„Wenn der Essay Erinnerung wachruft – und er tut es häufig – gerinnt die Erinnerung des einen Autors zur Erinnerung aller. Der Essay [ist] also auch das Gedächtnis der Nation.“ (S. 19)
Die Essays erinnern an tagebuchartige Einträge oder beschreiben längst vergangene Situationen. Die Texte wirken wie frei erzählt, sollen sie doch einem echten, spontanen Gefühl entsprechen und nicht streng durchkomponiert erscheinen. So sind die japanischen Essays ein Tor zum Leben der Autoren, da sie sehr viele autobiographische Informationen enthalten.
So erzählt der 94-jährige Maler Seifu Tsuda in der „Plauderei eines Langlebigen“ über seinen Alltag: Wie er frühstückt, wie er die Zeitung, zu allererst die Todesanzeigen, liest und dabei stolz auf sein hohes Alter ist. Dass er Ringkämpfe liebt, komplizierte Bücher dagegen gar nicht. Auch auf das Malen kommt er zu sprechen: Die Natur bildlich abzubilden ist seine Leidenschaft. Der Methusalem beendet seinen Essay mit:
„Im Fallen noch bleibt die weiße Päonie schön.“ (S. 31)
Im hohen Alter von 98 Jahren sollte Seifu Tsuda schließlich selbst sterben.
Ebenfalls auf Blumen bezieht sich der Universitätsprofessor und Essayist Takaki Okubo in „Kosmeen im Parc de Bagatelle“. Mitten in Europa, im Pariser Parc de Bagatelle, findet sich Takaki Okubo ganz überraschend im japanischen Herbst wieder. Nachdem er die verschwenderische Blumenanpflanzung bewundert, steht er plötzlich vor Kosmeen, die für ihn Wehmut und Stille repräsentieren. Von den Blumen kommt der Autor auf das ausgeprägte Jahreszeitverständnis der Japaner zu sprechen.
Der Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata ist mit „Im Schein der Öllampe“ in „Blüten im Wind“ vertreten. Der Essay gewährt einen intimen Einblick in das Familienleben des Autors, als er zusammen mit seinem kranken Großvater lebte; dasselbe Thema, dem sich Yasunari Kawabata auch in der Erzählung „Tagebuch eines Sechzehnjährigen“ gewidmet hat.
Über die „Leiden der Literatur“ schreibt Kazumi Takahashi. Wie der Titel impliziert, ist der Essay von einer sehr negativen Stimmung geprägt. So schreibt der Autor:
„Die Luft der Realität ist zu befleckt, mit allzuviel Lärm erfüllt, mit zu vielen Bedingungen erschwert, als dass auch nur ein schwacher Ausdruck der dunklen Seite des Herzens zustandekommen könnte.“ (S. 48)
Hier bezieht sich Kazumi Takahashi auf die Vorwürfe, die sich Kan Kikuchi nach dem Selbstmord seines Freundes Ryunosuke Akutagawa machte. Doch auch Kazumi Takahashi liebäugelt des nächtens hin und wieder mit dem Gedanken an den Freitod, während er sich tagsüber seinen Studenten als würdevollen Dozenten präsentiert. Kazumi Takahashi offenbart in dem sehr persönlichen Essay seine dunkle Seite und spricht davon, dass er innerlich verdorrt ist und er sein bisheriges Leben so nicht weiterleben kann. Er hadert mit der Anständigkeit und Rechtschaffenheit, die seinen Geist verderben.
In „Mit 18 und mit 34 Jahren – zwei Porträts“ schreibt Yukio Mishima über zwei seiner Lebensphasen. Mit 18 schwebt der Tod wie ein Schreckensgespenst über Yukio Mishima und seinen Mitschülern – der zweite Weltkrieg tobt und die jungen Männer rechnen fest damit, ihr leben lassen zu müssen. So fügt sich Yukio Mishima auch dem Wunsch seines Vaters, Jura zu studieren. Er glaubt ohnehin, dass sein Leben nicht von allzu langer Dauer sein wird. Mit Leib und Seele ist Yukio Mishima bereits Literat: Er gibt zusammen mit anderen eine Literaturzeitschrift heraus, verschlingt Romane anderer Autoren, an denen er vor allem die Metaphern bewundert und liebt es, am Schreibtisch zu sitzen, um zu schreiben. Mit 34 wirkt die Selbstbeschreibung weniger schmeichelhaft, wenn auch selbstironisch: Der Autor ist recht selbstverliebt und hat die intellektuellen Vorlieben gegen Unterhaltungsfilme und Beef Steaks eingetauscht. Auch das Thema des Todes behandelt er in seinem Essay: Bevor ihn eine Krankheit dahinrafft, möchte er lieber von einem Gewehrschuss getötet werden. Bereit ist er nicht für den Tod, er räumt jedoch ein:
„Und doch ist der Todesgedanke die süßeste Mutter meiner Arbeit.“ (S. 58)
Shohei Ooka illustriert in „Erinnerung an Schnee“ nicht irgendwelche Gedanken an die weiße Pracht. Er geht auf seine ganz persönlichen Erinnerungen an den Putschversuch vom 26. Februar 1936 ein, als Teile des Militärs die Macht an sich reißen wollten. Die Ruhe eines Schneetages wirkte an jenem verschneiten Februar doppelt dicht. Straßensperren legten den Verkehr still, die Menschen mussten teilweise ihre Wohnungen räumen. Kurz nach dem Coup d’Etat verließ Shohei Ooka Tokio Richtung Kamakura – die Hauptstadt war ihm verleidet…
Shohei Ooka begegnet dem Leser in Tsuneari Fukudas Essay „Teufel“ gleich nochmals. Dem schlafmittelabhängigen Fukuda entlockte Ooka so manches Geheimnis, nachdem Erster seine Medikamente eingenommen hatte. Ohne sich an die eigenen Enthüllungen erinnern zu können, harrt Fukuda den Veröffentlichungen von Ooka und hofft, nicht darin entblößt zu werden.
