Doch als Bird den Anruf aus dem Krankenhaus erhält, sein Kind sei geboren, aber alles andere als gesund, scheint sich sowohl die Afrikareise als auch das gutbürgerliche, harmonische Familienleben zu zerschlagen. Sein Sohn ist mit einer Geschwulst am Kopf geboren; die Ärzte geben ihm nur noch wenige Tage zu leben. Birds Frau wird weis gemacht, das Kind werde wegen einer anderen Gesundheitsbeeinträchtigung dringend in eine Spezialklinik verlegt. Sie soll das Baby, das aussieht, als würde ein zweiter Kopf aus dem eigentlichen wachsen, möglichst gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Für Bird ist das Neugeborene ohnehin schon nichts anderes als ein Monster.
Bird lässt seinen Sohn zum Sterben in der Spezialklinik und flüchtet sich zu seiner Freundin Himiko, die er noch aus seinen Studentenzeiten kennt. Himiko lebt seit dem Selbstmord ihres Ehemanns ein unkonventionelles Leben: Unter Tags verlässt sie kaum das Haus, abends braust sie mit ihrem Sportwagen durch die Stadt und lässt sich mit allerlei Männern ein. Bei ihr findet Bird eine Höhle, in der er seine Wunden lecken kann. Hier lässt er sich volllaufen und hat Sex mit Himiko, während er auf den Anruf der Klinik wartet, dass sein Kind endlich stirbt. Doch das Baby denkt gar nicht daran, das Zeitliche zu segnen. Es wird sogar von Tag zu Tag kräftiger. So bittet Bird den behandelnden Arzt bald darauf, die Nahrungszufuhr zu reduzieren und den Sohn verhungern zu lassen. Als ein Spezialist den Kleinen operieren will, nimmt Bird das Baby zu sich, um es von einem zwielichtigen Arzt um die Ecke zu bringen zu lassen.
Doch die Entscheidung nagt an Bird. Soll er sich den Tod des behinderten Kindes zu Schulden kommen lassen, seine Ehefrau dadurch verlieren, aber dadurch frei für eine Afrikareise mit Himiko werden? Bird neigt zum Selbstbetrug, ringt aber mit sich, um den richtigen Weg doch noch zu finden.
Kenzaburo Oe zeichnet mit „Eine persönliche Erfahrung“ ein schwüles, beklemmendes Sommerszenario, das auf eigenen Erlebnissen beruht: Im Jahr 1963 kam Kenzaburo Oes Sohn Hikari mit einer Behinderung zur Welt. Hikari Oes Existenz beeinflusste fortan seinen Vater in seinem literarischen Schaffen.
So ganz anfreunden kann man sich als Leser allerdings nicht mit dem Protagonisten Bird. Er wirkt komplett passiv hinsichtlich seiner persönlichen Angelegenheiten, zeigt dafür aber Engagement, wenn es um die Zukunft irgendeines Bekannten geht. Nervig werden mit der Zeit auch die ständigen Metaphern und Vergleiche, die teilweise extrem abgehoben wirken und dadurch nicht zur Situation passen wollen. So wird der doppelköpfige Sohn mehrfach mit dem unter einer Kopfverletzung leidenden Apollinaire verglichen. Oder die Schwiegermutter wird wie folgt beschrieben:
„Die Schwiegermutter saß unbewegt wie zuvor, als hätte der melancholischste Bauchredner dieses Erdkreises gesprochen.“ (S. 34)
Noch ein bisschen abstruser wird es dann an anderer Stelle: Birds seit der Geburt des Sohnes plötzlich aufsteigende Abneigung gegen Sex mit Frauen wird genauso schnell wieder durch Analsex mit Himiko geheilt. Ohnehin ist die Darstellung von Sexszenen nicht gerade die Stärke von Kenzaburo Oe.
Sicherlich ist die Thematik von „Eine persönliche Erfahrung“ die Lektüre wert – nur mag dem einen die Ausführung durch Kenzaburo Oe mehr liegen als dem anderen…
Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Eine persönliche Erfahrung“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schaarschmidt, Siegfried), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-39249-2
Hallo Charlotte,
AntwortenLöschenich finde das Buch sehr gut. In unserem Blog "Gattungsvorschein" habe ich einen Artikel darüber geschrieben in der Rubrik "Durch die kranke Brille gelesen", also aus einer Perspektive, die von Krankheit ausgeht, die Krankheit als das die Menschen verbindende Moment in den Vordergrund stellt.
Hier ein Auszug: "Wir sehen uns beim Lesen gemeinsam mit Bird einer gesellschaftlich verursachten Situation gegenüber, die auf den Einzelnen abgewälzt wird und die ein Einzelner nicht bewältigen kann. Er ist nun der Mann, dem die Entscheidung obliegt, der Familienvater. Diese gesellschaftliche Rolle bleibt ihm aber äußerlich, ist ihm fremd. Er willigt zwar ein, quält sich damit jedoch schwer, sein Leben eskaliert leise aber heftig immer weiter, bis er es am Ende schafft, zu einer für die Menschheit exemplarischen Erkenntnis zu kommen, die die Selektionswirkung der ärztlichen Diagnose außer Kraft setzt: Er erkennt, dass Jeder auf dieser Welt willkommen zu heißen ist, willkommen, so wie er ist, egal wie krank und unansehnlich. Es kommt einzig darauf an, den Entschluss zu fassen, ihn Willkommen zu heißen. Alles Weitere wird sich finden."
Den ganzen Artikel findest Du hier:
https://gattungsvorschein.wordpress.com/2019/01/28/kenzaburo-oe-eine-persoenliche-erfahrung/
Liebe Grüße