Um die „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ von Shichiro Fukazawa hätte ich fast einen weiten Bogen gemacht, weil ich den Titel mit einem Sachbuch verbunden habe. Dank des Nachworts von Bernard Frank weiß ich nun: Dieses Missverständnis ist durchaus vom Autor Shichiro Fukazawa bewusst provoziert worden. Darüber hinaus suggeriert die Einflechtung von Liedtexten (und zum Abschluss sogar der Abdruck der Noten zweier Lieder), dass es sich bei der Handlung um die Wiedergabe historischer Fakten handelt. Doch „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ entstammt stattdessen der Fantasie des Autors, der sein musikalisches Interesse in sein literarisches Werk einfließen hat lassen.
Shichiro Fukazawa, der selbst aus einer ländlichen Gegend stammt, schildert in seiner Erzählung das harte, vormoderne Leben in einem namenlosen Dorf, in dem an die Göttlichkeit des Berges Narayama geglaubt wird. Nur zum Narayama-Fest können es sich die Familien leisten, Reis zu essen. Jeder Esser mehr im Haus bringt die Familien in die Gefahr, den Hungertod zu sterben. Daher wird möglichst spät geheiratet, damit die Nachkommen nicht allzu bald das Licht der Welt erblicken. Wer die Geburt der Großenkel noch erlebt, der gilt als lasterhaft, können er und seine Brut sich offensichtlich nicht im Griff halten. Insbesondere die Alten, die wenig Arbeitsleistung erbringen und mehr und mehr zu nutzlosen Essern werden, brechen freiwillig oder unfreiwillig im Alter von siebzig Jahren zu einer Pilgerreise zum Narayama auf, von der sie nie wieder zurückkehren.
Shichiro Fukazawa schildert in „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ aus der Sicht der alten O Rin und ihrer Familie, wie sich das karge Leben im Dorf gestaltet und wie O Rin schließlich zu Pilgerreise aufbricht. Der Abschied für immer ist vorgezeichnet und trotz des Schmerzes kann keiner die alte O Rin zurückhalten. Denn nur, wenn sich die Familiengröße dezimiert, können die anderen überleben. Aus dem Kontrast von Vernunft, Glaube und Gefühl entsteht eine Mischung, die dem Leser unter die Haut geht. Das Schicksal der O Rin geht bei der Lektüre sehr nahe.
Wer im Überfluss lebt, der kann sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich Hungern sein muss und zu welchen Taten der schiere Überlebenskampf treiben kann. Sicherlich ist „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ Fiktion, aber die Erzählung trifft den Leser an einer ganz empfindlichen Stelle.
Bibliographische Angaben:
Fukazawa, Shichiro: „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ (Übersetzung aus dem Französischen: Rheinhold, Klaudia), Rowohlt, Reinbek 1987, ISBN 3-499-40014-6
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen