In Haruki Murakamis „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ begegnen wir wieder einmal einem namenlosen Ich-Erzähler. Es ist weniger die Persönlichkeit als vielmehr die Profession, die zunächst in den Mittelpunkt gerückt wird: Er ist ein Kalkulator, der Daten für das „System“ verschlüsselt, um sie vor Datendieben in Form von den Semioten zu schützen. Im Job funktioniert der Kalkulator, sein Privatleben liegt dagegen brach: Die Ehe kaputt, keine Freunde…
Eines Tages bekommt der Ich-Erzähler einen ominösen Auftrag: Ein verquerer Alter ruft ihn zu sich in sein unterirdisches Labor und weist ihn an, Daten mit einer streng geheimen und eigentlich zwischenzeitlich verbotenen Methode zu kodieren. Das Ende der Welt sei von den Fähigkeiten und der Professionalität des Kalkulators abhängig. Neben den Datendieben sollen auch die Schwärzlinge, die im Untergrund leben und Menschen fressen, hinter den verschlüsselten Informationen her sein. Es handle sich dabei um äußerst sensible Forschungsergebnisse: Der Alte mag herausgefunden haben, wie man die Gedanken von Menschen und Tieren aus dem jeweiligen Schädel herauslesen kann. Nicht auszudenken, dass Folter durch Enthauptungen ersetzt werden könnte, um an geheime Informationen zu kommen.
Und tatsächlich statten einige illustre Gestalten dem Kalkulator einen Besuch ab; unter anderem, um einen Schädel, den der Alte dem Kalkulator geschenkt hat und der sich als der eines Einhorns herausstellt, zu stehlen. Doch auch die dicke Enkelin des Alten wird vorstellig: Ihr Großvater scheint in den unterirdischen Katakomben, in denen sich sein Labor befindet, verschwunden zu sein. Ob die Schwärzlinge, die zwischenzeitlich gemeinsame Sache mit den Semioten machen, ihn entführt haben? Der Kalkulator soll dem Mädchen helfen, ihn ausfindig zu machen.
Zu diesem Erzählstrang namens „Hard-boiled Wonderland“, der sich wie ein Science-Fiction liest und in einem lakonisch-sarkastischen Tonfall gehalten ist, gesellt sich ein zweiter, märchenhafter mit „Das Ende der Welt“. Ein wiederum namenloser Ich-Erzähler tritt in eine ihm unbekannte Stadt ein. Doch dafür muss er erst einmal Abschied von seinem Schatten nehmen. Ein Wächter nimmt ihm den Schatten ab und will sich fortan um diesen kümmern. Dem Ich-Erzähler wird die Funktion des Traumlesers zugewiesen. Als solcher soll er künftig in der Bibliothek der Stadt Träume aus Einhornschädeln lesen.
Kaum ein anderer Haruki Murakami-Roman ist so offensichtlich von den Motiven der Grenzgänge und der Parallelität unterschiedlicher Realitätsebenen geprägt wie „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“. Die Spiegelungen von einer Welt in die andere sind leicht zu identifizieren und machen einen Teil des Reizes von „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ aus. Nach „Kafka am Strand“ ist „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ mein zweitliebster Haruki Murakami-Roman. Er sei jedem ans Herz gelegt, der sich auf ein Gedankenexperiment einlassen mag: Schlummert nicht in jedem einzelnen Menschen eine eigene Realität, die nur ihm zugänglich ist? Ist nicht ohnehin unsere Wahrnehmung so partiell, dass wir nur immer Teilbereiche der externen Welt erfassen können? Und wie beeinflussen oder gar bedingen sich das Innen und das Außen?
Bibliographische Angaben:
Murakami, Haruki: „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Ortmanns, Annelie), btb, München 2007, ISBN 978-3-442-73627-0
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen