„Es war, als ob er mitten im Kriegsgetümmel zwischen zwei Heeren eingeschlafen wäre und es verpasst hätte, sich dem Sieger anzuschließen.“ (S. 21)
So fühlt sich der Student Sanshiro, der in der Meiji-Zeit vom Land zum Studieren nach Tokio kommt. Alles geht irrsinnig hektisch vor sich, die Menschen hasten, die Straßenbahnen rumpeln und dazwischen steht der 23-jährige Kerl, der sich in der Großstadt wie ein Bauerntrampel vorkommt. Sanshiro erkennt, dass er sich im Spannungsfeld von drei Welten bewegt. Da ist die gemächliche, traditionsorientierte Heimat auf dem Land, dann die moderne, schnelllebige, laute Großstadt und schließlich die Wissenschaftswelt, die ihren eigenen Regeln unterliegt und ein eigenes System bildet (Luhmann lässt grüßen).
Sanshiro tut sich schwer, sich einzuleben und Anschluss zu finden. Durch seinen Studienkumpan Yojiro und einen Vertrauten seiner Familie findet er jedoch langsam Zugang zur Frauenwelt und zu Akademikern. Jedoch lebt er in ständiger Angst, etwas Falsches zu sagen und hält sich in seinen Äußerungen zurück. Denn wie eine zufällige Bekannte als auch seine Mutter erkannt haben: Sanshiro ist tendenziell eher ein Feigling.
Nichtsdestotrotz unternimmt er sachte Annäherungsversuche an Mineko, die eine moderne, junge Frau, wenn nicht gar eine Femme Fatale ist, die sich sehr wohl ihrer Wirkung auf die Männerwelt bewusst ist und diese zu manipulieren weiß. Primär mit dem Oberschullehrer und weisen Ratgeber Professor Hirota nimmt Sanshiro an philosophisch angehauchten Gesprächen teil. Hinter Hirota, der wie Sanshiros Mentor wirkt, vermutet man als Leser den Autor Soseki Natsume selbst.
Soseki Natsume lässt Sanshiro in leichtem und fast schon beiläufigem Ton ein Spannungsfeld zwischen Moderne und Tradition erleben. Geschlechterrollen werden in Frage gestellt und dann doch wieder nicht verworfen. Sanshiro selbst muss den Spagat zwischen dem Leben in der Großstadt und dem Leben in der Heimat schaffen, wenn er in den Ferien zu seiner Mutter zurückkehrt. Währenddessen scheint sich das akademische Leben schon globalisiert zu haben. Einen kleinen Seitenhieb versetzt Soseki Natsume auch dem Wissenschaftsbetrieb, in dem Intrigen gesponnen werden, um Karrieren zu fördern oder zu vernichten. Erst gegen Ende des Romans scheint Sanshiro die gesellschaftliche Situation kritisch zu hinterfragen: Sind die Menschen in der Moderne nicht alle verlorene Schafe? Hier mag man aber auch eine Chance für die weitere Entwicklung des Menschen Sanshiro sehen, der durch diese Erkenntnis an Ernsthaftigkeit gewinnt und sich so hoffentlich künftig in der Wissenschaft und dem Leben in der Großstadt besser behaupten kann.
„Sanshiros Wege“ ist der erste Teil einer Trilogie, dem „Und dann“ (in deutscher Übersetzung erschienen im Galrev, jedoch komplett vergriffen und entsprechend teuer in den Antiquariaten – sollte überhaupt ein Exemplar in den Handel kommen) und „Das Tempeltor“ (nicht in deutscher Übersetzung verfügbar) als Teil zwei und drei folgen und wohl einen weniger optimistischen Ton anschlagen als „Sanshiros Wege“.
Bibliographische Angaben:
Natsume, Soseki: „Sanshiros Wege“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Langemann, Christoph), Bebra, Berlin 2009, ISBN 978-3-86124-908-5
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