Banana Yoshimoto erzählt mit „Der See“ eine bittersüße Liebesgeschichte: Chihiros Mutter ist vor gar nicht allzu langer Zeit einer Krankheit erlegen. Chihiro ist frisch von ihrem Freund, vielmehr ihrer Affäre, getrennt. Doch seit einer Weile gibt es eine andere Konstante in ihrem Leben: Nakajima, der gegenüber wohnt und genau wie Chihiro gerne am Fenster steht und hinaus in die städtische Szenerie blickt. Einem nachbarlichen Gruß von einem Fenster zum anderen folgen erste Gespräche auf der Straße. Nakajima kommt Chihiro in ihrer Wohnung besuchen und schließlich übernachtet er auch bei ihr. Doch den jungen Mann mit dem nur wenig männlichen Auftreten umgibt eine undurchdringliche Aura. Nakajima scheint ein dunkles Geheimnis zu bewahren, das er tief in seinem Inneren verbirgt. Auch wenn Nakajima nur wenig über seine Vergangenheit spricht, so ist den beiden doch gemein, dass sie Halbwaisen sind und der Verlust der Mutter sie jeweils sehr getroffen hat.
Chihiro ist ein künstlerischer Freigeist, der gerne Menschen kennenlernt. Als Tochter einer Barbesitzerin hat sie schon viel gesehen und gehört. So leicht kann sie nichts mehr erschüttern. Nakajima dagegen ist in sich gekehrt und auf wissenschaftlichem Gebiet hochbegabt. Menschenansammlungen meidet er lieber. Daher scheut sich Chihiro vor einer Beziehung mit Nakajima – würde er nicht bald wie ein lästiger Klotz an ihrem Bein hängen? Da Nakajima zu suizidalen Tendenzen neigt, müsste Chihiro mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen, sollte sie ihn enttäuschen.
Eines Tages bittet Nakajima Chihiro um einen Gefallen: Sie soll ihn zu einem Ort begleiten, an dem er früher mit seiner Mutter wohnte. Dort lebt nun ein befreundetes Geschwisterpärchen, das er unbedingt besuchen möchte. Eine metaphysische Erfahrung bereitet den Weg für die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen Chihiro und Nakajima und lässt Chihiro Nakajimas Geheimnis entdecken.
Banana Yoshimotos Erzählstil erscheint in „Der See“ besonders zart. Während in manchen anderen ihrer Werke die Herzen nur so vor Gefühl überschäumen, hält Chihiro ihre Emotionen möglichst unter Kontrolle und wägt ab. Ihr Verhalten soll den verletzlichen Nakajima nur nicht verschrecken. Daher nähert sich das Pärchen nur langsam an, obwohl Chihiro und Nakajima im Herzen schon spüren, dass sie in dem anderen jeweils ein Gegenstück gefunden haben, das sie nicht mehr missen möchten.
Obwohl „Der See“ etwas leisere Töne als andere Banana Yoshimoto-Romane anschlägt, kommen auch in der aktuellen Neuveröffentlichung typische Banana Yoshimoto-Elemente vor: Da wären eine ungewöhnliche Liebesbeziehung; junge Menschen, die ihren Weg finden müssen; atypische Familienkonstellationen; Lebensweisheiten und metaphysische Elemente. Nicht nur Banana Yoshimoto-Fans werden bei dem Roman auf ihre Kosten kommen. Denn obwohl die Autorin einfache Sätze benutzt, entspinnt „Der See“ eine romantisch-tragische Magie, die den Leser einfängt und nicht mehr loslässt.
Bibliographische Angaben:
Yoshimoto, Banana: „Der See“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Eggenberg, Thomas), Diogenes, Zürich 2014, ISBN 978-3-257-06897-9
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