verspricht: Man möchte den „Etüden im Schnee“ immer weiter lauschen und von ihnen bezaubert werden.

Bibliographische Angaben:
Tawada, Yoko: „Etüden im Schnee“, Konkursbuch Verlag, Tübingen 2014, ISBN 978-3-88769-737-2

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