Doch Kenzaburo Oe bekennt sich auch zu seinen Schwächen. So gesteht er beispielsweise, dass er den störrischen Hikari einmal in einem Kaufhaus allein ließ und dafür mit einer schweißgebadeten, hektischen Suche nach dem Jungen büßen musste. Oder dass er es verpasst hat, rechtzeitig wichtige Medikamente für seinen Sohn zu besorgen und voller Panik in der Notaufnahme vorstellig wurde. Er beschönigt das Leben mit Hikari auch nicht, wenn er zum Beispiel darüber berichtet, dass Hikari auf dem Weg zur Behindertenwerkstatt einen epileptischen Anfall bekommen und kurz danach in die Hose gemacht hat. Erst in der Behindertenwerkstatt konnte der Autor dem Sohn die Wäsche wechseln.
Hikari, der sich zunächst für Vogelstimmen und dann für klassische Musik interessierte, hat für Kenzaburo Oe im Komponieren eine Ausdrucksform für seine Gefühle gefunden, die ihm auf verbale Weise aufgrund seiner Behinderung verschlossen blieb. Kenzaburo Oe erzählt in „Licht scheint auf mein Dach“ über die Aufnahmen zu den ersten beiden CDs von Hikaris Stücken und wie der junge Mann vor Aufregung einen Anfall bekam. Auch dass ungute Menschen ihm nach den Aufnahmen zynische Postkarten schrieben, Hikaris Musik würde niemals aufgenommen werden, wenn dieser nicht Sohn des großen Schriftstellers Kenzaburo Oe sei, bleibt nicht unerwähnt. Doch für den Autor hat Hikaris Musik eine viel wichtigere Funktion als mit CDs Geld verdienen zu wollen:
„Wenn ich Hikaris Musik höre, spüre ich jedoch, dass im Akt des Ausdrucks selbst die Kraft für seine Genesung liegt. Diese Kraft kuriert sein Herz. Sie heilt nicht nur ihn, sondern auch jene, die empfänglich sind für das, was er sagen will. Darin liegt das Mysterium der Kunst.“ (S. 152)
Während Kenzaburo Oes zweiter Sohn kaum in den Essays auftaucht, so wird doch immerhin der Tochter etwas Platz eingeräumt. Der Leser erfährt, dass die Ma-chan aus „Stille Tage“ nur wenig mit Kenzaburo Oes Tochter gemeinsam hat – wenn auch der fiktive Charakter genauso wie die Tochter über einen besonders runden Schädel verfügen. Ohnehin war die Tochter nie darüber begeistert, ihrem Vater Stoff für seine Werke zu liefern und dass dieser ihre Privatsphäre partiell öffentlich machte.
Der Leser erfährt in „Licht scheint auf mein Dach“ auch mehr über das Wesen und die Motivationen von Kenzaburo Oe:
„Schreibe ich nicht deswegen Bücher, um meinem grundlegenden Gefühl Ausdruck zu verleihen, dass ich mich in dieser Welt zu Hause fühle? Mein Traum ist es jedoch, darin auch den Weg zu dem ausdrücken zu können, was unsere Welt übersteigt.“ (S. 123)
„Licht scheint auf mein Dach“ ist sicherlich nicht das Werk, das man als erstes Kenzaburo Oe-Buch lesen sollte. Wer jedoch schon einige der Romane, in denen der Schwerpunkt auf Hikari alias I-Ah liegt, gelesen hat, der empfindet die Essays vielleicht als großes, umfassendes Nachwort zu den belletristischen Werken und erhält Hintergrundinformationen aus erster Hand, wie der Autor Kenzaburo Oe denn so tickt.
Bibliographische Angaben:
Oe, Kenzaburo: „Licht scheint auf mein Dach“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bierich, Nora), S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-055217-4
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