Der Band beginnt mit Rintaro Takedas „Geschichte vom Schnee“: Ein namenloser Er hört von einem Arbeitskollegen die Geschichte einer ungewöhnlichen Eheschließung. Ein Brautzug konnte wegen Schneefalls nicht weiter ziehen und musste in einem eingeschneiten Bergdorf verweilen. Aus der Not machten die Verwandten der Braut eine Tugend: Die Braut wurde kurzerhand an den Sohn des Bauern verheiratet, der ihnen Obdach gewährt hatte. Als Er dies seiner Sie erzählt, wirft die Geschichte einen Schatten auf die Ehe.
Kensaku Shimaki schrieb kurz vor seinem Tod die Erzählung „Der schwarze Kater“. In den letzten Kriegsjahren finden noch nicht einmal die Katzen genug zu Essen. Der kranke Ich-Erzähler beobachtet mit Abscheu die hungrigen Streuner, die sich bei den Menschen einschmeicheln möchten. Doch da ist auch dieser schwarze Kater, der besonders stolz wirkt und niemals beim Ich-Erzähler betteln würde. Bald wird die nächtliche Ruhe im Haushalt des Ich-Erzählers gestört: Eine Katze scheint nachts ins Haus einzudringen, um sich über die Lebensmittelvorräte her zu machen. Ob da nicht der schwarze Kater dahinter steckt?
Shichiro Fukazawas „Nanking-Bübchen“ gilt als Vorläufer seiner längeren Erzählung „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“: Erzählt wird von einer archaisch-anmutenden Gesellschaft, in der Kinder in die Lohnsklaverei verkauft werden und kein Platz ist für behinderte und alte Menschen.
In die „Alte Heimat“ treibt es Yasunari Kawabatas Protagonisten. Die Handlung – eher Traum als Realität – schickt ihn in einem Helikopter in sein Heimatdorf. Doch scheint der Ort völlig unbelebt, bis er eine Kindheitsfreundin wieder trifft, die jedoch in der Zwischenzeit überhaupt nicht gealtert ist. Doch existiert auch eine „alte“ Version der Kleinen – da bemerkt der Protagonist, dass auch er sich in eine junge und eine alte Ausgabe gespalten hat.
Noch abgefahrener wird es in Kobo Abes „Der Stock“: Ein Mann verbringt mit seinen Söhnen Zeit auf einer Kaufhausterrasse. Als er von der Terrasse stürzt, findet er sich am Boden als Stock wieder. Zwei Studenten und ein Professor lesen ihn auf – es entspinnt sich eine Diskussion, wie der Stock zu bestrafen sei.
Yumiko Kurahashis „Am Ende des Sommers“ schildert ein tragisches Ansinnen, das an griechische Tragödien erinnert. Zwei Schwestern, die beide mit demselben Studenten verkehren, beschließen eines Sommers am Meer, den jungen Mann um die Ecke zu bringen. Die Entscheidung der beiden steht bereits mit den ersten beiden Sätzen der Erzählung fest:
„Unser Entschluss stand fest. K musste sich in unseren Händen in eine schwere Masse Tod verwandeln.“ (S. 47)
Durch einen drückenden Sommer, der angefüllt ist mit dem Meer, mit Sex und einer Dreier-Liaison, begleitet der Leser die Schwestern, wie sie Ks Leben zu beenden trachten.
Tsutomu Minakami (auch: Tsutomu Mizukami) schreibt mit „Winter-Kaki“ ebenfalls über das Ende eines Lebens – doch weit weniger brutal. Denn der betagte Tischler Juzo verfällt zusehends. Seine einzige Tochter kommt ihn erst besuchen, als er fast schon das Leben ausgehaucht hat.
Akira Abes Ich-Erzähler macht sich in „Pfirsiche“ daran, einem alten Erinnerungssplitter aus der Kindheit auf die Spur zu kommen. Es erweist sich, dass die Erinnerung einige Unplausibilitäten enthält – war am Ende alles ganz anders?
In Mieko Kanais Erzählung „Der Akazienritterorden“ vermischen sich mehrere Handlungs- und Realitätsebenen. Da ist die Ich-Erzählerin, die es liebt, in einer Schreinerei ein und aus zu gehen. Da ist der Schreiner, ehemals ein Schriftsteller, der einen Brief erhält. Da ist der anonyme Briefschreiber, der auf ein Bild verweist, das den Schreiner einstmals zu einer Erzählung über einen ritterlichen Schülerorden inspiriert hatte. Der Brief beschreibt, wie der Anführer des Ordens den Tod finden musste – doch existierten der Orden, der Täter, der Briefschreiber jemals in Realität?
