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Sonntag, 14. Februar 2016

„Die vertauschten Geschwister – Ein höfischer Roman aus dem 12. Jahrhundert“

Was für ein Verwirrspiel: Dem Taisho werden im Kioto des 12. Jahrhunderts von seinen beiden Gemahlinnen fast gleichzeitig zwei Kinder geboren, die sich optisch sehr ähneln. In ihrem Wesen dagegen könnten die beiden nicht gegensätzlicher sein. Das Mädchen namens Surigoromo benimmt sich wenig mädchenhaft: Es hat Unsinn im Kopf, spielt mit den Jungen und hat keine Scheu vor anderen. Der Junge Susukinoho dagegen ist eher verschämt und zieht sich gerne zurück. Für Dinge, die für Jungen typisch sind, interessiert er sich gar nicht. Lieber malt er Bilder und spielt mit Puppen.

Dem Taisho ist dies zwar nicht recht, doch er sieht ein, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als die beiden die Geschlechterrollen tauschen zu lassen. So wird das Mädchen Surigoromo eine männliche Karriere bei Hofe einschlagen; der Junge Susukinoho wird als Kammerjungfer bei der Kronprinzessin eingesetzt. Doch spätestens als Surigoromo mit einer Frau verheiratet wird, nimmt das Unheil seinen Lauf. Denn da die Ehefrau schwanger wird, muss ein anderer Mann die Frau verführt haben.

Und auch der Mann Susukinoho ist in seiner Rolle als Frau nicht allzu brav. Komischerweise wird die Kronprinzessin schwanger – obwohl doch immer eine „Frau“ als Bewacherin anwesend war. Als Surigoromo auch noch schwanger wird, ist das Chaos perfekt.

Im Vorwort erläutert Michael Stein die Entstehung des Werks, dessen Verfasserin heute namentlich leider nicht mehr bekannt ist. Es steht zu vermuten, dass eine Hofdame ein bereits vorher veröffentlichtes Werk mit „Die vertauschten Geschwister – Ein höfischer Roman aus dem 12. Jahrhundert“ überarbeitete und literarisch verbesserte. Nach dem Ende der Heian-Zeit galt der Roman als subversiv, da er mit den Samurai-Werten nicht vereinbar war. Wie könnte denn auch eine schwache Frau in einer Männerdomäne Karriere machen…?

Einerseits liest sich „Die vertauschten Geschwister – Ein höfischer Roman aus dem 12. Jahrhundert“ recht amüsant und spannend. Andererseits ist es aber auch erschreckend, dass in der „kultivierten“ Hofgemeinschaft adelige Männer in die abgeschotteten Gemächer der Frauen eindrangen, um sie vergewaltigten.

Es lässt sich nicht so wirklich herauslesen, ob die Verfasserin den Geschlechterwechsel gut heißt: Da wird zwar darauf hingewiesen, dass die vertauschten Rollen unnatürlich sind und Normalisierung das Ziel sein sollte. Dennoch kann sich die Frau Surigoromo so überhaupt nicht mit der Vorstellung anfreunden, sich künftig hinter Vorhängen verstecken zu müssen und in Gemächer eingesperrt zu sein. Zu gut hat ihr das freie Leben als Mann gefallen.

Obwohl das Werk ja aus dem 12. Jahrhundert stammt, liest es sich in deutscher Übersetzung überhaupt nicht sperrig. Zudem erhält der Leser interessante Einblicke in die Gepflogenheiten am Hof von Kioto – sowohl aus weiblicher, als auch aus männlicher Perspektive.

Bibliographische Angaben:
Verfasserin unbekannt: „Die vertauschten Geschwister – Ein höfischer Roman aus dem 12. Jahrhundert“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Stein, Michael), Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, ISBN 3-458-16605-X

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