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Montag, 17. Februar 2014

„Ground Zero Nagasaki“ von Yuichi Seirai

Nagasaki steht für den zweiten Atombombenabwurf über Japan, aber auch für eine christliche Hochburg und die Christenverfolgung in Japan. Yuichi Seirai widmet seiner Heimatstadt mit „Ground Zero Nagasaki“ sechs Erzählungen, die fiktive Einzelschicksale in Nagasaki illustrieren.

Da ist ein älteres Ehepaar, das sich gezwungen sieht, seinen angestammten Familienbesitz zu veräußern. Dies ist einerseits besonders bitter, da sich früher im Nebenhaus die Angehörigen zur Ausübung des christlichen Glaubens getroffen hatten. Andererseits weil ihr schizophrener Sohn Schuld auf sich geladen hat, die nicht zu tilgen ist.

Da ist ein psychisch zurückgebliebener Mann in den 40ern, dessen Mutter im Sterben liegt. Er kann zwar schnell Schachteln zusammenfalten und sich schnell verlieben, doch nach dem Tod seiner Mutter wäre er hilflos wie ein Kind. Er versucht, Hilfe bei einem Jugendfreund zu finden, der ihn einst vor Hänseleien wie ein Heiliger beschützt hatte. Doch es ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, den Freund zu behelligen.

Da ist eine alte Frau, die den Atombombenabwurf verletzt überlebt hat, und aufgewühlt durch eine Postkarte ihr Leben als verkrüppelte Hibakusha Revue passieren lässt. Insbesondere die Liebe ihres Lebens war ihr so nicht gegönnt; der Angebetete heiratete schließlich eine gesunde, unbeschwerte junge Frau. Ein wenig Trost findet sie in ihrem katholischen Glauben.

Da ist eine Ehefrau in den 30ern, die auf einem Grundstück lebt, auf dem Angehörige ihres Mannes beim Atombombenabwurf getötet wurden. Die Beziehung des Paares ist eher eine Zweckehe, daher setzt sie sich zum Ziel, einen 18-jährigen Fahrradmechaniker zu verführen. Am Jahrestag des Atombombenabwurfs hat sie schließlich sturmfrei, da sich ihre Schwiegereltern zu den Gedenkfeierlichkeiten begeben.

Da ist ein verlassener Ehemann, der seit dem Tod seiner kleinen Tochter unter extremen Alpträumen leidet. Das Meer scheint nachts bis in seine Wohnung in einem Hochhaus vorzudringen und es wird zu seiner fixen Idee, dass dies kein Traum ist, sondern Realität. Christliche Mythen und die Erfahrungen einer Hibakusha scheinen ihm einen Weg aus seinen Wahnvorstellungen zu deuten.

Und da ist ein älterer Mann, der seine persönlichen Atombombenerfahrungen zu Papier bringt: nämlich dass in seinem Geburtsregister weder eine Mutter noch ein Vater verzeichnet ist. Als Neugeborener wurde er in den Trümmern der Stadt gefunden und von Adoptiveltern aufgezogen. Als nicht-leiblicher Sohn leidet er unter Komplexen, keinen Bezug zu dem Besitz seiner zwischenzeitlich verstorbenen Adoptiveltern zu haben.

Obwohl Yuichi Seirai laut einem Interview auf der Homepage des Hiroshima Media Peace Center der Meinung ist, dass nur die Atombombenerzählungen von Zeitzeugen realistisch sein können, schreibt der Autor mit „Ground Zero Nagasaki“ Geschichten, die unter die Haut gehen und einem auch das eine oder andere Tränchen ins Auge treiben können. Da sind einerseits die individuellen Schicksale, die berühren. Andererseits werden auch die großen Fragen zum Atombombenabwurf gestellt, die für das christliche Nagasaki typisch sein mögen: Wie kann man noch an einen christlichen Gott glauben, der solches Grauen zulässt?

„Ground Zero Nagasaki“ zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Autor Yuichi Seirai die verschiedenartigsten Charaktere hervorragend herausarbeitet. Von der alten Hibakusha über einen liebestollen, aber in seiner Entwicklung zurückgebliebenen Mann in den 40ern bis hin zu einer 30-Jährigen, die sich selbst noch einmal die eigene Attraktivität beweisen möchte, gerinnen alle Figuren zu einer Anschaulichkeit, die man selten in Erzählungen so gelungen findet.

Bibliographische Angaben:
Seirai, Yuichi: „Ground Zero Nagasaki“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), Angkor Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-936018-87-5

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