„Starrende Augen“ von Shintaro Ishihara zeigt, wie sehr die Einstellung der Menschen die Wahrnehmung beeinflussen kann. Anhand von Spukgeschichten präsentiert der Autor zwei Deutungsmöglichkeiten für starrende Augen. Für welche wird sich der Protagonist entscheiden?
Tetsuo Miuras „Der Kuss“ beschreibt den Beginn des sexuellen Erwachens eines Mädchens in der Pubertät und dessen Prägung durch das Rollenverständnis als Frau auf. Nach langer Zeit besucht die kleine Kiwa ihren Vater in Tokio, der zwischenzeitlich mit einer anderen Frau als Kiwas Mutter zusammen lebt. Von ihrem Ausflug in die Stadt bringt sie neue Begierden nach Hause.
„Ein Regenbogen in der Hand“ von Wahei Tatematsu erzählt von dem Rumtreiber Yusaku, der am liebsten auf Parkbänken übernachtet und seinen Hunger damit stillt, dass er Gras ist. Eines drückenden Sommertags möchte er mit Freunden ans Meer fahren. Einen passenden Badeplatz auszumachen, erweist sich als schwieriger als gedacht. Doch der Rumtreiber weiß, wie er dennoch zu seiner Erfrischung kommt.
Setsuko Tsumuras Protagonistin Kae macht sich in „Das Haus im Wind“ auf die Suche nach ihrem verschwundenen Ehemann. Nachdem dieser seine Position als Angestellter gekündigt und ein Café aufgemacht hat, kehrt er eines Tages nicht mehr nach Hause zurück. Kae engagiert ein Detektivbüro, um den Aufenthaltsort ihres Mannes ausfindig zu machen. Dort warten gleich mehrere Überraschungen auf Kae.
Soh Aono lässt „Eindringlinge in ein Haus mit Schwalbennest“: Zwei herumtreibende Jugendliche brechen in ein Haus ein, dessen Bewohner gerade verreist ist. Sie nehmen die Behausung für einige Tage in Beschlag, nicht ohne mehr von dem eigentlichen Einwohner zu erfahren. Doch der Aufenthalt kann nicht von Dauer sein.
Als Eiichi eines Abends betrunken nach Hause will, hat er das Pech, in der Bahn einzuschlafen und erst zwei Stationen zu spät auszusteigen. Der letzte Zug in die Gegenrichtung ist bereits abgefahren, ein Taxi ist nicht mehr zu bekommen und daher macht er sich zu Fuß auf den Weg. Als er an einem Schrottplatz vorbei kommt, entdeckt er ein nahezu unbeschadetes, dort abgestelltes Taxi, in dem er sich für kurze Zeit einnistet – bis die Person auftaucht, die selbst Anspruch auf das Gefährt in Jun Kasaharas „Mondscheintropfen“ geltend macht.
Die letzte Geschichte in dem Band ist Haruki Murakamis „Tony Takitani“, der das Schicksal erlebt, schließlich ganz allein im Leben dazustehen: Sein verwitweter Vater, zu dem er kaum eine Beziehung aufgebaut hat, stirbt – ebenso wie Tony Takitanis Ehefrau, die der Kaufsucht von Kleidern erlegen ist. Ob es eine Lösung ist, eine Sekretärin einzustellen, die künftig die Kleider der verstorbenen Ehefrau tragen soll?
„Mondscheintropfen“ bietet einige Highlights für Fans der japanischen Literatur. Da wäre auf jeden Fall Shichiro Fukazawas „Nanking-Bübchen“, das einen Liedtext mit der Handlung verknüpft und einem einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagt. Yumiko Kurahashis „Am Ende des Sommers“ löst eine ganz andere Form der Bedrückung aus, indem in gleißendes Sommersonnenlicht getauchte böse Gedanken formuliert werden. Wahei Tatematsus „Ein Regenbogen in der Hand“ präsentiert dagegen den sorglosen Sommertag eines Rumtreibers, mit dem der eine oder andere zumindest kurz tauschen wollen würde.
Jede Erzählung in „Mondscheintropfen“ drückt für sich eine ganz eigene Stimmung aus – das Spektrum geht von todtraurig bis zu vergnüglich-positiv. Wer sich einen Überblick über die Vielfalt der japanischen Literatur verschaffen möchte, ist mit dem Erzählband sicherlich sehr gut beraten.
Bibliographische Angaben:
Klopfenstein, Eduard (Hrsg.): „Mondscheintropfen“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Ackermann, Peter/Gebhardt, Lisette/Gross, Christine/Hunziker, Christine/Klopfenstein, Eduard/Langemann, Christoph/Loosli, Urs/Reinfried, Heinrich/Rhyner, Bruno/Sato-Diesner, Sigmara/Weissert, Michael/Werner, Verena/Yamaka-Hiller, Barbara/Zimmermann, Corinne), Theseus Verlag, Zürich/München 1993, ISBN 3-85936-061-2
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