Über Musik handeln die Essays „Ein Ton“ von Toru Takemitsu und „Gesang der Rheintöchter – an einem Regentag“ von Hidekazu Yoshida. Der Komponist Toru Takemitsu philosophiert über den Ton und die Pause in der japanischen Musik und ihren Gegensatz zur westlichen. Auch der Musikkritiker Hidekazu Yoshida plaudert amüsant über westliche Musik. Da kommt insbesondere die deutsche Klassik nicht besonders gut weg: So beschwört Hidekazu Yoshida gern das Bild des Nebels in deutschen Wäldern und die Sehnsucht nach der Sonne des Südens, die er aus Brahms und Wagner heraushören will. Von Hidekazu Yoshida ist mit „Nakahara Chuya – ein Dichterporträt“ ein zweiter Essay in „Blüten im Wind“ enthalten. Als Student mietet sich Hidekazu Yoshida bei einem Professor ein, über den er den Dichter Chuya Nakahara kennenlernt. Er zieht zusammen mit dem Lyriker um die Häuser, übernachtet bei ihm und lässt sich von ihm Französisch beibringen. Anhand von eingeflochtenen Gedichten von Chuya Nakahara beschreibt er den Charakter des Dichters und weist insbesondere auch die Tragik um den Tod von Chuya Nakaharas Kind hin, der bereits seinen Schatten auf den baldigen Tod des Dichters selbst warf.
Chiyo Uno gesteht in „Der richtige Moment“, dass ihr im Alter von 40 Jahren die Erkenntnis kam, dass sie kein Talent hatte, bei den Lesern wahres Interesse für die Handlungen ihrer Werke zu wecken. Darüber hinaus gewährt die Autorin dem Leser einen Einblick in ihre ganz persönliche Schreibpraxis.
Minako Oba erzählt von ihren „Erinnerungen an die ‚Geschichte vom Prinzen Genji’“: So war nach dem Ende des zweiten Weltkriegs fast nur klassische Literatur zu bekommen und Minako Oba begann also als Teenager die „Geschichte vom Prinzen Genji“ zu lesen und zu lieben. Obwohl sich die Autorin mehr und mehr der europäischen Literatur zuwandte, blieb der höfische Roman doch stets ein Wegbegleiter, sogar bis in die USA.
Auch Takako Takahashi, die Ehefrau von Kazumi Takahashi, berichtet über den Schreibprozess, in dem sie besonderes Augenmerk auf „Das Haus als Schauplatz der Erzählung“ legt. Bereits in der Entwurfphase stellt sich die Schriftstellerin genau vor, in welchen Räumlichkeiten die Handlung ablaufen wird. Ob dies wohl daran liegt, dass sie selbst in einem großen Haus aufgewachsen ist?
Der Druckgraphiker und Künstler Masuo Ikeda spricht in „Das Morgen gestalten“ von seinen anfänglichen Minderwertigkeitskomplexen, „nur“ ein Druckgraphiker zu sein, und präsentiert sein derzeitiges Selbstverständnis.
Mit Shuichi Katos „William Turner und England“ wird ein kunstgeschichtlicher Essay präsentiert. Der Autor hüpft von Constable zu Shakespeare, um dann bei Monet zu landen und mit Turner zu vergleichen.
Um Kunst und Antiquitäten geht es auch in Hideo Kobayashis „Echtes und Gefälschtes“. Mit amüsiertem und amüsierenden Blick werden die Sammelleidenschaft porträtiert und psychologische Effekte dargestellt, wenn sich eine Antiquität als Fälschung herausstellen sollte.
Ryoichi Ikushima schreibt in „Über No als empirisches Erlebnis“, dass sich für ihn im No der japanische Schönheitssinn am vollkommensten offenbart. Als Metapher für das Raffinement gelten ihm die weißen Tabi der No-Meister. Zudem geht Ryoichi Ikushima auf die Macht ein, die in den No-Masken inne zu wohnen scheint.
Ich gebe zu, dass Essays nicht gerade meine Lieblingslektüre sind. Jedoch gelingt es Barbara Yoshida-Krafft, den Leser für das Genre zu begeistern. Die Auswahl der Essays ist sehr gelungen, das Vorwort aufschlussreich und insbesondere die Anmerkungen zu den Autoren stellen die Werke nochmals in einen Sinnzusammenhang. Auf diesem Wege werden nicht nur einzelne Essays präsentiert, sondern die intimen Werke mit dem Werdegang der Autoren verknüpft. So kann sogar ich mich für Essays begeistern!
Bibliographische Angaben:
Yoshida-Krafft, Barbara (Hrsg.): „Blüten im Wind“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Yoshida-Krafft, Barbara), Edition Erdmann, Tübingen 1981, ISBN 3-88639-506-5
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