„Zigaretten, Kaffee und Schokolade sind ihre Energiequellen, die Arbeit ihr Beruhigungsmittel, Papa ihre Stütze und ihr Lebenszweck und ich bin ihre Freude und ihr Juwel.“ (S. 123)
So beschreibt die Mittelschülerin Soko ihre Mutter Yoko. Auf den ersten Blick erscheint dies wie eine normale Darstellung einer gewöhnlichen Mutter durch die Brille der Tochter. Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Soko ihren Vater nie kennengelernt hat und seit Jahren kein Kontakt zwischen Yoko und ihrem ehemaligen Liebhaber besteht.
Yoko hatte ihren um einige Jahre älteren Klavierlehrer geheiratet, in den sie nicht Hals über Kopf verliebt war und mit dem sie auch keinerlei sexuellen Kontakt pflegte. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis scheint auch in der Ehe fortbestanden zu haben, nennt Yoko ihren Ex-Mann schließlich immer noch Momoi-sensei.
Doch eines Tages brach die „knochenschmelzende Liebe“ über Yoko herein, als sie den Inhaber eines Musikinstrumentehandels kennenlernte. Das Glück der beiden währte jedoch nicht sehr lange: Beide mit anderen Partnern verheiratet; er verschuldet. So verließ er Yoko eines Tages mit dem Versprechen, sie wiederzufinden, wo immer sie auch sei.
Als ob Yoko diese Worte auf den Prüfstand stellen wollte, beginnt sie zusammen mit ihrer kleinen Tochter Soko, die der Affäre entsprungen ist, ein Nomadenleben, das sie von einer japanischen Kleinstadt in die nächste ziehen lässt.
Der kleinen Tochter Soko erklärt Yoko die oftmaligen Umzüge damit, dass sie sich auf „Gottes Boot“ befinden; der Vater sie auf jeden Fall aufspüren wird. Noch ist die Tochter ganz fasziniert von der Vorstellung des wunderbaren Vaters, der einst wie ein Messias zurückkehren und alles zum Besten wenden wird. Denn Yokos Heimat – und damit verbunden auch Sokos Geborgenheit – soll nicht an einen Ort gebunden sein, sondern an ihn, den idealisierten Geliebten.
Je älter Soko wird, desto mehr beginnt sie den quasi-religiösen Liebeswahn der Mutter zu durchschauen. Wie die heilige Dreifaltigkeit verehrt Yoko ihre „drei Schätze“, nämlich die Musik, ihren Geliebten und ihre Tochter Soko. Rod Stewart ist ihr Gotteslob; „When I need you, I just colse my eyes and I’m with you“ eine Textzeile ihres persönlichen Vater Unsers.
Kaori Ekunis „Gottes Boot“ zieht seinen Reiz aus der gedoppelten Erzählperspektive von Mutter und Tochter: Alltägliche Situationen werden von beiden Seiten aus der jeweilig subjektiven Sicht erzählt und mit Gedankengängen und Erinnerungen angereichert. So erlebt der Leser nicht nur die Realitätsferne der Mutter und deren permanente Schwärmerei für den abwesenden Geliebten, sondern auch die zunächst noch sehr kindliche Perspektive der Tochter, die das Verhalten der Mutter aber von Jahr zu Jahr zunehmend in Frage stellt.
„Gottes Boot“ ist ein sehr einfühlsamer, aber auch zugleich sehr verstörender Roman. Zwar schöpft Yoko durchaus auch Kraft aus ihrer religionsähnlichen Liebe, zerstört durch die Idealisierung des Geliebten aber auch Familienbande und steht sich selbst und einer Zukunft im Weg. So mag Kaori Ekunis Roman auch als Religionskritik gegenüber fehlgeleitetem, übersteigertem Glauben gelesen werden.
Insbesondere das Ende des Werks, dessen Deutung dem Leser obliegt, trägt dazu bei, dass einen selbst nach Beendigung der Lektüre der Roman nicht mehr los lässt. Happy end oder dead end?
Man kann sich nur wünschen, dass „Gottes Boot“ nicht die letzte deutsche Übersetzung eines Werkes von Kaori Ekuni bleiben wird.
Bibliographische Angaben:
Ekuni, Kaori: „Gottes Boot“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schlecht, Wolfgang), Angkor Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-936018-86-8
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